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akonos Herbstvorschau 2023

akonos Herbstprogramm 2023

We proudly present unsere Herbstvorschau 2023 mit sechs vielseitigen Titeln! Yewande Omotoso erzählt in Mojisola weint nicht eine tiefgründige und mitreißende Familiengeschichte, Tierno Monénembo kehrt in seinem mit dem Renaudot-Preis ausgezeichneten Werk Der König von Kahel den Blick der kolonialen Reiseliteratur um, Kopano Maroga dichtet zärtlich-subversiv in Die Jesusthese über religiöse Mythen und Anselme Nindorera berichtet erfindungsreich in Was war da in Burundi los? vom letzten Herrscher des Königreiches Burundi.
Auch ein empowernder Titel des Kreativkollektivs Look at Us hat sein Zuhause bei akono gefunden, sowie ein berührender Briefwechsel zwischen der eritreischen Schriftstellerin Yirgalem Fisseha Mebrahtu und der deutschen Schriftstellerin Tanja Kinkel: Freiheit in Briefen.

Wir danken allen Autor:innen, Übersetzer:innen, Gestalter:innen und Unterstützer:innen und freuen uns auf das dritte Verlagsjahr!

 

Laden Sie hier das Programm herunter ⇲ oder klicken Sie auf eine:n Autor:in

akono ist ein Indieverlag aus Leipzig, der afrikanische Literaturen auf deutsch veröffentlicht. Lyrik, Romane, Kurzgeschichten, aber auch Sachbücher von afrikanischen Autor:innen oder deutsch-afrikanische Kollaborationen werden seit 2021 bei akono verlegt.
Wir sind der Meinung, dass Dekolonisierung uns alle betrifft, und dass Literatur dafür eine Vielfalt von Realitäten vermitteln und Verständnis erzeugen kann.
Da afrikanische Geschichte und Kulturen von Europa lange Zeit fremdbestimmt und fehlinterpretiert wurden, verlegen wir gerne historische Fiktion und halten mit großartigen Texten unterschiedlicher Genres aus einigen der 54 Staaten dagegen. In unserem Onlinemagazin berichten wir über die Arbeit von afrikanischen Kreativen in den Bereichen Literatur, Fotografie, Film, Musik, bildender Kunst und Mode. akono versteht sich als Gastgeber für afrikanische Kreative in Deutschland, als Netzwerk und Anlaufstelle.

Für unsere Arbeit wurden wir 2022 mit dem Sächsischen Verlagspreis ausgezeichnet.

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Literatur

Die Verdammten dieser Erde

Die Verdammten dieser Erde
von Thomas Hummitzsch

Die in Kamerun geborene und in den USA lebende Schriftstellerin Imbolo Mbue lässt in ihrem zweiten Roman ein Dorf in Kamerun von seinem Kampf gegen Ausbeutung und Verrat berichten. »Wie schön wir waren« erzählt von den täglichen Verbrechen, die Konzerne in den Entwicklungsländern im Namen des Kapitalismus begehen.

»Wir hätten wissen müssen, dass das Ende nahte«, räumen die Stimmen von Kosawa gleich zu Beginn ein. Waren sie zu naiv, dass sie das Unvermeidliche nicht haben kommen sehen? Oder zu gutgläubig jenen gegenüber, die behaupteten, dass sich die Geschichte noch auf ihre Seite schlagen würde? Es sind diese Fragen, die in den Vordergrund dieser sich über Jahrzehnte erstreckenden Geschichte drängen.

»Wie schön wir waren« handelt von den verschiedenen Phasen des Widerstands der wortwörtlich aussterbenden Gemeinschaft von Kosawa, deren Lebensgrundlagen von dem amerikanischen Ölkonzern Pexton zerstört werden. Entweichendes Öl zerstört das Ackerland, die Chemikalien der Förderung vergiften das Trinkwasser und der große Fluss fließt unter einer dicken grünen Schicht gefährlichen Mülls dahin.

 

intellectures

Dieser Artikel erschien im Original bei intellectures.

Ausgerechnet der als Dorftrottel verschrieene Konga ist es, der zu Beginn des Romans die Ausweglosigkeit der Situation und die Ausbeutung seiner Gemeinschaft erkennt. Bei einer Versammlung, bei der Pexton-Vertreter den Dorfbewohnern erklären wollen, warum das skrupellose Agieren des Konzerns ein Segen sei, erhebt er seine Stimme. Seine Rebellion steht am Beginn des Aufstands.

Ein Aufstand, der von jenem kollektiven Wir getragen wird, das gleich zu Beginn einräumt, sich getäuscht zu haben. Es sind die Kinder und Kindeskinder dieser Gemeinschaft, die im Kampf gegen Zerstörung und Korruption offenbar ebenso gescheitert sind wie ihre Vorfahren. Die gesellschaftspolitischen Umstände und die Verhältnisse des Raubtierkapitalismus haben ihren Kampf aussichtslos gemacht.

Imbolo Mbue: Das geträumte Land. Aus dem Englischen von Maria Hummitzsch. Verlag Kiepenheuer & Witsch 2018. 432 Seiten. 22,- Euro.

»Wir hassten es, wie sie jedes Mal, wenn das Öl aus einer der Pipelines auf unseren Acker lief, Tage für die Reparatur brauchten und unsern Eltern anschließend erzählten, sie müssten nur die oberste Erdschicht abtragen und wegwerfen, um ihr Ackerland zurückzugewinnen. Wenn unsere Eltern zu erklären versuchten, dass das nicht funktioniere, das Gift tief eindringe, das Öl sich über große Flächen ausbreite und es wahrscheinlich am besten sei, wenn Pexton sich bessere Pipelines zulege, kicherten sie und fragten, ob wir etwa glaubten, Pexton werde zusammenpacken und gehen, nur weil wir ein Problem mit ihnen hätten.«

Imbolo Mbue gehört zu jenen Autoren, die die britisch-nigerianische Autorin Taiye Selasi als »Afropolitan« beschreibt. Gemeint ist eine neue Generation von Weltbürger:innen mit afrikanischen Wurzeln wie Chimamanda Ngozi Adichie, Nana Oforiatta Ayim, Teju Cole, Yaa Gyasi, Maaza Mengiste oder Chigozi Obioma. Ihre gesellschaftspolitischen Romane reflektieren dezidiert afrikanische Themen. Mbue kombiniert diese mit Fragen der Globalisierung. In ihrem sprachlich und erzählerisch glänzenden Debüt »Das geträumte Land« geht es um eine Familie aus Kamerun, die unter die Räder der Lehman-Pleite gerät.

Der neue Roman der 1982 in Limbe geborenen und in New York lebenden Autorin behandelt Fragen von Umweltzerstörung, Ausbeutung, Korruption und Trauma. Weil Mbue weiß, dass kollektive Klagen über politische Skandale in Entwicklungsländern schnell verhallen, hat sie 15 Jahre daran gefeilt, um von den tragischen Einzelschicksalen und dem kollektivem Trauma einer solchen Erfahrung Zeugnis abzulegen.

Aus der Gemeinschaft greift sie eine Handvoll Figuren heraus, über deren persönliche Perspektiven und Schicksale sie die Erfahrung der skrupellosen Ausbeutung, falschen Versprechungen und vergeblichen Hoffnungen nachhaltig erfahrbar macht. Daneben stellt sie jenen Chor der Generationen, der kollektiv die Folgen der Ausbeutung durch den Ölkonzern bezeugt.

Imbolo Mbue | © Kiriko Sano

Der fossile amerikanische Konzern hat aber auch seine Unterstützer:innen, auf die er sich verlassen kann. Etwa den Dorfältesten Woja Beki, der den Pexton-Vertreter:innen regelmäßig das Podium bei den Dorfversammlungen überlässt. Zugleich schickt er zu diesen Versammlungen auch immer nur irgendwelche Repräsentant:innen, die nichts zu sagen oder zu entscheiden haben. Eine amerikanische Umweltorganisation taucht auf, die erklärt, sich für die Interessen des Dorfes einsetzen zu wollen. Doch auch die gerät schnell in den Verdacht, nur ein Instrument der perfiden kolonialen Ausbeutungspolitik des Konzern zu sein. Die Verhandlungsversuche der Dorfgemeinschaft versickern wie das aus den Pipelines entweichende Öl im Sand und vergiften die Atmosphäre weiter.

Nach einer dieser Versammlungen eskaliert die Situation und die Dorfgemeinschaft nimmt die Konzernvertreter in Geiselhaft, um mit der Führung in den USA zu sprechen. »Zum Wohl unserer Kinder und Kindeskinder werden wir all das tun und noch mehr«, sagt der junge Bongo, der zu den Entführern gehört. Und auch wenn der Kampf ein langer und möglicherweise nicht von Erfolg gekrönt sein wird, lohnt er sich doch, um dem Schweigen ein Ende zu machen. »Wir werden keine Unbekannten mehr sein. Wir werden Namen haben. Kosawa wird zu erkennen sein.«

Zu eskalierenden Strategien angesichts der Tatenlosigkeit jener, auf deren Tun man angewiesen ist, greifen auch die »Children of Kali« in Kim Stanley Robinsons Klimawandel-Roman »Das Ministerium für die Zukunft«. Während Robinson allerdings ein Best-Case-Szenario der vor uns liegenden Ära zeichnen will, blickt Mbue in ihrem hervorragenden Umweltroman erschüttert auf das, was die Gegenwart uns jetzt schon zeigt: die Arroganz der global agierenden Konzerne, die sich an ihrem Hauptsitz physisch und juristisch verschanzen, während sie fremde Länder ausbeuten und denen, die schon am Boden liegen, die Lebensgrundlagen entziehen.

In den Mittelpunkt der Handlung rückt Thula, ein junges Mädchen, die früh ihren Vater verliert. »Ein Papa, der abends mit seiner Tochter zusammensaß und die Sterne zählte, der mit ihr darüber nachdachte, ob Grashalme in der Angst leben, eines Tages niedergetrampelt zu werden, der ihr einschärfte später nie zu vergessen, wie es sich angefühlt habe, ein Kind zu sein, nie zu vergessen, wie es sich angefühlt habe, klein zu sein und schutzbedürftig.«

Imbolo Mbue: Wie schön wir waren. Aus dem Englischen von Maria Hummitzsch. Verlag Kiepenheuer & Witsch 2021. 448 Seiten. 23,- Euro.

Diese Sensibilität für die Umwelt und ihre Umwelt wird Thula nie verlieren. Nicht einmal in den USA, wo sie als junge Studentin lebt, nicht ohne das Schicksal ihres Dorfes aus den Augen zu verlieren. Aus dem Heimatland von Pexton heraus wird sie den Aufstand gegen den Konzern anführen. Später wird sie ins Dorf zurückkehren, um vor Ort aktiv zu werden. Im Laufe des Romans kommen auch ihre Großeltern, Eltern und ihr Onkel zu Wort, die von ihren seelischen und physischen Entbehrungen und Verlusten berichten. Ihre Erinnerungen machen die persönlichen Motive und Traumata, das Menschliche hinter der Politik, greifbar.

Mbue bleibt eng bei ihrem Personal, hält ihren befremdeten und zunehmend feindseligen Blick auf die ausbeuterische Moderne. Zwischen den persönlichen Perspektiven ihrer Figuren und der kollektiven Erinnerung der Kinder entsteht ein flirrendes Spannungsverhältnis, in dem Vergangenheit und Gegenwart, Tradition und Moderne, Patriarchat und Emanzipation, Macht und Ohnmacht, Idealismus und Ernüchterung miteinander verbunden werden.

Die Tradition der mündlichen Überlieferung von Geschichte und Geschichten ist tief in diesem Text verankert. Maria Hummitzsch greift diese in ihrer lebendigen Übersetzung auf. Der Text verläuft wie in Wellen, greift in Satzketten rhythmisch das zornige Klagen des Kollektivs auf. Auch bleibt er lexikalisch nah am Mündlichen. Obwohl die Ölindustrie und die politische Theorie des Aufstands eine große Rolle spielen, kommt der Text ohne Fachbegriffe aus. Direkte Anspielungen auf Frantz Fanons Widerstandsklassiker »Die Verdammten dieser Erde« oder Karl Marx’ »Kommunistisches Manifest« müssen ausreichen, um die theoretischer Grundlage dieser Rebellion zu liefern. Das funktioniert perfekt, die von den Dorfbewohnern vorgetragene Klage erhält gerade dadurch eine hohe Glaubwürdigkeit.

»Wie schön wir waren« ist in der Vergangenheitsform geschrieben, Aufstand, Massaker, Niederlage sind bereits geschehen. Imbolo Mbues großer Roman lässt uns jetzt verstehen, woher die Enttäuschung in vielen afrikanischen Gesellschaften kommt. Und leistet vor allem eines: Er sorgt dafür, dass man von den verstorbenen Kindern von Kosawa nicht nur gehört haben wird. Man wird sie auch nicht mehr vergessen.

Thomas Hummitzsch, geboren 1979 in Meißen, ist freier Journalist, Pressereferent, Kritiker und Blogger.

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Literatur Verschiedenes

Yewande Omotoso wird akono Autorin

Yewande Omotoso wird akono Autorin!

Der akono Verlag freut sich, Yewande Omotoso als Autorin zu begrüßen und die bevorstehende Übersetzung von "An Unusual Grief" und "Bom Boy" anzukündigen.

akono Verlegerin Jona Krützfeld freut sich riesig, Omotoso im Verlag willkommen heißen zu können: „Seit ich ihren ersten Roman Die Frau nebenan gelesen habe, bin ich ein Omotoso Fan. So glaubhafte, facettenreiche und schratige Charaktere zu zeichnen und so klug und humorvoll die Abgründe menschlicher Beziehungen zu erkunden, gelingt nur sehr begabten Schriftsteller*innen.“ Auch Omotoso selbst ist „really happy to join the akono family.“

Im Herbst 2023 wird die Übersetzung von „An Unusual Grief“ erscheinen, einer mutigen und mitreißenden Geschichte über den unkonventionellen Umgang einer Frau mit dem Verlust ihrer depressiven Tochter durch Suizid. Mit präziser und wortreicher Prosa erkundet Yewande Omotoso die Beschaffenheit menschlicher Beziehungen und legt dabei Schicht um Schicht die Bruchstellen frei, die zur Entfremdung und Vereinsamung der Mitglieder einer Familie führen. Voll kluger psychologischer Beobachtungen, mit subtilem Humor und sprachlicher Leichtfüßigkeit schafft es Omotoso (wie schon in ihren vorherigen Romanen), facettenreiche, realistische und plastische Charaktere zu zeichnen, deren Fehlerhaftigkeit mit viel Empathie und schriftstellerischer Finesse begegnet wird.

Der Verlag hat die Rechte für alle noch nicht übersetzten Omotoso Werke erworben: 2024 wird der Debütroman Omotosos, Bom Boy, in deutscher Übersetzung erscheinen. Der Roman begleitet Leke, einen problembelasteten Jungen, der in einem Vorort von Kapstadt lebt. Er hat die seltsame Angewohnheit, Menschen zu verfolgen, kleine Gegenstände zu stehlen und auf der Suche nach Gesellschaft von Arzt zu Arzt zu gehen. Durch eine Reihe von Briefen, die ihm sein nigerianischer Vater, den er nie kennengelernt hat, geschrieben hat, erfährt Leke von einem Familienfluch. Bom Boy ist eine fein gesponnene und komplexe Erzählung, die mit einem sensiblen Verständnis für sowohl die Kleinheit als auch die Bedeutung eines einzelnen Lebens geschrieben wurde.

Yewande Omotoso wurde in Barbados geboren, wuchs in Nigeria auf und zog 1992 mit ihrer Familie nach Südafrika. Sie absolvierte eine Ausbildung als Architektin, bevor sie freiberufliche Schriftstellerin wurde. Sie lebt in Johannesburg. Ihr Debütroman Bom Boy kam auf die Shortlist für den südafrikanischen Sunday Times Fiction Prize 2012 und den Etisalat Prize for Literature 2013. Ihr zweiter Roman, The Woman Next Door (auf deutsch als Frau nebenan im Eichborn Verlag erschienen), kam auf die Shortlist für den Sunday Times Fiction Prize 2016, den Bailey’s Women’s Prize for Fiction 2017, den International Dublin Literary Award und den Hurston/Wright Legacy Award for Fiction.

Omtosos Werke erscheinen im Original bei Modjaji Books und Cassava Republic Press.

Die Werke werden vom Übersetzer Thomas Brückner ins Deutsche übersetzt. Seit 1994 ist er in Leipzig als freier Übersetzer tätig und übersetzte zahlreiche Romane afrikanischer Autoren, darunter die Werke von Abdulrazak Gurnah, Ngũgĩ wa Thiong’o, Ivan Vladislavić und Helon Habila.

So geht sächsisch! - Die Dachmarke des Freistaates Sachsen

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Literatur

Warsan Shires Gebet für die Unbetrauerten

Warsan Shires Gebet für die Unbetrauerten
von Farah Bakaari

Warsan Shires erster umfassender Gedichtband „Bless the Daughter Raised by a Voice in Her Head“ ist eine Art Gebet für nicht betrauerte Verluste. Die Sammlung behandelt ein breites Spektrum an Themen, von Problemen der psychischen Gesundheit in Einwanderungsgemeinschaften über verpfuschte Sexualerziehung bis hin zu Frauenmorden. Er spiegelt die Umwelt der jungen Dichterin wider, die private Empörung und öffentliche Scham belauscht, die unangemeldet in Familiengeheimnisse und Träume von Einwanderer:innen eindringt, die in der falschen Sprache transportiert werden. Es ist, als ob die junge Dichterin in diesem Akt der unerlaubten Zeugenschaft auch ihre eigene Stimme entdeckt – die Dichterin ist nicht nur diejenige, die hinschaut, sondern diejenige, die benennt und anspricht, was zurückschaut.

Shire ist eine britisch-somalische Dichterin, die in Nairobi geboren und in London aufgewachsen ist. Sie ist die erste „Young Poet Laureate of London“ und die jüngste Mitgliederin der Royal Society of Literature und wurde durch ihre Zusammenarbeit mit Beyoncé bekannt. Shire war jedoch eine der ersten Dichterinnen und Dichter, die in der „Pop-Poesie“- oder „Instagram-Poesie“-Szene berühmt wurden – entweder mit kurzen Videos von Originalgedichten, die von den Dichterinnen und Dichtern selbst vorgetragen wurden, oder mit Social-Media-Posts, in denen prägnante Verse zitiert wurden. Obwohl Shire selbst heute kaum noch online ist, bleibt die Begeisterung für ihre Online-Persönlichkeit ungebrochen. Das zeigt sich auch daran, dass die meisten Rezensionen ihres neuen Buches eher Profile über sie sind als kritische Auseinandersetzungen mit ihrem Werk. Shire veröffentlichte ihre Gedichte erstmals 2011 als Chapbook mit dem Titel „Teaching My Mother How To Give Birth.“ Mit diesem Band tritt Shires Lyrik in eine neue, erwachsenere Phase ein, in der sie mit längeren, formal einfallsreichen Gedichten experimentiert, die sich nicht so leicht in einer Instagram-Bildunterschrift oder einem Kühlschrankmagneten unterbringen lassen.

Ein Phänomen, mit dem sich diese Sammlung trotzig und wiederholt auseinandersetzt, oder besser gesagt, das sie segnet, ist die stille Einsamkeit, die das Leben der Einwanderer:innen plagt. Es ist die Einsamkeit derjenigen, die nie gelernt haben, eine Welt richtig hinter sich zu lassen. Eines meiner Lieblingsgedichte in der Sammlung trägt den etwas unbeholfenen Titel „My Loneliness is Killing Me“ (Meine Einsamkeit bringt mich um), der die Einsamkeit einfängt, die in den melancholischen Erinnerungen eines älteren somalischen Mannes, der in London lebt, zum Ausdruck kommt. Die Sprecherin „beobachtet“ ihren Onkel an einem verregneten Nachmittag, während er raucht, starken somalischen Tee trinkt und sich zu den Klängen von Hassan Aden Samatar an seine Kindheit an den Stränden und in den Straßen von Mogadischu erinnert. Er wartet auf ein Zeichen. Ich setze „beobachten“ in Anführungszeichen, denn obwohl das Gedicht in der dritten Person erzählt wird, ist sich der Leser dennoch der Anwesenheit und des Blicks eines anderen bewusst; ein Gefühl der Einsamkeit drängt sich auf. In der letzten Strophe wird die abwesende Anwesenheit des Dichters explizit gemacht. Die Strophe beginnt mit der Zeile „cidlada ka aktaw, Abti“, die – in einer unglücklichen Tendenz des Textes – mit “be stronger than your loneliness, Uncle / sei stärker als deine Einsamkeit, Onkel übersetzt wird. Dies ist jedoch nur eine von zwei möglichen Übersetzungen, da das Wort im Somali mehrdeutig ist. Das Substantiv „abti“ kann sowohl für die Nichte als auch für den Onkel verwendet werden, sodass die Zeile von beiden Parteien ausgesprochen werden könnte. Die erste Übersetzung (in der die Nichte ihren Onkel anweist, stärker zu sein als seine Einsamkeit) eignet sich daher für eine Lesart, in der die Dichterin von der Szene, deren Zeuge sie ist, abgestoßen wird. In der zweiten Übersetzung (in der sich der Onkel an die Nichte wendet) ist der Schrein des Onkels für die Geister vergangener Träume nicht unbedingt ein Ort der Klage, sondern eine Quelle der Zuflucht. Hier wird die Einsamkeit weder geleugnet noch medikamentös behandelt und hat daher das Potenzial, vorübergehend gelindert zu werden.

Bless the Daughter Raised by a Voice in Her Head

Im gesamten Band verfolgt die Einsamkeit die Menschen wie ein Gespenst; sie ist unausgesprochen, obwohl sie oft geteilt wird, sie ist intim, familiär, körperlich und klebt an der Haut wie Monsunmücken. Das Mädchenalter beispielsweise ist in erster Linie durch eine abgrundtiefe Einsamkeit gekennzeichnet, eine Einsamkeit, die gerade dadurch entsteht, dass das Wissen zu früh und die Sprache zu spät erlernt wird. Die Sammlung beginnt mit einem Gedicht mit dem Titel „Extreme Girlhood“, einer Art Ode an die lärmende Einsamkeit der Mädchenzeit, die ungehört bleibt. Mein Lieblingsgedicht zu diesem Thema ist jedoch „The Abubakr Girls Are Different,“, das von der stillen Gewalt erzählt, durch die sich die Mädchen als Mädchen begreifen, deren Anwesenheit immer umstritten und oft unerwünscht ist. In dem Gedicht beobachten sich die Mädchen gegenseitig und werden sich ihrer sich verändernden Körper und der Art und Weise bewusst, wie die Welt um sie herum diese Körper erhält und diszipliniert. Die letzten beiden Strophen bezeugen die Beschneidung der Mädchen und sind es wert, vollständig zitiert zu werden:

After the procedure, the girls learn how to walk again, mermaids
with new legs, soft knees buckling under
their raw, sinless bodies

We lie in bed besides each other, holding mirrors
to the mouths of our skirts,
comparing wounds.

Nach der Prozedur lernen die Mädchen das Laufen erneut, Meerjungfrauen

Mit neuen Beinen, weichen Knien, die unter ihren

rohen, sündfreien Körpern versagen

Wir liegen nebeneinander im Bett, halten Spiegel

An die Münder unserer Röcke

Wunden vergleichend

Diese außergewöhnlichen Zeilen inszenieren das, was Natalie Diaz in Anlehnung an Berger als das Präverbale bezeichnete, “as in the body when the body was more than body. Before it could name itself body and be limited, bordered by the space body indicated.”. Shires Verse fangen die Verwirrung von Körpern ein, die sich an der Grenze zwischen Erkenntnis und Wahrnehmung aufhalten.

Dennoch wird die Sprache in Shires Text nicht allgemein gepriesen, denn Sprache zu erlernen, bedeutet, Scham zu erlernen, was wiederum bedeutet, weniger zu wissen. Dies ist der Fall in „Bless Maymuun’s Mind“, wo einer Frau Antidepressiva verschrieben werden, während sie zwischen zwei Welten schwebt und keiner angehört. Wenn sie zu Hause anruft, erinnern sie sie daran, “how blessed she is, how proud they are, how all their hopes depend on her / wie gesegnet sie ist, wie stolz man ist, wie alle Hoffnungen auf ihr ruhen.” Und die Ärzte, die nicht in der Lage oder nicht willens sind, über das Symptom hinaus zu forschen, erhöhen ihre Dosis. Die Sprache lässt sie wieder einmal im Stich, diesmal, weil sie ein wenig zu konkret benennt. Sie hört zu. “She imagines she will die here, alone, far from home / sie stellt sich vor, dass sie hier sterben muss, allein, fern von zuhaus.”

Shire ist am besten, wenn sie nicht zu viel erklärt, sondern sich zurückhält und darauf vertraut, dass ihre Leser:innen den Sprung in die Interpretation wagen. Ein brillantes Beispiel dafür ist „Bless This House“, ein düsteres, witziges Gedicht, das Aphorismen – “are you going to eat that?” und “oh, this old thing” – für eine wütende Meditation über die Allgegenwart von häuslicher Gewalt und Vergewaltigungskultur nutzt. In dem Gedicht wird das Patriarchat als eine Form des Todestriebs dargestellt, bei dem Männer Frauen Gewalt als eine Form der Selbstvernichtung zufügen. Das Gedicht endet mit: “At parties I point to my body and say/ Oh this old thing? This is where men come to die.” / auf Parties deute ich auf meinen Körper und sage / Oh, dieses alte Ding? Dort kommen Männer zum Sterben hin.

Aber manchmal gerät die Sammlung ins Stocken, wenn der Ton didaktischer und die Form weniger einfallsreich wird. So ist zum Beispiel eines von Shires meistverbreiteten Gedichten, „Home“, in diesem Band abgedruckt. Trotz seiner Popularität und der ungeheuren Leidenschaft, mit der es die erzwungene Migration und die tückische Reise zu einem Zufluchtsort thematisiert, mangelt es dem Gedicht an jeglicher substanziellen formalen Raffinesse. Es fällt nicht leicht, Gedichte wie „Home“ oder „Hooyo Isn’t Home“ angesichts der Schwere ihres Themas als unzulänglich zu empfinden. Doch anstatt die Wahrheit herauszudestillieren, hat die ungeheure Wörtlichkeit dieser empörten Verse den unerwünschten Effekt, dass die Augen des Lesers glänzen und er den Text nicht mehr wahrnimmt.

Shires Vorliebe für übermäßige Erklärungen lässt mich fragen, für welche Zielgruppe ihr Werk eigentlich gedacht ist. Der Band enthält eine ganze Menge Übersetzungen und Transliterationen. Nicht-englische Wörter und Phrasen werden im Gedicht fast immer übersetzt, und in den wenigen Fällen, in denen dies nicht der Fall ist, werden die Übersetzungen in einem Glossar am Ende des Bandes aufgeführt. Das Beharren auf der Übersetzung sowie die Tendenz, nicht-englische Ausdrücke kursiv zu setzen, um sie visuell als sprachliches „Anderes“ zu kennzeichnen, könnte nicht nur ein Bewusstsein, sondern auch eine gewisse Kapitulation vor dem Blick einer weißen Leserschaft (und vielleicht vor den Forderungen eines weißen Verlages) signalisieren. Die Arbeit der sprachlichen Übersetzung ist nur ein Teil der kulturellen Übersetzung, die von minorisierten, rassifizierten Künstler:innen verlangt wird.

Doch wie können wir die Politik der Übersetzung neu bewerten, wenn die Künstlerin selbst einen Zwischenraum bewohnt, in dem die sprachliche und kulturelle Übersetzung für das tägliche Überleben obligatorisch ist? In Shires Text wird schwarzer Humor zu einer Möglichkeit, den Kampf um die Vereinbarkeit der unvereinbaren Anforderungen der gleichzeitigen Zugehörigkeit zu mehr als einer Kultur zum Ausdruck zu bringen. Nehmen wir „Bless the Bulimic“, in dem die Sprecherin Gott um Vergebung für ihre Essstörung bittet: “forgive me please,/ famine back home.” Der absurde Humor, mit dem sie Parallelen zwischen ihrem Zwang, Nahrung gewaltsam aus ihrem Körper auszuscheiden, und der Hungersnot im Heimatland ihrer Vorfahren zieht, zeigt die Gefahren der Übersetzung. In ihrer Folge ist sie nicht in der Lage, Mitgefühl für sich selbst zu haben oder ihre Bulimie als legitime medizinische Störung anzuerkennen, eben weil sie das Inkommensurable zweideutig darstellt. Übersetzung ist also zugleich Symptom und Heilmittel für eine gewisse sprachlich vermittelte diasporische Schizophrenie.

In Interviews spricht Shire von der Vorherrschaft der Poesie in ihrer somalischen Gemeinschaft in London. Dieser Einfluss ist jedoch, zumindest auf der formalen Ebene, in ihrer eigenen Poesie kaum zu erkennen, die keine formalen Merkmale mit der somalischen Dichtungstradition teilt und deren strikte Einhaltung der metrischen Skandierung in scharfem Kontrast zu Shires Art, im Bewusstseinsstrom zu schreiben, steht. Stattdessen hat ihre freie Lyrik mehr mit dem Genre der Hees oder somalischen Balladen gemein, eine Affinität, die der Band selbst durch die Berufung auf große somalische Vokalisten wie Hasan Adan Samatar und Magool anstelle von beispielsweise Hadraawi oder Hassan Sheikh Mumin behauptet.

Unabhängig davon hat die Sammlung für Shire-Fans und Skeptiker etwas zu bieten. In ihren Versen steckt eine gewisse unerschrockene Wahrheit, die zwar nicht immer formal interessant, aber immer gewagt, ja sogar anklagend ist. „Bless the Daughter Raised by a Voice in Her Head“ ist ein zärtliches Angebot für Bulimiker, Einsame, Heimwehkranke, Depressive, Verlassene, Außenseiter und Papierlose – ein kühner, doch unbeständiger Band von einer jungen, talentierten Dichterin.

Farah Bakaari ist Doktorandin an der Cornell University und forscht über afrikanische Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts, postkoloniale Studien und Traumatheorie. Sie ist in Somaliland geboren und aufgewachsen.

Bildrechte Foto im Header: ©Image credit Yves Salmon via Flickr CC BY-NC-ND 2.0.

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Literatur

Wenn nur die Wüste sprechen könnte

Wenn nur die Wüste sprechen könnte
Eine Rezension von Romeo Orioguns Lyrikband NOMAD. Von Samuel Osaze

Ich habe mich immer gefragt, was passiert, wenn die Natur eines Tages alle Geheimnisse enthüllen würde, die sie je anvertraut bekommen hat. Was würde nicht alles bekannt werden über die Unzulänglichkeit des Menschen?

NOMAD, geschrieben von Romeo Oriogun, ist reich an Personifikationen. Der Sahara-Wüste werden menschliche Qualitäten zugeschrieben, da sie sich der Aktivitäten innerhalb ihrer Grenzen bewusst zu sein scheint. Es heißt, die Wüste sei die wahre ‚Historikerin‘ der Menschen. Dem stimme ich zu. Zumindest führt sie genaue Aufzeichnungen über diejenigen, die mit ihr in Berührung kommen. Der Wüstensand „birgt alles, was wir zum Sprechen brauchen“, heißt es in einem der Gedichte.

Es stimmt, wer sonst könnte so genau die Geschichten von Migrant:innen erzählen, die in der Hitze der Sahara Wüste alle Kraft verlieren, bevor sie in der brütenden Hitze den Staub küssen, außer die Sahara Wüste selbst? Das Mittelmeer kennt mit Sicherheit ebenso die Zahl derjenigen, deren Leben geopfert wurde, damit andere Migrant:innen in das Land ihrer Träume gelangen konnten. Diese Vermutung ist nicht abwegig!

Romeo Oriogun

Die Migration ist eines der großen Themen von Nomad, wie der Titel schon andeutet. Ein Nomade ist jemand, der ständig in Bewegung ist. Jemand, der ein Leben auf der Wanderschaft führt. Im Oxford-Wörterbuch (2022) heißt es: „Ein Nomade ist ein Angehöriger eines Volkes, der von Ort zu Ort reist, um frisches Weideland für seine Tiere zu finden und der keinen festen Wohnsitz hat.“

Im Laufe der Jahre sind Nigerianer:innen auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen in anderen Ländern und sogar innerhalb unseres Mutterlandes, zu Landstreichern par excellence geworden. Deswegen sind sie anfällig für alle Formen von Ausbeutung, von Libyen (beliebt für Menschenhandelslager) bis zu Maghreb, der Heimat des Tuareg-Volkes, wo die letzte Etappe auf dem Weg nach Europa beginnt. Orioguns Reisegedichte sprechen jeden vertriebenen Nigerianer an. Unaufhörlich begeben sich junge Nigerianier:innen auf den Weg zum Beispiel von benin City nach Italien, wahrscheinlich auch, während du das hier liest.

Das Gedicht mit dem Titel „Someday the Desert will Sing“ (91) legt die Gebeine der Geflohenen offen. Vor der Wüste seien Hirte und Herde gleich, sie sei Archivar der Völker von alters her, behauptet das Gedicht. Es wurde nach Tade Ipadeolas „Sahara Testament“ geschrieben, einer Gedichtsammlung, die 2013 mit dem nigerianischen Literaturpreis ausgezeichnet wurde, und die die die Unermesslichkeit und Weite der Sahara-Wüste als Metonymie erforscht. Die ersten paar Zeilen von „Someday the Desert will Sing“ lauten:

On the day of equinox, the camels walk slowly,

neither responding to the voice of their herders

or to the dunes slowly shifting through an endless arena

of sand. In the Sahara where water is an old tale

 and the herders and the animals are one, united in life

as well as in an ongoing battle toward death,

there is a beginning in every grain of sand,

there is an origin in the night wind and the caves with their many moments of history

hold all that we need to speak from…

Ein anderes Gedicht in der Sammlung, „A Train Stop in the Sahara“ (93), beschreibt einen staunenden Reisenden, der die Weite und Leere der Wüste bewundert.

Who would have thought that man’s hunger

 for movement would lead him here? Perhaps

the ancient ones knew, they saw the journey,

the endless desire for conquest; Alexander’s

sword coming down on history’s knot.

Die letzte Strophe des Gedichts bringt mehr Licht ins Dunkeln:

I, nomad, who walked through cities,

soundless like a bone thrown into a pit/

I have no language for belong…

Bei der Behandlung der Themen Migration und Wanderschaft malt Oriogun gekonnt pittoreske Szenen, wie verrückt sie auch sein mögen, von den harten Realitäten auf einer Reise in die westliche Welt. Auf dem Weg dorthin gibt es viele Hürden zu überwinden. Die Sahara Wüste und das Mittelmeer sind beide zur ewigen Ruhestätte für viele geworden. Die Wanderschaft ist nicht neu. Die Umstände von Romeo Orioguns Flucht aus Nigeria im Jahr 2016 waren sehr unerfreulich. Man könnte meinen, dass der Dichter alle Spuren davon hinter sich lassen will. Doch nach weniger als einem Jahrzehnt im Exil in einem anderen Land, scheint Oriogun immer noch von Nigeria besessen zu sein, oder von Afrika besser gesagt. Er bleibt ein afrikanischer Dichter und nutzt sein Werk, um den gesellschaftlichen Kontext, der ihn zur Ausreise bewegt hatte, zu beleuchten. Es handelt sich um die Art von Migrant:innenliteratur, die aus dem Exil heraus die gesellschaftlichen Entwicklungen des Heimatlandes kommentiert, damit daraus ein besseres Land werde. Diese Anliegen sind Themen in NOMAD, der jüngsten Sammlung des Dichters, welches auf der 3-man Shortlist mit dem Nigeria Prize for Literature 2022 ausgezeichnet wurde.

NOMAD

NOMAD ist ein Sammelsurium von Themen. Zum Teil ist es die Summe der Erfahrungen und Erinnerungen des Dichters und die Art und Weise, wie sich dieser soziale Hintergrund mit der neuen Welt vermischt. Von Wanderschaft, Tod, Desillusionierung von Jugendlichen, deren Heimat die größte Bedrohung für ihre Lebensziele ist, und schließlich von der Unvermeidlichkeit des Zusammenstoßes zweier Kulturen in der neuen Heimat.

„Migrant at the Sahara“ nimmt die Lesenden an den Anfang der Reise mit, zu den Vorbereitungen des schwierigen Weges. In diesem Fall gibt der Dichter, nachdem er vom Geruch des Todes in der Sahara und andere blutige Details auf dem Weg nach Europa erfährt, seinen Traum von der Durchquerung der furchtbaren Wüste und ihrer endlosen Dünen auf. Kurz davor allerdings macht das erste Gedicht “ The Beginning“ (S. 1) deutlich, dass ein Mensch, wenn er vertrieben wird, die Last des Neuanfangs nicht alleine tragen muss.

Das Titelgedicht NOMAD (S. 99) scheint der Höhepunkt der transitorischen Phasen zu sein. Darin spricht ein „erfolgreicher“ Migrant, der es sich irgendwo in Brooklyn gemütlich gemacht hat und über seine Vergangenheit nachdenkt. Die erste Strophe des Gedichtes ist der Erguss eines dankbaren Herzens. Sie lautet: In Brooklyn, we drink to a toast/ in Samar’s asylum, wondering how to quiet/the countries speaking in our mouths. Das endgültige Ziel ist erreicht. Das Asyl wird gewährt. Mit relativem Komfort können die Migranten nur lobend zurückblicken.

Der Dichter scheint eine gute Erinnerung an Benin City zu haben. In vielerlei Hinsicht ist das Lebensgefühl der Stadt in einer Handvoll Gedichte spürbar. Wo es um koloniale Invasion und den Identitätsdiebstahl geht, werden Relikte der Kolonialgeschichte in der alten Stadt hervorgeholt, um diese Botschaft zu vermitteln. Zum Beispiel spricht das Gedicht „Waiting for Rain“ (Seite 23) von den gemeißelten Bildern der Edo-Krieger, die dem kolonialen Schießpulver erlagen, als 1897 die Schatzkammer der Stadt geplündert wurde.

Obwohl er in dem Gedicht, das den Edo-Märtyrern gewidmet ist, nicht ausdrücklich erwähnt wird, kommt einem der Name eines Kriegers, der unter den tapferen Frauen und Männern hervorsticht, sofort in den Sinn. Es ist Asoro n’Iyokuo – ein Soldat von außergewöhnlicher Größe und mit militärischem Einfallsreichtum, von dem gesagt wird, dass er eine Gruppe von Soldaten in einen Hinterhalt gegen die britischen Invasoren führte. Seine Statue, die auf dem Oba Ovonramwen Square in Benin City steht, zeigt, wie er zahlreiche Soldaten des Empire in die Flucht schlug, bevor er schließlich seinen Wunden erlag.

Orioguns Gedichte erinnern an Christopher Okigbo und Gabriel Okara, wenn es um den Kampf der Kulturen beziehungsweise die Verehrung der Wassergöttin des Reichtums und der Fruchtbarkeit (Olokun) geht. Was Oriogun jedoch vielleicht von diesen Vorfahren unterscheidet, ist der Mangel an Musikalität in seinem gut geschliffenen und schwer beladenen dichterischen Arsenal. Ich vermute, dass es das ist, was der Poesie beim Lesen und Rezitieren mehr Farbe verleiht.

Irgendwann im Laufe der Lektüre von NOMAD fühlte ich mich auch einmal verloren angesichts der eigentümlichen Banalität der Prosa, die mich belächelte. Dennoch, was Oriogun an rhythmischem Fluss fehlt, macht er durch seinen erfrischenden Stil reichlich wett: eine einfache, aber tiefgründige Diktion, umhüllt von reichhaltigen literarischen Mitteln. So widersprüchlich das erscheinen mag, so glaube ich doch, dass es genau das ist, was Orioguns Poesie zu der die Art von Anerkennung, die sie heute unter Kritiker:innen genießt, verleitet und warum er als neue „prägende Stimme der afrikanischen Poesie“ bezeichnet wird.

Es ist nicht auszuschließen, dass der Dichter angesichts der Umstände seiner Flucht aus Nigeria aus einer persönlichen Erfahrung heraus geschrieben haben könnte. Nach einem äußerst barbarischen Akt – der Dichter hatte während eines offiziellen Dienstes in Akure beobachtet, wie ein Mob einen anderen Homosexuellen lynchte. Aus Angst, dass ihm ein solches Schicksal widerfahren könnte, brauchte Oriogun keinen Kristallgucker, um ihn zum Verlassen des Tatorts und der Stadt zu bewegen.

Heute schreibt er aus den Vereinigten Staaten von Amerika. Trotzdem könnte dieser Bericht  aber genauso gut in der Phantasie oder durch gründliches Nachforschen zum Leben erweckt werden. Aus welchem Pool die Muse des Autors auch immer geschöpft hat, die Schilderungen sind lebendig gemalt. Dank des Engagements des Dichters für Figuren und einer gelungenen Sprache.

Samuel Osaze ist der Autor von „Der falsche Mond von Yenagoa“ (Gedichte). Übersetzt wurde es aus dem Englischen von Andrea Jeska.

Genre: Lyrik

Autor/in: Romeo Oriogun

Verlag: Griots Lounge Verlag Nigeria (2021)

Anzahl der Seiten: 116

Samuel Osaze ist der Autor von „Der falsche Mond von Yenagoa“ (Gedichte).

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Literatur

Lyrik der Ratlosigkeit

Lyrik der Ratlosigkeit
Rezension von Jumoke Verissimo

Samuel Osazes Der falsche Mond von Yenagoa vermittelt die nicht enden wollende Unzufriedenheit, Wut und Verbitterung der nigerianischen Jugend über den Zustand des Landes. Osaze gehört zu einer ausgewählten Gruppe von Dichtern wie Akeem Lasisi, Rasaq Malik, Olajide Salawu, Gbenga Adeoba und anderen, die die traditionelle Ästhetik durch die Verwendung von Bildern aus der mündlichen Poesie neu interpretieren. Osazes Poesie scheint hauptsächlich von seinem Esan- und Edo-Erbe beeinflusst zu sein, das ihm als Ausgangspunkt für den Ausdruck seiner Gefühle dient.

Der Gedichtband von Osaze ist eine düstere Anschuldigung gegen die Ablehnung und Vernachlässigung durch frühere Machthaber, die Nigeria in einen Körper verwandeln, dessen Schmerz der späteren Generation gehört. Das einleitende Gedicht der Sammlung, Der Sklaventreiber, begründet die Unzufriedenheit des Dichters, die sich durch das ganze Buch zieht. Der Sklaventreiber ist, wie Osaze beschreibt, „ein Ungeheur, das vom Blut der Lämmer trinkt / und Taubheit vorgibt / für die Fäuste des Hungers / die gegen die Wände des leeren Magens / trommeln…“. Neben anderen lebhaften Bildern fängt Osaze in seiner Dichtung das Gefühl der Desillusionierung und der Hoffnungslosigkeit ein, wenn er die Jugend als „ein weites, reiches Feld, das von Heuschrecken in Ödnis verwandelt wurde“ beschreibt.

Das gesamte Werk des Dichters ist von einem anklagenden Ton geprägt (der in gewissem Sinne das Tempo der Klagen vorgibt, auch, wenn diese von der nigerianischen Jugend unausgesprochen bleiben). In einigen wenigen Fällen wird die Wut des Dichters jedoch durch sein Bewusstsein für die erhaltende Kraft der Kultur gemildert, was zeigt, dass nicht alles korrupt oder entmutigend ist. Die Gedichte Ein Esan-Mädchen tanzen sehen und Nach dem Tanz, beide im vierten Abschnitt des Buches, loben den Rhythmus einer Tänzerin und wie dieser zu einem Mittel wird, mit dem sich der Optimismus dem Geistigen nähert. Im vierten Abschnitt betrachtet der Dichter das Tanzen als einen Weg, um in die spirituelle Welt einzutreten, auf der Suche nach einer persönlichen und möglicherweise auch nationalen Wiedergeburt. Dieser Abschnitt symbolisiert, dass das Einzige, was in diesem Land funktioniert, die Unterhaltung und die Künste sind.

Osaze gelingt es zwar gut, die Not der nigerianischen Gesellschaft und die Verzweiflung ihrer Jugend in seinen Gedichten darzustellen, doch scheint die Sammlung ein wenig zu sehr nach flüssigem Sprachgebrauch zu streben. Vielleicht liegt das daran, dass die mündliche Form, die beim Schreiben verfolgt wird, nicht vollständig erforscht wird. Es ist wichtig zu erwähnen, dass das Konzept und die Prämisse des Buches gut sind, und es gibt einige bemerkenswerte Zeilen, aber die schriftlichen Elemente könnten besser verfeinert werden.

Beginnen wir mit der Verwendung der mündlichen Poesie in seinem Werk. In den meisten nigerianischen Volksgruppen sind die Formen der mündlichen Poesie typischerweise auf präzise Formulierungen angewiesen, die bei der Beschreibung des Themas nicht an Bedeutung verlieren. Das Gedicht „Sklaventreiber“ zum Beispiel könnte von einer sparsameren Wortwahl profitieren, damit der Leser die Qualen der nicht gewürdigten Arbeit im Sinne des Dichters versteht. Mündlich vorgetragene Poesie versucht, mit wenigen Worten viel zu sagen. Die Mundartdichter, die diese Gedichte vortragen, wissen, dass Worte nicht nur wegen des Bildes, das sie offenbaren, Macht haben, sondern auch wegen ihrer Fähigkeit, an die Gefühle zu appellieren, indem sie dem Leser etwas Neues offenbaren, während sie alles andere der Phantasie überlassen. Da Osaze mit seinen Gedichten versucht, die mündliche Form auf das Papier zu übertragen, erwartet der Leser eine Präsentation und Organisation, die eine Aufführung auf dem Papier nachahmt. Dabei geht es nicht unbedingt um das Wiederholen traditioneller Elemente der mündlichen Poesie, sondern um eine originelle Übermittlung des Gedichts an den Leser, bei der seine Worte über ihr Thema hinaus wirken. Das Gedicht Bei meiner Heimkehr reckt die Fäuste in die Luft zum Beispiel hat so viel Potenzial in der Art, wie es beginnt: „Bringt mich zurück woher ich komme“. Doch die darauffolgenden Zeilen „um meinen zornigen Wurzeln / bis in den Mutterschoß zu folgen, wo ich den / ersten Atemzug tat beim Mahl mit/ den Göttern des Tages“ in eine Metapher, die den Leser so verwirrt, dass das Ziel des Gedichts verloren geht.

Nichtsdestotrotz ist Osaze’s Buch ein wertvoller Beitrag zur Lyrikgemeinschaft in Nigeria. Er schließt sich zeitgenössischen nigerianischen Dichtern an und untersucht die allgemeine Erfahrung junger Menschen, die von jahrelanger schlechter Staatsführung betroffen sind, die ihre Vision vom Nigerianischsein sowohl individuell als auch kollektiv ausgelöscht hat. Von Rasaq Maliks Erkundung des Verlusts in seinen vielen Erscheinungsformen, Saddiq Dzukogis Einsatz von Poesie als Meditation für die Trauer, Ndubuisi Aniemekas Klagen über geschrumpfte Träume bis hin zu Romeo Orioguns Untersuchung des Übergangs und der Transformation des Selbst, sowohl innerhalb als auch außerhalb der nigerianischen Grenzen, bleibt der Fokus dieser Dichter, die Ratlosigkeit über den nigerianischen Staat zu zeigen. Innerhalb und außerhalb der nigerianischen Grenzen beherrscht die Verzweiflung über die Vernachlässigung der eingesperrten Bürger des Zorns, wie Osaze sie beschreibt, weiterhin die jüngsten Gedichte. Angesichts der Vorbereitungen auf die Wahlen ist Osazes Lyrik geeignet, den Puls der Nation in dieser Zeit zu hören. Sie beleuchtet die bekannten und unbekannten Lasten, die unverhältnismäßig stark auf den Schultern der größten Bevölkerungsgruppe Nigerias – der Jugend – liegen.

 

Samuel Osaze, Der falsche Mond von Yenagoa. Gedichte englisch/deutsch. Übersetzt von Andrea Jeska. akono Verlag 2021.ISBN 978-3-949554-00-1.125 Seiten. Softcover. Hier im Webshop bestellen

Jumoke Verissimo

Jumoke Verissimo ist die Autorin zweier hochgelobter Gedichtbände und des Romans „A Small Silence.“ Ihr neuestes Buch ist ein Bilderbuch für Kinder, das auch in Yoruba erhältlich ist: Grandma and the Moon’s Hidden Secret.

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Literatur Verschiedenes

Einladung zur Debatte: N-Wort

Einladung zur Debatte:
Übersetzung des N-Wortes im Buch einer Schwarzen Autorin
zum Thema rassistische Gewalt

Der Roman Sie wäre König der liberianisch-amerikanischen Autorin Wayétu Moore, der im Herbst 2021 im akono Verlag erschienen ist, stand bereits mehrfach in der Kritik, weil darin einige Male das N-Wort ausgeschrieben wird. Dazu möchten wir im Folgenden gern Stellung nehmen und Übersetzer:innen, Betroffene und andere Interessierte zu einer offenen und respektvollen Debatte einladen, die Nuanciertheit, analytische Schärfe und best-practice Ideen zum Ziel hat.

Ja! zu rassismuskritischer Sprache

Vorweg sei gesagt, dass wir zu keinem Zeitpunkt hinter die Anliegen rassismuskritischer Sprache zurückfallen wollten. Das N-Wort ist ein rassistisches Schimpfwort, das aus der Rassentheorie und vor dem Hintergrund der weißen kolonialen Unterwerfung zu einer Fremdbezeichnung mit abwertendem Charakter wurde, das unendlich viel Leid und Gewalt, Dehumanisierung und Herabwürdigung in sich trägt. Dieses Wort nicht mehr zu reproduzieren, ist geboten, weil es für Schwarze Menschen eine retraumatisierende Beleidigung darstellt und auch, weil dessen Aussprache durch weiße Menschen diesen innerhalb einer rassistischen Gesellschaftsordnung erneut privilegierte Autorität verschafft und somit koloniale Herrschaftsverhältnisse aufrecht erhält.

Alle Leser:innen, die das in Abrede stellen oder diskutieren wollen, werden gebeten, sich hier oder hier oder hier zu informieren und zu bilden.

Eine Geschichte des Widerstands

Der Roman Sie wäre König spielt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und thematisiert den Widerstand gegen koloniale Gewalt und Versklavung in Afrika und in der afrikanischen Diaspora anhand der Entstehungsgeschichte Liberias. Liberia wurde als neue Heimat für befreite ehemals versklavte Afroamerikaner:innen etabliert, nachdem die American Colonization Society 1816 vom amerikanischen Kongress ein Rückführungsmandat erhalten hatte. Die Schriftstellerin Wayétu Moore erklärt den Hintergrund ihres Romans wie folgt:

Liberia ist eine Geschichte des Widerstandes. Als ich begann, Sie wäre König zu schreiben, habe ich ziemlich intensiv verschiedene Widerstandsbewegungen und Aufstandsbewegungen in der afrikanischen Diaspora von Menschen afrikanischer Abstammung recherchiert. Das war gewaltig – da gab es Gaspar Yanga in Mexico und José Antonio Aponte in Kuba, wie auch in Haiti und Liberia und Nat Turner, und ich wollte, dass die Geschichte in ihrem Kern von Widerstand handelt.

In „Sie wäre König“ treffen drei Figuren, die aus Lai in Westafrika, von einer Plantage in Virginia und aus den Blauen Bergen in Jamaika kommen, in den 1830er Jahren im Gebiet des späteren Liberia aufeinander. Alle drei Figuren haben besondere Kräfte, die in Bezug stehen zu der Gewalt, die im Laufe der Weltgeschichte Schwarzen Körpern angetan wurde, und vereinen sich zum Kampf gegen Unterdrückung, Versklavung und koloniale Fremdherrschaft. Die drei Charaktere verkörpern die diverse kulturelle Zusammensetzung Liberias, das aus indigenen Gruppen, Afroamerikaner:innen und aus der Karibik, vor allem aus Barbados, stammenden Gruppen besteht.

Historische Authentizität und Unverfälschtheit

Alle drei Charaktere und ihre zugehörigen Communities sind im Laufe der Geschichte enormer Gewalt ausgesetzt und werden im englischen Original einige Male mit beiden ausgeschriebenen N-Worten bezeichnet. Wir haben uns bei der Übersetzung entschieden, die Stimme der Schwarzen Autorin so unverfälscht wie möglich zu belassen und das Ausmaß der Gewalt in seiner Drastik so weit darzustellen, wie sie es gewollt hat. Insgesamt ist das deutsche N-Wort im Roman 24 mal ausgeschrieben. Wegen des Risikos, dass bei Betroffenen Ängste, Flashbacks oder andere psychische Reaktionen ausgelöst werden, enthält der Roman nun eine Triggerwarnung auf dem Cover und einen Übersetzungskommentar. Außerdem führt ein QR-Code im Buch zu dieser Debatte.

Einladung zur sachlichen Debatte

Nach zahlreichen Gesprächen mit Übersetzer:innen, Autor:innen und von rassistischer Gewalt Betroffenen, die jeweils aus sehr unterschiedlichen Perspektiven sprachen, ist uns bewusst geworden, dass es zum Umgang mit der Übersetzung des N-Wortes bisher keine bestmögliche einheitliche Herangehensweise gibt.
Daher möchten wir alle, die Interesse und Kapazitäten haben, sich an dieser Diskussion zu beteiligen, einladen, ihre Perspektiven und Ideen zu teilen.

* Spielt es bspw. eine Rolle, das der Text im Jahr 2018 bewusst mit dieser Terminologie veröffentlicht wurde und es sich nicht um eine Neuübersetzung eines alten Textes handelt?

* Welche kreativen Ideen gibt es, das N-Wort zu dekonstruieren?

* Wie steht ihr zu Euphemismen wie etwa „Schokosoldat“ (für Senegalschützen, so übersetzt in David Diop: Nachts ist unser Blut schwarz von Andreas Jandl)

* Was für eine Bedeutungsverschiebung findet statt, wenn der Text einer Schwarzen Person von einer weißen Person übersetzt wird in Bezug auf diese Thematik?

Wir bitten darum, das N-Wort in der Debatte nicht auszuschreiben.

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Literatur

Ein seltsam bewegendes Stück Belletristik

Ein seltsam bewegendes Stück Belletristik
von Wamuwi Mbao

Wamuwi Mbao rezensiert Burnt Sugar, den für den Booker Prize nominierten Roman von Avni Doshi. Im Herbst erscheint die deutsche Übersetzung "Bitterer Zucker".

Der ziemlich egoistische Glaube, dass die eigenen Eltern immer nur das Beste für einen wollen, führt unweigerlich zu der Art von Desillusionierung, die am häufigsten in Philip Larkins bekanntem Gedicht This Be the Verse erwähnt wird. Sie kennen das Gedicht (wenn nicht, sprechen Sie mit einem x-beliebigen Absolventen der englischen Literatur, der älter als 25 ist, über die Versäumnisse Ihrer Eltern). Der Prozess des Trauerns über den bevorstehenden Verlust des ersten Erwachsenen, in den man eine nennenswerte emotionale Bindung investiert, ist besonders zermürbend, wenn der Elternteil einem fremd wird. Die Trauer wird noch verstärkt, wenn der entfremdete Elternteil die eigene Mutter ist. Väter sind ausnahmslos Enttäuschungen, die sich von der Szenerie der Kindheit entfernen, wohingegen die Mutter die erste Schlichterin und Vertraute ist – und somit die erste Verräterin, wenn sie unsere falsche Vertrautheit enttäuscht, indem sie es wagt, nicht unserer starren Vorstellung davon zu entsprechen, wer sie ist.

Man könnte sagen, dass dies keine besonders heiteren Überlegungen sind. Und doch wird in Avni Doshis Bitterer Zucker (ein etwas besserer Titel als der wenig vielversprechende Girl in White Cotton, unter dem der Roman in Indien erschienen ist) die Diskrepanz zwischen der Erinnerung einer Tochter und einer Mutter an die Verflechtung ihrer Leben zu einer diagnostischen Erzählung, die auf 280 Seiten in knapper, sehr persönlicher Prosa die Verletzungen der Generationen nachzeichnet. Im Zeitalter der großen, kostspieligen Romane ist Bitterer Zucker ein segensreicher, geschmeidiger Roman auf einer Booker-Shortlist, die oft vor wortreichen, überfüllten Türstoppern ächzt.

Der Roman wird von Antara erzählt, einer mittelmäßig erfolgreichen Künstlerin in den Dreißigern, die mit ihrem Mann Dilip in Pune im Westen Indiens lebt. Er dreht sich im Wesentlichen um Antaras angespannte Beziehung zu ihrer Mutter Tara. Die Tochter (die das Spiegelbild ihrer Mutter, die Un-Tara, ist) befindet sich in einem Zustand tiefer innerer Zerrissenheit, die durch das Gefühl hervorgerufen wird, dass ihre Mutter ihre Tage leben wird, ohne für den Schaden, den sie ihrem Kind zugefügt hat, zur Rechenschaft gezogen zu werden:

Der Grund ist einfach: Meine Mutter vergisst, und es gibt nichts, was ich dagegen tun kann. Es gibt keine Möglichkeit, sie an die Dinge zu erinnern, die sie in der Vergangenheit getan hat, keine Möglichkeit, sie mit Schuldgefühlen zu überschütten. Früher erwähnte ich ihre Grausamkeiten beiläufig beim Tee und sah zu, wie sich ihr Gesicht zu einem Stirnrunzeln verzog. Jetzt kann sie sich meist nicht mehr daran erinnern, wovon ich spreche; ihre Augen sind von ewiger Heiterkeit entrückt.

Antara steht vor der Aussicht, die Verantwortung für Tara übernehmen zu müssen, zurückgewiesen von ihrem eigenen Schuldgefühl und verärgert darüber, dass andere (ihr Partner, die Ärzte) ihre kühle Haltung gegenüber ihrer Mutter nicht verstehen werden. Der Arzt, den sie konsultieren, besteht darauf, dass ihr Gehirn in Ordnung ist, und ihr Mann tut so, als ob mit Tara alles in Ordnung wäre, weil er es nicht besser weiß. Aber für Antara ist die Frustration umso schlimmer, weil sie die Einzige zu sein scheint, die es sieht:

[...] die Mutter, an die ich mich erinnere, erscheint und verschwindet vor mir, eine batteriebetriebene Puppe, deren Mechanismus versagt. Die Puppe wird leblos. Der Bann ist gebrochen. Das Kind weiß nicht, was real ist und worauf man sich verlassen kann. Vielleicht hat es das nie gewusst. Das Kind weint.

Taras früh einsetzende Senilität ist für Antara erschütternd, denn Krankheit ist der große Homogenisator, der alles Besondere zurücknimmt und den geliebten Menschen durch eine Reihe peinlicher Episoden seiner Identität beraubt. Als ruheloser Charakter, dessen Rebellion gegen die Rollen, die von ihm erwartet wurden, einen hohen Preis hat, wird Taras langjährige Vernachlässigung ihrer Tochter in den Fokus gerückt, als ihr zunehmend löchriger Geist Antara dazu zwingt, sie genauer im Auge zu behalten.

Was folgt, ist ein beunruhigender Streifzug durch die Lebenswelten der beiden Frauen. Fühlt sich Antara zu Recht angegriffen von dem Leid, das sie durch ihre Mutter erfahren hat? Sicherlich ist Tara eine robuste, eigennützige Figur, die durch ihre Demenz plötzlich verletzlich geworden ist, und sie lenkt ihre mangelnde Fürsorge für die junge Antara als Teil einer Vergangenheit ab, die sie nicht wieder erleben möchte. Zu dieser Vergangenheit gehört, dass sie Antaras Vater verlässt und Zuflucht in einem Ashram sucht, der von einem verlogenen, räuberischen Guru geleitet wird, dem sie ihre ganze Aufmerksamkeit schenkt, bis sie für einen jüngeren Anhänger verschmäht wird. Während Tara sich dem Guru hingibt, ist das Kleinkind Antara sich selbst überlassen. Später wird sich die erwachsene Antara darüber ärgern, was ihre Mutter (die eine bemerkenswerte Verleumderin ist) zu vergessen vorzieht. Wir sehen, dass das, was Antara für wichtig hält, für ihre Mutter eine besondere Bedeutung haben kann oder auch nicht, und hier eröffnet sich uns der Schlüsselpunkt des Romans.

Bitterer Zucker erinnert uns daran, dass Kindheit eine Idee über die Beziehung von Kindern zum Erwachsensein ist, die von Erwachsenen erfunden wurde, um ihre Neurosen zu erklären. Das, woran man sich aus der Sicht eines Erwachsenen an seine Vergangenheit erinnert, ist immer gefärbt von den Handlungen der Erwachsenen, die uns mit ihren betrunkenen, psychopathischen, unehrlichen oder grausamen Handlungen am tiefsten enttäuscht haben. Antaras Versuche, das Abgleiten ihrer Mutter in die Demenz durch Erinnerungen, Stichwortkarten, Nacherzählungen und andere Gedächtnisleistungen zu verlangsamen, sind auch Versuche, ihr Verständnis der Ereignisse an eine einheitliche Erzählung anzugleichen, um ihrer Mutter besser verständlich zu machen, was sie falsch gemacht hat. Dies bildet den Grundton einer Erzählung, die durch Antaras freie Assoziation zwischen Vergangenheit und Gegenwart hin und her springt. Je mehr Details Antara über ihre Mutter preisgibt, desto mehr wird uns ein Bild ihrer eigenen Entwirrung präsentiert.

Es ist der Schmerz der Kindheit, an den sich Antara am meisten erinnert. Als Tara den Ashram abrupt verlässt, weil sie vom Guru zugunsten eines jüngeren Liebhabers verschmäht wurde, verbringen die trotzige Mutter und die unglückliche Tochter ihre Tage in ungebührlichem Elend, betteln vor dem Club, dessen Gönner sie mit einer Mischung aus Mitleid und Verachtung betrachten, die das Bürgertum oft für diejenigen aufbringt, die es daran erinnern, wie leicht es ist, in den Ruin zu stürzen.

Von ihren Großeltern mütterlicherseits vor diesem deprimierenden Schicksal gerettet, muss Antara anschließend einen Aufenthalt in einem Internat über sich ergehen lassen, wo sie eine stotternde, instabile Freundschaft schließt (einer der interessanten Stränge des Romans sind Antaras Beziehungen zu anderen Frauen, die entweder abrupt abbrechen oder in Verwirrung und Missverständnissen versanden) und eine Essstörung entwickelt. Essen taucht im Roman immer wieder als Ort der Akzeptanz oder Ablehnung auf: Wir können leicht einen Bogen spannen von Tara, die ihre kleine Tochter unbeaufsichtigt lässt, während sie sich um den Guru kümmert, bis hin zu Antara, die ihre Mutter am Ende des Romans mit Zucker vollstopft.

Ironischerweise ist es ihre Mutter, deren Gesundheit in Frage gestellt ist, aber es ist Antara, die unaufhörlich durch die Vergangenheit kreist, während sie versucht, Taras Verhalten mit den Erwartungen in Einklang zu bringen, die mit der Rolle, die der Titel „Mutter“ bedeutet, verbunden sind. Die Wut zwischen den beiden flammt an überraschenden Stellen auf, während wir nach und nach die Konturen ihrer Unstimmigkeiten erkennen. Unsere Sympathie schwankt zwischen Mutter und Tochter: Antara ist eine Erzählerin, deren Verlässlichkeit unberechenbar wogt, und die Frage der Schuldzuweisung wird immer unklarer, je mehr wir über beide Frauen erfahren.

Einer der interessantesten Beiträge von Bitterer Zucker besteht in der Reflexion über Geschlechterrollen. Die Männer – Dilip, Antaras Vater, der Guru, mit dem Tara flüchtet – sind abstoßend ineffektiv: selbstverliebt, angeberisch, völlig und oft absichtlich vergesslich, treiben sie durch die Geschichte und tragen wenig bei. Dilip, ein amerikanisierter Migrant, der mit fröhlichen Banalitäten handelt und ohne komplexe Gedanken durch die Welt geht, könnte genauso gut in einem anderen Roman vorkommen. Antaras wachsende Frustration über ihn, die von Doshi mit ironischem Understatement pointiert wiedergegeben wird, findet kein Ventil, weil die Gesellschaft, in der sie leben, auf dem unhinterfragten Glauben an männliche Überlegenheit aufgebaut ist. Das schlägt sich oft in Momenten nieder, die ein reumütiges Lachen hervorrufen. Als sie die Arztpraxis nach einer frustrierenden Konsultation verlassen, fragt der Arzt sie, ob sie mit einem männlichen Arzt eines Krankenhauses in Bombay verwandt seien. Ich sage ihm, dass wir das nicht sind“, berichtet Antara, „und er sieht enttäuscht aus, traurig für uns. Ich frage mich, ob die Erfindung einer Verwandtschaft hätte helfen können.‘

Doshis Text spricht ein breiteres gesellschaftliches Problem an. Antara, Dilip und ihre Freunde sind vielschichtige Charaktere, die einer Generation angehören, die von den stillen Kämpfen ihrer Eltern profitieren will: Bitterer Zucker nimmt keinen Umweg über die Galerie der postkolonialen Kämpfe. Wenn Antara und ihre Kohorte sich treffen, dann tun sie das in einem ehemals kolonialen Club, der zwar physisch an das britische Raj erinnert, aber auch etwas anderes geworden ist. Aber sie gehören auch zu einer Generation, die die tief gehegten Aufstiegsvorstellungen ihrer Eltern zu enttäuschen droht, für die der Umzug in den Westen und die fade Assimilation die ultimative Errungenschaft sind.

Ironischerweise findet die Mutter, die sich zutiefst wünscht, von der Last von Antaras Liebe befreit zu sein, ihre Tochter weiterhin an ihrem Rockzipfel. Als Antara in einem Moment der Verärgerung ihrer Mutter vorwirft, nur an sich selbst zu denken, blockt Tara den Vorwurf kühl ab: „Es ist nicht falsch, an sich selbst zu denken.“ Ihre Weigerung und Unfähigkeit, die Schande ihrer schlechten Bemutterung auf sich zu nehmen, lenkt uns darauf, über Taras eigene Beweggründe nachzudenken. Sie ist keine besonders verlässliche Erzählerin, und ihre Angst vor dem Leben, das sie mit Dilip eingeht, scheint Ausdruck eines ungeklärten inneren Konflikts darüber zu sein, welche Verantwortung durch Liebesbande entsteht.

The Johannesburg Review of Books

Dieser Text erschien zuerst auf englisch bei the JRB unter dem Titel „An oddly moving piece of fiction — Wamuwi Mbao reviews Burnt Sugar, Avni Doshi’s Booker Prize-shortlisted novel“

So sehen wir, wie Antara anfangs gegen die selbstgefällige Nichtigkeit ankämpft, sich in den Dreißigern an jemanden zu binden, der sicher ist, mit Kindern und spätkapitalistischer ästhetischer Vergessenheit droht. Doch schließlich üben die orthodoxen Regime so viel abergläubische Anziehungskraft auf sie aus, dass sie die einzigen Barrieren zu sein scheinen, die Antara davor bewahren, in eine abgrundtiefe Dunkelheit zu stürzen. Niemand will allein sterben. In solchen Momenten ist der Roman am stärksten: Die Texturierung der Beziehungen zwischen den Menschen widersteht dem Solipsismus und erinnert an ähnliche Momente im Werk von Autorinnen wie Sheila Heti oder Kate Zambreno. Aber wo diese Autorinnen einen eindeutig vanilligen „white-girl“-Modus pflegen, greift Doshis Auge die Absurditäten heraus und beschreibt sie neu, damit wir sie bemerken. Der Effekt ist angenehm lebendig.

Doshi ist auch eine scharfe Beobachterin von Klassenunterschieden. Das Gefolge von Arbeitern, die das Personal und die Pflege versorgen, sind in ihrer Innerlichkeit ätzend stumm. Das Kind Antara baut eine Bindung zu einer jungen Frau auf, die als Pflegerin angestellt ist, doch als Antara versucht, der Frau über die Grenzen des bürgerlichen Domizils hinaus zu folgen, wird sie brüsk abgewiesen, es kommt zu einem Handgemenge und die junge Frau wird entlassen. Später in der Geschichte reagiert Antara mit Angst und Bestürzung, als sie feststellt, dass das Gebrechen ihrer Mutter vom Wachmann des Gebäudes, in dem sie wohnt, gesehen wurde, was sie zu einem leichten Ziel für das wilde Proletariat macht, das Antara aus ihrer Fantasie heraufbeschwört.

Kenner einer bestimmten Art zeitgenössischer Belletristik werden sofort den Schreibstil erkennen, der leise aphoristisch, lakonisch im Temperament, mager im Dialog und die Fragmentierungen der Wirklichkeit auf eine Weise imitierend ist, die Gefahr läuft, zur Konvention zu werden. Indien ist feucht, vielfarbig und fiebrig, Sex wird unauffällig an das Ende von Absätzen angehängt, und das Alltägliche wird zu einem Mittel, um die Details zu vermehren:

Die Uhr an der Wand des Arztzimmers fordert meine Aufmerksamkeit. Der Stundenzeiger steht auf eins. Der Minutenzeiger ruht zwischen acht und neun. Die Konfiguration bleibt so für dreißig Minuten. Die Uhr ist ein verblassendes Überbleibsel einer anderen Zeit, abgebrochen, nie ersetzt.

Der ennui quillt aus dem Uninteressanten heraus, und ennui, so wird uns oft gesagt, ist eine interessante Form der Langeweile. Hier funktioniert das, aber an anderer Stelle fühlt sich die Pose ein wenig zu solipsistisch an: Ist Borborygmie interessant? An einer anderen Stelle sehen wir, wie Antara die chemische Zusammensetzung der Tabletten ihrer Mutter nachschlägt, die sie als „eine Reihe eleganter Sechsecke und ein Molekül Chlorwasserstoff, das wie ein Schwanz herunterhängt“ beschreibt. Man sieht das Riff schon kommen. Klischees sind zwar nicht das schlimmste Verbrechen, aber hier wirken sie plump und machen die Figuren, in deren Mund sie vorkommen, weniger glaubwürdig, als sie sein könnten.

Während Doshis Prosa ansonsten bewundernswert geschmeidig und unangestrengt ist, wird das letzte Drittel des Romans etwas sackartig, als ob die Spannung, die die Geschichte im ersten und zweiten Teil straff gehalten hat, nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Das Ende ist eine Überraschung, aber weil diese vitale Energie etwas nachgelassen hat, wird es nicht mit dem nötigen Schliff geliefert. Stattdessen taumeln wir durch eine Szene, die zu generisch für ein so dicht konstruiertes Stück Fiktion wirkt.

Wie Meditationen über Familienbande das eigentlich so an sich haben, ist Bitterer Zucker für seine relative Kürze ausgesprochen umfangreich. Seine Sparsamkeit wird nicht allen Geschmäckern gerecht werden, aber die Sauberkeit des Schreibens, wenn es mit dem reißerischen Überfluss des Lebens kombiniert wird, ergibt ein seltsam bewegendes Stück Fiktion.

© Wamuwi Mbao

Wamuwi Mbao ist ein Essayist, Kulturkritiker und Akademiker an der Universität Stellenbosch. Folgt ihm auf Twitter.

Im Herbst erscheint „Bitterer Zucker„, die deutsche Übersetzung von Burnt Sugar, beim btb Verlag.

Gefördert durch die Kulturstiftung des Freistaates Sachsen. Diese Maßnahme wird mitfinanziert durch Steuermittel auf der Grundlage des vom Sächsischen Landtag beschlossenen Haushaltes.

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Literatur Uncategorized

Grenzen überwinden

Grenzen überwinden
von Joanna Woods

Was für radikal-emanzipatorische Zukünfte werden in Afrikas spekulativer Belletristik erdacht?

Die spekulative Belletristik in Afrika erlebt derzeit eine Renaissance. Für diejenigen, die „Who No Know Go Know“ kennen – um das Motto der Kapstädter Plattform Chimurenga aufzugreifen – wird sie zu einem immer bedeutenderen Genre und es ist eine Herausforderung, mit der großen Bandbreite an Autor:innen und Texten, die sich mögliche Zukünfte in Afrika ausmalen, Schritt zu halten.
Indem sie Erzählungen nicht nur in Räumen außerhalb unserer realen Welt, sondern auch in ihr ansiedeln und Geschichten schreiben, die mythologische und futuristische Elemente vermischen, malen sich Afrikas spekulative Belletristik-Autor:innen vielfältige emanzipatorische Zukünfte aus.

In einem einleitenden Essay mit dem Titel „Afrofuturismus: Ayashis‘ Amateki„, der 2018 in der Kurzgeschichten-Anthologie Intruders veröffentlicht wurde, lieferte die südafrikanische Romanautorin Mohale Mashigo eine Art Manifest für spekulative Belletristik-Autoren auf dem Kontinent. Darin verkündet sie, dass man sich mit dem Kontinent als Ganzem und dann mit den Besonderheiten spezifischer Orte, Kulturen und Sprachen in Afrika auseinandersetzen muss, um sich voll und ganz auf diesen Korpus an fiktionalen Werken einzulassen. Diese Proklamation nuanciert und konterkariert sogar einige der Grundsätze des Afrofuturismus, einer afroamerikanischen kulturellen Ästhetik, die im zwanzigsten Jahrhundert entstand.

Es mag eigentlich ganz selbstverständlich erscheinen (ist es aber nicht): Afrika steht im Mittelpunkt seiner spekulativen Belletristik. Und der einfache Akt der Zentralisierung des Kontinents hat ein entscheidendes emanzipatorisches Potenzial. „Waking Up in Kampala“ (2016) des malawischen Schriftstellers Wesley Macheso beleuchtet diesen Punkt deutlich. Die Geschichte spielt in Kampala, dem sogenannten Silicon Valley Afrikas, im Zeitalter der Post-Technokalypse im Sommer des Jahres 2515. Während sich die Geschichte mit allerlei futuristischen Lebensformen auseinandersetzt, ist die Darstellung einer technologischen Übernahme, die die westliche Welt zerstört und Afrika zu einem einzigen großen Land vereint hat, die treibende Kraft der Geschichte. Afrika hat die Technokalypse mit Hilfe seiner „reichen natürlichen Ressourcen“ (Macheso) bekämpft; tatsächlich ist es die führende Weltmacht. Hier arbeitet Macheso an der Umkehrung der globalen gesellschaftspolitischen Ordnung von heute, und damit imaginiert die Geschichte eine radikal veränderte Zukunft.

The Transcendence of boundaries

Dieser Artikel erschien zuerst auf englisch bei Africa is a Country. By Joanna Woods. What kinds of radical emancipatory futures are being imagined in Africa’s speculative fictions?

Interessant ist an dieser Stelle auch, dass die spekulative Fiktion zwar den Kontinent als Landmasse, als Ort, als einheitliche Macht in den Mittelpunkt stellt, aber auch die Menschen Afrikas als Kollektiv in die Zukunft projiziert. Natürlich gibt es einige starke Superheld:innengeschichten, die sich auf das Individuum konzentrieren, aber Konzepte wie ubuntu sind in spekulativen Texten im heutigen Afrika lebendig verwoben. Darüber hinaus könnte man auch hinzufügen, dass ein Großteil der spekulativen Fiktion daran arbeitet, die Dichotomie von dem Eigenen und dem Fremden aufzuheben – es scheint sehr wenig Interesse daran zu bestehen, einen weiteren „Anderen“ in Afrikas vorgestellten Zukünften zu produzieren. In diesem Sinne ist die Zukunft inklusiv.

Die obigen Punkte tragen zu der Idee bei, dass spekulative Fiktion in Afrika in dominante Gegenwarts-Zukunfts-Narrative, die so oft vom Westen vorgeschrieben werden, eingreift und diese stört. Über die Zentralisierung Afrikas hinaus entwirren die Autor:innen des Genres also auch effektiv den Faden der Logik, der die Fortschrittserzählungen aufrecht erhält. Dies wird größtenteils durch die Unterbrechung der Linearität erreicht. Nehmen wir das Werk „Njuzu“ des simbabwischen Autors Tendai Huchu als Beispiel: Huchus Geschichte spielt auf Ceres – dem landwirtschaftlichen Zentrum des Hauptasteroidengürtels -, aber sie bezieht auch den Shona-Wassermann ein, der in Seen und Flüssen leben soll. Hier werden verschiedene Erwartungen irritiert. Zum einen bricht die Geschichte sofort mit der linearen Zeitlichkeit, indem sie ein traditionelles Fabelwesen in eine futuristische Erzählung integriert, die auf einem Planeten im Weltraum spielt.

Neben der Existenz von Njuzu in der Zukunft ist auch die Verschmelzung von Spiritualität und Technologie in der Kurzgeschichte zentral. In einer Szene versammeln sich die Charaktere zu einer Zeremonie um Bimhas Teich, gesellen sich zu Trommlern und johlenden Frauen vor einem Hologramm von „Nyati, dem Büffel, dem Totem ihres Clans“. An diesem einfachen Ausschnitts sehen wir, dass Hologramm und Totem – Spiritualität und Digitalität, vergangene, gegenwärtige und zukünftige Zeitlichkeiten – miteinander verknüpft sind. Nyati – eine traditionelle heilige Figur – ist hier technologisch fortgeschritten und digital verbunden. Das hinterlässt bei den Leser:innen den starken Eindruck, dass Indigenität keineswegs ein Gegensatz zu Technologie oder Moderne ist. Letztlich verbindet Huchu scheinbar Unvereinbares zu einer radikal anderen, emanzipierten Zukunftswelt.

Nicht nur mythische Kreaturen sind in spekulativer Fiktion in Afrika von Bedeutung, sondern auch die Darstellung der Interaktion zwischen Mensch und Natur ist eine weitere interessante Art und Weise, in der sich Schriftsteller:innen eine radikal befreite Zukunft vorstellen. Man denke nur an die zahlreichen Werke der nigerianisch-amerikanischen Autorin Nnedi Okorafor. Allein in Lagoon (2014) finden wir verschiedene Meeresbewohner:innen, eine Fledermaus und eine Spinne. Über die bloße Darstellung hinaus besitzt jede dieser Kreaturen in Lagoon eine Ich-Erzählung. In ähnlicher Weise erzählen in Namwali Serpells The Old Drift (2019) Moskitos ihre Geschichte. Eine Libelle steht im Mittelpunkt von Wole Talabis Kurzgeschichte Incompleteness Theories (2019). Lauren Beukes‘ Zoo City (2010) integriert verschiedene Tiere in die dystopische Landschaft von Johannesburg. Ein weiteres Beispiel ist die Kurzgeschichte A Butcher Fantasy von Stacy Hardy, die fragt: Wie wäre es, wenn ein Mensch in einer Kuh gefangen wäre? Was wäre, wenn die Rollen von Mensch und Tier vertauscht wären? Sich auf diese Weise mit Multispezies zu beschäftigen, indem man versucht, die Erfahrungen verschiedener Tiere zu verstehen und den Kreaturen in den Erzählungen eine Stimme zu geben, ist ein wesentlicher Schritt zur Anerkennung der nicht-menschlichen Handlungsfähigkeit auf der Erde; ein bedeutender Schritt in unserer heutigen Zeit hin zu einer nachhaltigeren Zukunft.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die imaginierte Zukunft in den spekulativen Fiktionen Afrikas nicht restriktiv ist. Im Gegenteil, sie ist offen, vielfältig, nicht-linear und letztlich auf die Überwindung von Grenzen ausgerichtet.

Abschließend sei gesagt, dass sich die obige Einschätzung vom Inhalt der spekulativen Fiktionen auf die Form überträgt. Nicht nur ist „spekulative Fiktion“ eine weit gefasste Kategorie, auch die Form, in der viele Autoren spekulativer Fiktion ihre Werke heute veröffentlichen, trägt zu ihrem emanzipatorischen Potenzial bei. Indem sie einige der Grenzen überschreiten, die von einer Verlagsindustrie auferlegt werden, die weitgehend eine Gatekeeping-Rolle ausübt, indem sie in der Kurzform schreiben und zu einem großen Teil im digitalen Raum erscheinen, scheint der spekulative Text nicht so sehr durch einige traditionellere Verlagsstrukturen eingeschränkt zu sein. Dies trägt wesentlich dazu bei, die Erzählung der Zukunft auf interessante Weise zu diversifizieren, ja sogar zu emanzipieren.

Teile dieses Artikels basieren auf einem Beitrag von Woods in der Zeitschrift Scrutiny 2: Issues in English Studies in Southern Africa. Erlaubnis unter der Creative Commons License von Africa is a country.

Joanna Woods arbeitet derzeit an zeitgenössischer spekulativer Belletristik des südlichen Afrikas. Sie ist Doktorandin der Anglistik an der Universität Stockholm.

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Süsswasser

Süßwasser
Über die Metaphysik von Identität und Sein

Als sie (unser Körper) sich in die Welt hinaus gekämpft hatte, glitschig und lauter als ein Dorf aus Stürmen, blieben die Tore offen. Wir hätten inzwischen in ihr verankert sein müssen, schlafend in ihren Membranen, mit ihrem Bewusstsein verbunden. Das wäre der sicherste Weg gewesen. Aber weil die Tore offen standen und nicht verschlossen waren gegen die Erinnerung, waren wir verwirrt. Wir waren beides gleichzeitig, alt und neugeboren. Wir waren sie, und doch nicht. Wir waren nicht bei Bewusstsein, aber wir waren am Leben – genau genommen bestand das Hauptproblem darin, dass wir ein deutlich unterscheidbares WIR waren, statt ganz und ausschließlich SIE zu sein.

Sie – das ist Ada. Ada wächst im Süden Nigerias aus und bereitet schon als Kind ihrer Familie Sorgen mit ihrer Unruhe, mit Wutausbrüchen und depressiven Phasen. Doch es soll sich herausstellen, dass sie nicht einfach nur launisch ist. Im College in den USA löst eine traumatische Erfahrung die Ausprägung multipler Persönlichkeiten in ihrem Kopf aus. Von nun an leben und sprechen in ihrem Inneren die Brüderschwestern, St. Vincent und Asughara. Ada gerät in den Hintergrund ihres eigenen Verstandes, während die anderen, mal maliziös, mal fromm, männlich und weiblich, hedonistisch, auto-aggressiv oder beschützerisch, die Kontrolle über ihr Leben übernehmen.

Doch der Roman verharrt keineswegs in dem altbekannten Narrativ der „verrückten Frau“, es geht auch nicht um die pathologische Ausschlachtung der Persönlichkeitsstörung.
Ada geht schließlich nicht an den Stimmen in ihrem Kopf zugrunde, sondern für sie sind sie auch Inspiration und Kraft. Emezi erforscht das singuläre Kollektiv oder das plurale Individuum in Adas Kopf mit Mitteln der Igbo-Kultur und bringt das Konzept des Ogbanje ins Spiel – Ada ist geboren „mit einem Fuß auf der anderen Seite“.

"Ogbanje" zu sein bedeutet jedoch, als "anders" kategorisiert zu werden und Alterität auf eine Art und Weise nach Hause zu bringen, die über das gewöhnliche, zweigeteilte "Anderssein" des Geschlechts hinausgeht. Wir könnten sogar spekulieren, dass Ogbanje-Kinder unter eine dritte Kategorie von Geschlecht fallen, die des menschlich aussehenden Geistes. Dieses Geschlecht ist von Geburt an markiert - wie der männliche und weibliche Status - durch besondere Verhaltensweisen gegenüber dem Kind und seine körperliche Ausschmückung. Die sexuelle Erscheinung des Ogbanje kann in der Tat als eine Täuschung angesehen werden - ein weiteres Versprechen, das der Ogbanje in seiner Weigerung, nach menschlichen Normen zu handeln, wahrscheinlich bricht."

Adas verschiedene Persönlichkeiten, die Emezi mit distinkten Stimmen zum Leben erweckt, geben dem Buch Tiefe und Komplexität, die es in Kombination mit Emezis anmutiger Sprache und wilder Kraft zu einem äußerst intensiven und herzzerreißenden Leseerlebnis werden lassen.

Mit Süsswasser hat Akwaeki Emezi einen extrem kraftvollen und anrührenden, aber auch anspruchsvollen Debütroman geliefert, der Fragen von Identität und Sein auf erfrischende Weise erforscht.

© Akwaeke Emezi

Akwaeke Emezi ist Igbo- und tamilische Schriftsteller_in und Künstler_in. Geboren und aufgewachsen in Nigeria, erhielt Emezi einen MPA von der New York University und wurde 2015 mit einem Miles Morland Writing Scholarship ausgezeichnet. 2017 gewann Emezi den Commonwealth Short Story Prize für Afrika. Emezis Arbeiten wurden in verschiedenen Literaturmagazinen veröffentlicht, darunter Granta.

The Cut

Transition My surgeries were a bridge across realities, a spirit customizing its vessel to reflect its nature. By Akwaeke Emezi The robot was called a da Vinci. It was delicate, precise, inserted through my navel to slice my uterus and fallopian tubes into small unimportant pieces, which were then suctioned out of my body.

Wenn man die Idee eines essenziellen Selbst loslässt, sie nackt in die Brandung wirft und vom Meer forttragen lässt, dann verändert sich alles. Ohne sie nehmen Masken eine neue Dimension von Möglichkeiten an. Sie können verbergen, ja, aber wie der Zauberer sagt, können sie auch verdeutlichen, was wahr ist, genau so, wie eine Geschichte dir etwas besser erzählen kann, als es nackte Fakten jemals könnten. Sie können dich zusammenhalten wie eine straffe Zellophanbinde über gebogenem Metall, wie ein Blick über zwei Körper, ein gestärkter, in Gold gewickelter Knoten. Sie können Schmuck sein, Kleider als Kostüme, die den Körper verdecken, hell genug, um die Blicke darauf zu lenken.

Süsswasser ist im Eichborn Verlag erschienen.

Dazed Magazine: A visual and literary journey through Nigeria. Text by Akwaeke Emezi

Instagram: azemezi

Website: akwaeke.com

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