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Wie ein Leipziger Afrikanist vier Schatzkisten entdeckte

Wie ein Leipziger Afrikanist vier Schatzkisten entdeckte
von Birgit Pfeiffer

Für Forschende, die vor allem Geschichts- und Kulturforschung betreiben, ist das, was Afrikanistik-Wissenschaftler Dr. Ari Awagana im heutigen Niger wiederfahren ist, ein Traum: Zufällig entdeckte er vier Kisten voller zeitgeschichtlicher Schriftenrollen, die für einige Völker in Zentralafrika von großer Wichtigkeit sind und viel über ihre eigene Geschichte, Sprache und Kultur aussagen. Der Raum, in dem die Kisten lagerten, war seit 1922 verschlossen. Für die Kulturgeschichte Zentralafrikas sind die entdeckten Dokumente eine Sensation. Und, auch das ist erwähnenswert, die Dokumente überstanden zum Großteil unbeschadet die Zeit des Kolonialismus. Nun wurde für diese Schriften vor Ort eine kleine Bibliothek errichtet – mit Hilfe der Universität Leipzig.

Verschollene Dokumente in Zinder (Niger) aufgetaucht: Dr. Elhadji Ari Awagana entdeckt vier Schatzkisten in einem seit 1922 verschlossenen Raum. Video: Dr. Elhadji Ari Awagana

Auf dem mit dem Handy gefilmten Video hört man das Staunen und die Spannung der Anwesenden, als in einem abgedunkelten Raum in einem Haus im Niger alte verstaubte Kisten vorsichtig geöffnet werden. Jahrhunderte alte Papiere kommen ans Licht. Es ist das Haus des obersten Richters Mahamadou Aboubacar Chetima in der Altstadt von Zinder im Niger, im Jahr 2018. Dr. Ari Awagana vom Institut für Afrikastudien an der Universität Leipzig wusste sofort, dass es sich um einen großen Fund handelte. Der Sprachwissenschaftler kommt ursprünglich selbst aus dem Niger. Seit 2000 lehrt er die in Westafrika verbreitete Verkehrssprache Hausa, spricht aber zudem unter anderem Kanuri, Zarma, Buduma und Fulfulde. Er erforscht historische Belege afrikanischer Schriftsprachen, die Aufschluss geben können über die Geschichte Zentralsudans.

Einblicke in den Alltag der Menschen vor 120 Jahren

„Es waren vier Kisten mit Koranmanuskripten, weiteren religiösen Texten, Akten, Klagen, Urteilen, Briefen sowie okkulten Texten“, erinnert er sich. „Der Staub war Zentimeter dick. Seit 1922 war der Raum nicht mehr geöffnet worden.“ Das war der Zeitpunkt, als der frühere Besitzer der Dokumente starb: Mamadou Chetima, der Großvater des Hausherrn. Er war ebenfalls oberster Richter gewesen, des Sultans von Damagaram, der von 1899 bis 1906 regierte.

„Die Aufgabe eines Richters war und ist es, Urteile nach dem islamischen Gesetz zu treffen, zum Beispiel in familiären Angelegenheiten, Erbschaftsfragen, Streitigkeiten zwischen Nachbarn und dergleichen“, erklärt Ari Awagana. „Dabei konnte und kann er themenspezifisch Berater zurate ziehen. Nur bei größeren Belangen ging man früher bis zum König, heute zu staatlichen Gerichten, beispielsweise wenn es um einen Mord geht.“ Die historischen Akten geben daher bedeutsame Einblicke in das Alltagsleben in der damaligen Gesellschaft.

Der Richter Chetima hatte nicht nur Papiere aus seiner eigenen Arbeit verwahrt, sondern hatte noch viel ältere Schriften besessen – für die Forschenden ein wahrer Schatz, der in den kommenden Jahren gesichtet, konserviert, digitalisiert und erforscht werden wird. Dies ist nicht nur für den Leipziger Wissenschaftler relevant, sondern auch für die Historikerin Camille Lefebvre vom Pariser Nationalzentrum für wissenschaftliche Forschung, die ebenfalls anwesend war, als die Kisten geöffnet wurden. Beide arbeiten im Projekt „Sprache als Archiv“, das von der Europäischen Union gefördert wird. Dieses widmet sich historischen schriftlichen Quellen im Zentralsudan. 

Vorkoloniale Geschichte der Region verstehen

„Anhand der Wasserzeichen auf einem der Papiere konnte ich sehen, dass dieses italienischer Herkunft war – etwa aus dem 16. oder 17. Jahrhundert“, so Awagana. „Dieser großartige Fund hilft uns, die vorkoloniale Geschichte der Region zu verstehen“, sagt er. „Er ist eine Art Zeitkapsel.“

Solche Zeitkapseln sind sehr selten, denn viele solcher Manuskripte wurden im Laufe der Jahrhunderte zerstört, geplündert oder außer Land gebracht: sei es durch islamische Kräfte, die Teile der afrikanischen Tradition von den noch prä-islamischen heidnischen Anteilen „säubern“ wollten – oder durch koloniale Plünderung, als Frankreich Kolonialmacht war. Diese Ära ging auch nicht am Haus des obersten Richters spurlos vorbei. „Chetima erzählte uns, dass sein Großvater im Jahr 1908 nach der Abschaffung des Sultanats durch Kolonial-Frankreich an die Elfenbeinküste deportiert wurde“, so Awagana. „Seine Dokumente nahm er mit ins Exil und brachte sie später wieder zurück mit nach Hause. Nur deshalb sind sie überhaupt noch vorhanden.“ Hierfür sind ihm die Forschenden heute dankbar. 

Koran Übersetzung zwischen den Zeilen

Die Schriften sind in Arabisch verfasst, in der Sprache Kanuri sowie dessen früherer Form Old Kanembu. Letztere gilt als untergegangen. Sie war die Gelehrtensprache des alten Königreichs Kanem-Bornu, das sich ab dem 9. Jahrhundert etwa 1.000 Jahre lang über große Gebiete Zentralafrikas erstreckte und in welcher sich Intellektuelle in Nordafrika, Arabien und Westafrika austauschten. Entsprechend wichtig sind entsprechende Funde für die Geschichtsschreibung der Region. Sie belegen auch, dass die Behauptung, afrikanische Sprachen seien hauptsächlich mündlich tradiert worden, nicht wahr ist. Eine entscheidende Textsorte, die sich auch im Hause Chetima fand, bilden sogenannte interlinearisierte Koranmanuskripte. „Das sind Koranmanuskripte, deren Haupttext auf Arabisch verfasst ist“, erläutert Dr. Awagana. „Zwischen den Zeilen haben afrikanische Gelehrte ihre Übersetzungen in Old Kanembu hineingeschrieben, die sie dann auswendig gelernt haben. Diese sehen zwar ebenfalls arabisch aus, funktionieren aber völlig anders. Sie sind etwa so unterschiedlich wie Kisuaheli und Deutsch. Man hat nur dasselbe Schriftsystem verwendet,“ so der Sprachwissenschaftler. Arabische Gelehrte nannten diese Sprachen bereits im Mittelalter „Ajami“ – „Fremde“, weil sie sie nicht verstanden. „Spätestens seit den Entdeckungen des Briten Adrian David Hugh Bivar in den 1950er Jahren können interlinearisierte Koranmanuskripte als früheste Beweise für eine Verwendung von indigenen Schriftsprachen in Subsahara-Afrika angesehen werden“, erläutert der Leipziger Linguist.

Durch die Forschung an solchen Manuskripten sind Ari Awagana und Camille Lefebvre auch überhaupt an den Fund in Zinder gekommen: „Wir suchten Kontakt zu Würdenträgern hier in der Region. Dabei war ich speziell auf der Suche nach solchen Manuskripten“, erläutert der Leipziger Wissenschaftler. Zunächst zeigte Richter Chetima ihnen einige Bücher des Großvaters. „Nachdem ich ihm erklärt hatte, dass es sich bei der Sprache um Old Kanembu handelte – der Sprache ihrer Vorfahren – eröffnete er uns, dass es diesen Raum gab. Er selbst wollte auch mehr über die Dokumente wissen und so kamen wir den nächsten Tag wieder und machten diese wunderbare Entdeckung.“

Kleine Bibliothek wird errichtet - mit Hilfe der Universität Leipzig

Für die Dokumente in Zinder war es höchste Zeit, wieder ans Tageslicht zu kommen. Dank des trockenen Klimas sind zwei Drittel der Schriftzeugnisse zwar noch gut erhalten; ein Drittel ist jedoch ernsthaft angegriffen von Termitenfraß, Rückständen nistender Enten und Schimmel. „Es war dringender Handlungsbedarf“, erkannte Awagana sofort. Der Inhalt der Kisten ist inzwischen gesichtet und sachgerecht untergebracht – in einer kleinen Bibliothek direkt am Fundort der Familie Chetima in Zinder. Das Dezernat für Forschungs- und Transferservice der Universität Leipzig stellte hierzu beim Arbeitsstab Kulturerhalt des Auswärtigen Amts einen Förderantrag, der rasch bewilligt wurde. Eigentlich sollte schon 2019 der Bau beginnen, aber wegen Corona verschob sich dies bis Ende 2021. Im März 2022 konnte die Bibliothek eingeweiht werden. Richter Mahamadou Aboubacar Chetima konnte dies indes leider nicht mehr erleben. Er war inzwischen gestorben.

Historisches Erbe vor Ort bewahren und für Zukunft erschließen

Das Archiv des Chetima wird nun übersetzt und wissenschaftlich erschlossen. „Ein weiteres Ziel ist es auch, jüngere islamische Gelehrte der Familie in den Techniken der Konservation und des modernen Archivwesens zu schulen, um das geschichtliche Erbe zu bewahren“, erläutert Dr. Ari Awagana. Ob dies einfacher sein wird als früher, kann man nur schlecht abschätzen.

„Derzeit erlebt der fundamentale Islamismus in der Region Aufwind. Das betrachten wir mit Sorge. Einige Gruppen, die die ‚reine Lehre‘ verfechten und auch mit Gewalt durchzusetzen versuchen, sind nicht weit weg. Aber es ist auch wichtig, unser Erbe zu erhalten.“

Dr. Ari Awagana hofft, dass sich auch in Zukunft Türen für ihn öffnen werden, die im Hinterhof ein unscheinbares Tor in die Vergangenheit Zentral-Afrikas bereithalten.

Birgit Pfeiffer ist freie Journalistin und Redakteurin in Leipzig. Ihre Webseite Textbüro Pfeiffer ist hier zu finden.

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Literatur Verschiedenes

Yewande Omotoso wird akono Autorin

Yewande Omotoso wird akono Autorin!

Der akono Verlag freut sich, Yewande Omotoso als Autorin zu begrüßen und die bevorstehende Übersetzung von "An Unusual Grief" und "Bom Boy" anzukündigen.

akono Verlegerin Jona Krützfeld freut sich riesig, Omotoso im Verlag willkommen heißen zu können: „Seit ich ihren ersten Roman Die Frau nebenan gelesen habe, bin ich ein Omotoso Fan. So glaubhafte, facettenreiche und schratige Charaktere zu zeichnen und so klug und humorvoll die Abgründe menschlicher Beziehungen zu erkunden, gelingt nur sehr begabten Schriftsteller*innen.“ Auch Omotoso selbst ist „really happy to join the akono family.“

Im Herbst 2023 wird die Übersetzung von „An Unusual Grief“ erscheinen, einer mutigen und mitreißenden Geschichte über den unkonventionellen Umgang einer Frau mit dem Verlust ihrer depressiven Tochter durch Suizid. Mit präziser und wortreicher Prosa erkundet Yewande Omotoso die Beschaffenheit menschlicher Beziehungen und legt dabei Schicht um Schicht die Bruchstellen frei, die zur Entfremdung und Vereinsamung der Mitglieder einer Familie führen. Voll kluger psychologischer Beobachtungen, mit subtilem Humor und sprachlicher Leichtfüßigkeit schafft es Omotoso (wie schon in ihren vorherigen Romanen), facettenreiche, realistische und plastische Charaktere zu zeichnen, deren Fehlerhaftigkeit mit viel Empathie und schriftstellerischer Finesse begegnet wird.

Der Verlag hat die Rechte für alle noch nicht übersetzten Omotoso Werke erworben: 2024 wird der Debütroman Omotosos, Bom Boy, in deutscher Übersetzung erscheinen. Der Roman begleitet Leke, einen problembelasteten Jungen, der in einem Vorort von Kapstadt lebt. Er hat die seltsame Angewohnheit, Menschen zu verfolgen, kleine Gegenstände zu stehlen und auf der Suche nach Gesellschaft von Arzt zu Arzt zu gehen. Durch eine Reihe von Briefen, die ihm sein nigerianischer Vater, den er nie kennengelernt hat, geschrieben hat, erfährt Leke von einem Familienfluch. Bom Boy ist eine fein gesponnene und komplexe Erzählung, die mit einem sensiblen Verständnis für sowohl die Kleinheit als auch die Bedeutung eines einzelnen Lebens geschrieben wurde.

Yewande Omotoso wurde in Barbados geboren, wuchs in Nigeria auf und zog 1992 mit ihrer Familie nach Südafrika. Sie absolvierte eine Ausbildung als Architektin, bevor sie freiberufliche Schriftstellerin wurde. Sie lebt in Johannesburg. Ihr Debütroman Bom Boy kam auf die Shortlist für den südafrikanischen Sunday Times Fiction Prize 2012 und den Etisalat Prize for Literature 2013. Ihr zweiter Roman, The Woman Next Door (auf deutsch als Frau nebenan im Eichborn Verlag erschienen), kam auf die Shortlist für den Sunday Times Fiction Prize 2016, den Bailey’s Women’s Prize for Fiction 2017, den International Dublin Literary Award und den Hurston/Wright Legacy Award for Fiction.

Omtosos Werke erscheinen im Original bei Modjaji Books und Cassava Republic Press.

Die Werke werden vom Übersetzer Thomas Brückner ins Deutsche übersetzt. Seit 1994 ist er in Leipzig als freier Übersetzer tätig und übersetzte zahlreiche Romane afrikanischer Autoren, darunter die Werke von Abdulrazak Gurnah, Ngũgĩ wa Thiong’o, Ivan Vladislavić und Helon Habila.

So geht sächsisch! - Die Dachmarke des Freistaates Sachsen

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Literatur

Wenn nur die Wüste sprechen könnte

Wenn nur die Wüste sprechen könnte
Eine Rezension von Romeo Orioguns Lyrikband NOMAD. Von Samuel Osaze

Ich habe mich immer gefragt, was passiert, wenn die Natur eines Tages alle Geheimnisse enthüllen würde, die sie je anvertraut bekommen hat. Was würde nicht alles bekannt werden über die Unzulänglichkeit des Menschen?

NOMAD, geschrieben von Romeo Oriogun, ist reich an Personifikationen. Der Sahara-Wüste werden menschliche Qualitäten zugeschrieben, da sie sich der Aktivitäten innerhalb ihrer Grenzen bewusst zu sein scheint. Es heißt, die Wüste sei die wahre ‚Historikerin‘ der Menschen. Dem stimme ich zu. Zumindest führt sie genaue Aufzeichnungen über diejenigen, die mit ihr in Berührung kommen. Der Wüstensand „birgt alles, was wir zum Sprechen brauchen“, heißt es in einem der Gedichte.

Es stimmt, wer sonst könnte so genau die Geschichten von Migrant:innen erzählen, die in der Hitze der Sahara Wüste alle Kraft verlieren, bevor sie in der brütenden Hitze den Staub küssen, außer die Sahara Wüste selbst? Das Mittelmeer kennt mit Sicherheit ebenso die Zahl derjenigen, deren Leben geopfert wurde, damit andere Migrant:innen in das Land ihrer Träume gelangen konnten. Diese Vermutung ist nicht abwegig!

Romeo Oriogun

Die Migration ist eines der großen Themen von Nomad, wie der Titel schon andeutet. Ein Nomade ist jemand, der ständig in Bewegung ist. Jemand, der ein Leben auf der Wanderschaft führt. Im Oxford-Wörterbuch (2022) heißt es: „Ein Nomade ist ein Angehöriger eines Volkes, der von Ort zu Ort reist, um frisches Weideland für seine Tiere zu finden und der keinen festen Wohnsitz hat.“

Im Laufe der Jahre sind Nigerianer:innen auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen in anderen Ländern und sogar innerhalb unseres Mutterlandes, zu Landstreichern par excellence geworden. Deswegen sind sie anfällig für alle Formen von Ausbeutung, von Libyen (beliebt für Menschenhandelslager) bis zu Maghreb, der Heimat des Tuareg-Volkes, wo die letzte Etappe auf dem Weg nach Europa beginnt. Orioguns Reisegedichte sprechen jeden vertriebenen Nigerianer an. Unaufhörlich begeben sich junge Nigerianier:innen auf den Weg zum Beispiel von benin City nach Italien, wahrscheinlich auch, während du das hier liest.

Das Gedicht mit dem Titel „Someday the Desert will Sing“ (91) legt die Gebeine der Geflohenen offen. Vor der Wüste seien Hirte und Herde gleich, sie sei Archivar der Völker von alters her, behauptet das Gedicht. Es wurde nach Tade Ipadeolas „Sahara Testament“ geschrieben, einer Gedichtsammlung, die 2013 mit dem nigerianischen Literaturpreis ausgezeichnet wurde, und die die die Unermesslichkeit und Weite der Sahara-Wüste als Metonymie erforscht. Die ersten paar Zeilen von „Someday the Desert will Sing“ lauten:

On the day of equinox, the camels walk slowly,

neither responding to the voice of their herders

or to the dunes slowly shifting through an endless arena

of sand. In the Sahara where water is an old tale

 and the herders and the animals are one, united in life

as well as in an ongoing battle toward death,

there is a beginning in every grain of sand,

there is an origin in the night wind and the caves with their many moments of history

hold all that we need to speak from…

Ein anderes Gedicht in der Sammlung, „A Train Stop in the Sahara“ (93), beschreibt einen staunenden Reisenden, der die Weite und Leere der Wüste bewundert.

Who would have thought that man’s hunger

 for movement would lead him here? Perhaps

the ancient ones knew, they saw the journey,

the endless desire for conquest; Alexander’s

sword coming down on history’s knot.

Die letzte Strophe des Gedichts bringt mehr Licht ins Dunkeln:

I, nomad, who walked through cities,

soundless like a bone thrown into a pit/

I have no language for belong…

Bei der Behandlung der Themen Migration und Wanderschaft malt Oriogun gekonnt pittoreske Szenen, wie verrückt sie auch sein mögen, von den harten Realitäten auf einer Reise in die westliche Welt. Auf dem Weg dorthin gibt es viele Hürden zu überwinden. Die Sahara Wüste und das Mittelmeer sind beide zur ewigen Ruhestätte für viele geworden. Die Wanderschaft ist nicht neu. Die Umstände von Romeo Orioguns Flucht aus Nigeria im Jahr 2016 waren sehr unerfreulich. Man könnte meinen, dass der Dichter alle Spuren davon hinter sich lassen will. Doch nach weniger als einem Jahrzehnt im Exil in einem anderen Land, scheint Oriogun immer noch von Nigeria besessen zu sein, oder von Afrika besser gesagt. Er bleibt ein afrikanischer Dichter und nutzt sein Werk, um den gesellschaftlichen Kontext, der ihn zur Ausreise bewegt hatte, zu beleuchten. Es handelt sich um die Art von Migrant:innenliteratur, die aus dem Exil heraus die gesellschaftlichen Entwicklungen des Heimatlandes kommentiert, damit daraus ein besseres Land werde. Diese Anliegen sind Themen in NOMAD, der jüngsten Sammlung des Dichters, welches auf der 3-man Shortlist mit dem Nigeria Prize for Literature 2022 ausgezeichnet wurde.

NOMAD

NOMAD ist ein Sammelsurium von Themen. Zum Teil ist es die Summe der Erfahrungen und Erinnerungen des Dichters und die Art und Weise, wie sich dieser soziale Hintergrund mit der neuen Welt vermischt. Von Wanderschaft, Tod, Desillusionierung von Jugendlichen, deren Heimat die größte Bedrohung für ihre Lebensziele ist, und schließlich von der Unvermeidlichkeit des Zusammenstoßes zweier Kulturen in der neuen Heimat.

„Migrant at the Sahara“ nimmt die Lesenden an den Anfang der Reise mit, zu den Vorbereitungen des schwierigen Weges. In diesem Fall gibt der Dichter, nachdem er vom Geruch des Todes in der Sahara und andere blutige Details auf dem Weg nach Europa erfährt, seinen Traum von der Durchquerung der furchtbaren Wüste und ihrer endlosen Dünen auf. Kurz davor allerdings macht das erste Gedicht “ The Beginning“ (S. 1) deutlich, dass ein Mensch, wenn er vertrieben wird, die Last des Neuanfangs nicht alleine tragen muss.

Das Titelgedicht NOMAD (S. 99) scheint der Höhepunkt der transitorischen Phasen zu sein. Darin spricht ein „erfolgreicher“ Migrant, der es sich irgendwo in Brooklyn gemütlich gemacht hat und über seine Vergangenheit nachdenkt. Die erste Strophe des Gedichtes ist der Erguss eines dankbaren Herzens. Sie lautet: In Brooklyn, we drink to a toast/ in Samar’s asylum, wondering how to quiet/the countries speaking in our mouths. Das endgültige Ziel ist erreicht. Das Asyl wird gewährt. Mit relativem Komfort können die Migranten nur lobend zurückblicken.

Der Dichter scheint eine gute Erinnerung an Benin City zu haben. In vielerlei Hinsicht ist das Lebensgefühl der Stadt in einer Handvoll Gedichte spürbar. Wo es um koloniale Invasion und den Identitätsdiebstahl geht, werden Relikte der Kolonialgeschichte in der alten Stadt hervorgeholt, um diese Botschaft zu vermitteln. Zum Beispiel spricht das Gedicht „Waiting for Rain“ (Seite 23) von den gemeißelten Bildern der Edo-Krieger, die dem kolonialen Schießpulver erlagen, als 1897 die Schatzkammer der Stadt geplündert wurde.

Obwohl er in dem Gedicht, das den Edo-Märtyrern gewidmet ist, nicht ausdrücklich erwähnt wird, kommt einem der Name eines Kriegers, der unter den tapferen Frauen und Männern hervorsticht, sofort in den Sinn. Es ist Asoro n’Iyokuo – ein Soldat von außergewöhnlicher Größe und mit militärischem Einfallsreichtum, von dem gesagt wird, dass er eine Gruppe von Soldaten in einen Hinterhalt gegen die britischen Invasoren führte. Seine Statue, die auf dem Oba Ovonramwen Square in Benin City steht, zeigt, wie er zahlreiche Soldaten des Empire in die Flucht schlug, bevor er schließlich seinen Wunden erlag.

Orioguns Gedichte erinnern an Christopher Okigbo und Gabriel Okara, wenn es um den Kampf der Kulturen beziehungsweise die Verehrung der Wassergöttin des Reichtums und der Fruchtbarkeit (Olokun) geht. Was Oriogun jedoch vielleicht von diesen Vorfahren unterscheidet, ist der Mangel an Musikalität in seinem gut geschliffenen und schwer beladenen dichterischen Arsenal. Ich vermute, dass es das ist, was der Poesie beim Lesen und Rezitieren mehr Farbe verleiht.

Irgendwann im Laufe der Lektüre von NOMAD fühlte ich mich auch einmal verloren angesichts der eigentümlichen Banalität der Prosa, die mich belächelte. Dennoch, was Oriogun an rhythmischem Fluss fehlt, macht er durch seinen erfrischenden Stil reichlich wett: eine einfache, aber tiefgründige Diktion, umhüllt von reichhaltigen literarischen Mitteln. So widersprüchlich das erscheinen mag, so glaube ich doch, dass es genau das ist, was Orioguns Poesie zu der die Art von Anerkennung, die sie heute unter Kritiker:innen genießt, verleitet und warum er als neue „prägende Stimme der afrikanischen Poesie“ bezeichnet wird.

Es ist nicht auszuschließen, dass der Dichter angesichts der Umstände seiner Flucht aus Nigeria aus einer persönlichen Erfahrung heraus geschrieben haben könnte. Nach einem äußerst barbarischen Akt – der Dichter hatte während eines offiziellen Dienstes in Akure beobachtet, wie ein Mob einen anderen Homosexuellen lynchte. Aus Angst, dass ihm ein solches Schicksal widerfahren könnte, brauchte Oriogun keinen Kristallgucker, um ihn zum Verlassen des Tatorts und der Stadt zu bewegen.

Heute schreibt er aus den Vereinigten Staaten von Amerika. Trotzdem könnte dieser Bericht  aber genauso gut in der Phantasie oder durch gründliches Nachforschen zum Leben erweckt werden. Aus welchem Pool die Muse des Autors auch immer geschöpft hat, die Schilderungen sind lebendig gemalt. Dank des Engagements des Dichters für Figuren und einer gelungenen Sprache.

Samuel Osaze ist der Autor von „Der falsche Mond von Yenagoa“ (Gedichte). Übersetzt wurde es aus dem Englischen von Andrea Jeska.

Genre: Lyrik

Autor/in: Romeo Oriogun

Verlag: Griots Lounge Verlag Nigeria (2021)

Anzahl der Seiten: 116

Samuel Osaze ist der Autor von „Der falsche Mond von Yenagoa“ (Gedichte).

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Phases and Faces

Phases and Faces
von Sabo Kpade

Die Künstlerin Adulphina Imuede im Gespräch mit Sabo Kpade.

Als ausgebildete Malerin ist Imuede eine vielseitige Künstlerin, die mit Öl, Aquarell- und Acrylfarben gleichermaßen gekonnt arbeitet. Zum einen glaubt sie an die erlösende Kraft der Kunst und beschreibt ihren Prozess als therapeutisch. Sie ist eine leidenschaftliche Zeichnerin, die es genießt, die Spannungen und Freuden verschiedenen Formen der Malerei zu erforschen.

Geboren wurde sie in Auchi, Nigeria. Ihre Familie zog während ihrer Kindheit nach Lagos, da ihr Vater in den nigerianischen Staatsdienst musste. Sie wuchs in einer disziplinierten Militärfamilie auf. Dort entwickelte sie ihr Interesse am Zeichnen, da sie schon in jungen Jahren ein Ventil für unausgesprochene Gefühle und Sehnsüchte brauchte.

Nach Abschluss ihres Studiums der Malerei an der Universität von Lagos im Jahr 2016 schloss sie sich der 2018er Kohorte der Plattform „For Creative Girls“ an und arbeitete unter der Mentorschaft von Data Oruwari. Unter dieser Zeit erforschte Imuede neue Medien, um ihre Praxis zu entwickeln, um über die Grenzen des verfügbaren Raums hinauszugehen und persönliche Themen in ihre Arbeit einzubinden.

Seitdem haben sich ihre Technik, ihr Selbstbewusstsein, ihre persönliche Stimme und die verschiedenen Ebenen ihrer Identität weiterentwickelt. Sie verwendet Tusche, Aquarell, Gouache, Buntstifte, Acrylfarben und Kreidepastellkreide auf Papier, sowie Acryl auf Leinwand. Adulphina bringt verborgene Elemente der afrikanischen Geschichte ans Licht und verdeutlicht ihr persönliches Lebensgefühl.

Warum der Titel „Phases and Faces“?

Der Titel verdeutlicht, dass das Leben in verschiedenen Phasen abläuft und dass jeder von uns auf seine eigene Weise auf die jeweilige Phase reagiert. Je älter man wird, desto mehr erkennt man, dass man sich gerade in einem Kapitel seines Lebens befindet und dass die Zukunft weitere Kapitel bereithält, wie groß oder klein das Buch auch sein mag. Man blättert Seite für Seite weiter, bis man für das nächste Kapitel bereit ist.

Handelt es sich bei deinen Figuren um übertriebene Selbstporträts, um übertriebene Versionen realer Menschen oder sind es imaginäre Gestalten? 

Manchmal sind es bestimmte Personen, manchmal sind sie selbstreflexiv. Um ehrlich zu sein, hängt es ganz davon ab, woran ich arbeite: ob es etwas Persönliches ist oder etwas, das ich als Figur oder Thema darstellen möchte. 

Die Figuren werden in der Regel mit dem Gesicht nach vorne aufgenommen. Ist das visuell interessanter als Seiten-, Rücken- oder Vogelperspektiven?

Ich zeichne gerne Gesichter und Porträts, daher sind die meisten meiner Arbeiten Porträts, die das Gesicht und die Gesichtszüge einfangen.

Eloise, 2022

In einigen Gemälden wie „Emotions Are Like Colour Threads“ (2022) und „Many Moons“ (2022) haben Sie Texte eingefügt. Was hat dich zu dieser Entscheidung inspiriert?

Ich habe dies bereits in einigen Aquarellen getan, aber bisher noch nicht in größeren Werken. Das Schreiben ist ein Teil meines kreativen Prozesses und etwas, das ich schon immer gern gemacht habe. Ich glaube, dass ich während der Entstehung dieses Werks viel geschrieben habe, weil ich morgens meistens Tagebuch geführt habe und mir an manchen Tagen ein paar Worte eingefallen sind, von denen ich sofort wusste, dass ich sie aufschreiben muss, um sie nicht zu vergessen.

Gibt es einen Wettbewerb zwischen den Bildern und Texten in Bezug darauf, was dem/der Betrachtenden zuerst ins Auge fallen sollte?

Kein Wettbewerb. Die Texte sind ein Teil meines kreativen Prozesses. Manchmal ist es das, was ich gefühlt habe, und das wollte ich in meiner Arbeit teilen, weil ich glaube, dass ich schließlich ein Medium bin.

Blue Flame, 2022

Erstreckt sich dein Interesse an Texten auch auf das Schreiben von Prosa oder Lyrik aus?

Es sind alles meine Originaltexte. Einige stammen aus meinem Tagebuch, andere habe ich auf meinen Skizzenblock gekritzelt, während ich Skizzen machte. Ich schreibe auch ein bisschen Poesie und Prosa. Zurzeit versuche ich, konsequent Tagebuch zu führen, weil es den Fluss meines Schreibens fördert. Es ist, als würde man einen Kanal freilegen.

Was sind die technischen Besonderheiten dieser Gemäldegruppe?

Die Arbeit mit einer Mischung aus verschiedenen Medien. Ich erinnere mich, dass ich bei etwa drei Bildern mit wasserlöslicher Ölfarbe angefangen habe. Ich liebe Ölfarben, aber ich bin nicht geduldig, wenn es um das Trocknen der Farbe geht. Also bin ich auf Acryl umgestiegen, und ich fand es toll, dass ich andere Medien wie Tinte, Pastell, Kohle, Glitzerstaub und Lack sofort mit meinem Acryl verwenden konnte. Im Gegensatz zu Öl musste ich nicht tagelang warten, bis es trocken war. Dabei wurde mir klar, wie sehr ich es genieße, Medien zu mischen und zu experimentieren.

Healing, 2022

Du verwendest achteckige Leinwände in Gemälden wie „Pages“ (2022), „Pages II“ (2022) und „Pages III“ (2022). Ist dies eine Reaktion auf die Zwänge einer traditionellen rechteckigen Leinwand?

Das ist nichts Bedeutendes. Ich fand es einfach lustig und interessant. Ich glaube nicht, dass eine rechteckige Leinwand an sich irgendwelche Zwänge mit sich bringt. Es kommt ganz auf den Künstler:in und das Projekt an, an dem er/sie arbeiten möchte.

Überschreitest du die Grenzen der anerkannten Tradition, wenn du mit Texten und Rahmenformen experimentierst?

Nein, es geht mir nur darum, Kunst zu schaffen und zu erforschen. Im Allgemeinen denke ich, dass es keine Regeln gibt, wenn es um Kreativität geht. Probiere alles aus, wenn du kannst und wenn du willst, nicht weil du musst. Das hängt ganz von dir, deinen Ideen und deinem kreativen Prozess ab.

Many Moons (Pages), 2022

Warum haben nicht mehr Künstlerinnen und Künstler radikale Präsentationsformen für ihre Werke erprobt, als dies auf einer rechteckigen Leinwand möglich ist?

Rechteckige Leinwände sind beliebter und in der Regel leichter zugänglich und einfacher herzustellen als andere Formen, und es ist einfach, eine Komposition in dieser Form entweder im Quer- oder im Hochformat zu erstellen

Du verwendest eine Vielzahl von Motiven, darunter geflügelte Insekten in „A Girl From Mali“ (2022), Geleefische in „Emotions Are Like Colour Threads“ (2022) und spindeldürre Blätter in „House Hunting“ (2022). Was ist die Motivation hinter diesen Ideen?

Es sind Design-Entscheidungen, die auf der Komposition meiner Arbeit basieren. Meine größte Inspiration wird immer die Natur sein, Tiere und Pflanzen. Das hat einfach etwas Friedliches an sich. Als Kind habe ich mit meinem Vater gerne Wildlife-Kanäle gesehen, und ich bin nach wie vor von der Natur fasziniert. Außerdem bin ich ein Befürworter des massenhaften Pflanzens von Bäumen und des verstärkten Gebrauchs von Papiertüten anstelle von Plastiktüten. Ich finde es wichtig, dass das jeder tun sollte.

A Girl From Mali, 2022
A Girl From Mali, 2022

Wolkenmotive spielen in mindestens drei Gemälden eine große Rolle: „Eloise“ (2022), „How to Hold the Sun“ (2022) und „I Close My Eyes to Dream“ (2022). Soll dies eine Art von Verträumtheit darstellen?

Sie suggerieren Ruhe, Gelassenheit und ja, ein träumerisches Gefühl. Als ob der Kopf in den Wolken schwebt.

Warum machst du Kunst?

Jeder Tag, an dem ich etwas schaffe und mit anderen teile, ist ein Triumph. Ich wache jeden Tag auf und weiß, dass ich das tue, was mir am meisten am Herzen liegt. Es muss das sein, wofür ich hier bin, denn es bringt mir so viel Frieden.

Welche Erwartungen hast du an „Phases and Faces“?

Ich bete, dass es denjenigen, die es betrachten, Frieden bringt, und ich hoffe, dass die Texte diejenigen, die ihnen begegnen, inspirieren und motivieren.

Sabo Kpade ist Associate Writer bei Spread The Word und Redakteur bei Okay Africa.

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Literatur

Lyrik der Ratlosigkeit

Lyrik der Ratlosigkeit
Rezension von Jumoke Verissimo

Samuel Osazes Der falsche Mond von Yenagoa vermittelt die nicht enden wollende Unzufriedenheit, Wut und Verbitterung der nigerianischen Jugend über den Zustand des Landes. Osaze gehört zu einer ausgewählten Gruppe von Dichtern wie Akeem Lasisi, Rasaq Malik, Olajide Salawu, Gbenga Adeoba und anderen, die die traditionelle Ästhetik durch die Verwendung von Bildern aus der mündlichen Poesie neu interpretieren. Osazes Poesie scheint hauptsächlich von seinem Esan- und Edo-Erbe beeinflusst zu sein, das ihm als Ausgangspunkt für den Ausdruck seiner Gefühle dient.

Der Gedichtband von Osaze ist eine düstere Anschuldigung gegen die Ablehnung und Vernachlässigung durch frühere Machthaber, die Nigeria in einen Körper verwandeln, dessen Schmerz der späteren Generation gehört. Das einleitende Gedicht der Sammlung, Der Sklaventreiber, begründet die Unzufriedenheit des Dichters, die sich durch das ganze Buch zieht. Der Sklaventreiber ist, wie Osaze beschreibt, „ein Ungeheur, das vom Blut der Lämmer trinkt / und Taubheit vorgibt / für die Fäuste des Hungers / die gegen die Wände des leeren Magens / trommeln…“. Neben anderen lebhaften Bildern fängt Osaze in seiner Dichtung das Gefühl der Desillusionierung und der Hoffnungslosigkeit ein, wenn er die Jugend als „ein weites, reiches Feld, das von Heuschrecken in Ödnis verwandelt wurde“ beschreibt.

Das gesamte Werk des Dichters ist von einem anklagenden Ton geprägt (der in gewissem Sinne das Tempo der Klagen vorgibt, auch, wenn diese von der nigerianischen Jugend unausgesprochen bleiben). In einigen wenigen Fällen wird die Wut des Dichters jedoch durch sein Bewusstsein für die erhaltende Kraft der Kultur gemildert, was zeigt, dass nicht alles korrupt oder entmutigend ist. Die Gedichte Ein Esan-Mädchen tanzen sehen und Nach dem Tanz, beide im vierten Abschnitt des Buches, loben den Rhythmus einer Tänzerin und wie dieser zu einem Mittel wird, mit dem sich der Optimismus dem Geistigen nähert. Im vierten Abschnitt betrachtet der Dichter das Tanzen als einen Weg, um in die spirituelle Welt einzutreten, auf der Suche nach einer persönlichen und möglicherweise auch nationalen Wiedergeburt. Dieser Abschnitt symbolisiert, dass das Einzige, was in diesem Land funktioniert, die Unterhaltung und die Künste sind.

Osaze gelingt es zwar gut, die Not der nigerianischen Gesellschaft und die Verzweiflung ihrer Jugend in seinen Gedichten darzustellen, doch scheint die Sammlung ein wenig zu sehr nach flüssigem Sprachgebrauch zu streben. Vielleicht liegt das daran, dass die mündliche Form, die beim Schreiben verfolgt wird, nicht vollständig erforscht wird. Es ist wichtig zu erwähnen, dass das Konzept und die Prämisse des Buches gut sind, und es gibt einige bemerkenswerte Zeilen, aber die schriftlichen Elemente könnten besser verfeinert werden.

Beginnen wir mit der Verwendung der mündlichen Poesie in seinem Werk. In den meisten nigerianischen Volksgruppen sind die Formen der mündlichen Poesie typischerweise auf präzise Formulierungen angewiesen, die bei der Beschreibung des Themas nicht an Bedeutung verlieren. Das Gedicht „Sklaventreiber“ zum Beispiel könnte von einer sparsameren Wortwahl profitieren, damit der Leser die Qualen der nicht gewürdigten Arbeit im Sinne des Dichters versteht. Mündlich vorgetragene Poesie versucht, mit wenigen Worten viel zu sagen. Die Mundartdichter, die diese Gedichte vortragen, wissen, dass Worte nicht nur wegen des Bildes, das sie offenbaren, Macht haben, sondern auch wegen ihrer Fähigkeit, an die Gefühle zu appellieren, indem sie dem Leser etwas Neues offenbaren, während sie alles andere der Phantasie überlassen. Da Osaze mit seinen Gedichten versucht, die mündliche Form auf das Papier zu übertragen, erwartet der Leser eine Präsentation und Organisation, die eine Aufführung auf dem Papier nachahmt. Dabei geht es nicht unbedingt um das Wiederholen traditioneller Elemente der mündlichen Poesie, sondern um eine originelle Übermittlung des Gedichts an den Leser, bei der seine Worte über ihr Thema hinaus wirken. Das Gedicht Bei meiner Heimkehr reckt die Fäuste in die Luft zum Beispiel hat so viel Potenzial in der Art, wie es beginnt: „Bringt mich zurück woher ich komme“. Doch die darauffolgenden Zeilen „um meinen zornigen Wurzeln / bis in den Mutterschoß zu folgen, wo ich den / ersten Atemzug tat beim Mahl mit/ den Göttern des Tages“ in eine Metapher, die den Leser so verwirrt, dass das Ziel des Gedichts verloren geht.

Nichtsdestotrotz ist Osaze’s Buch ein wertvoller Beitrag zur Lyrikgemeinschaft in Nigeria. Er schließt sich zeitgenössischen nigerianischen Dichtern an und untersucht die allgemeine Erfahrung junger Menschen, die von jahrelanger schlechter Staatsführung betroffen sind, die ihre Vision vom Nigerianischsein sowohl individuell als auch kollektiv ausgelöscht hat. Von Rasaq Maliks Erkundung des Verlusts in seinen vielen Erscheinungsformen, Saddiq Dzukogis Einsatz von Poesie als Meditation für die Trauer, Ndubuisi Aniemekas Klagen über geschrumpfte Träume bis hin zu Romeo Orioguns Untersuchung des Übergangs und der Transformation des Selbst, sowohl innerhalb als auch außerhalb der nigerianischen Grenzen, bleibt der Fokus dieser Dichter, die Ratlosigkeit über den nigerianischen Staat zu zeigen. Innerhalb und außerhalb der nigerianischen Grenzen beherrscht die Verzweiflung über die Vernachlässigung der eingesperrten Bürger des Zorns, wie Osaze sie beschreibt, weiterhin die jüngsten Gedichte. Angesichts der Vorbereitungen auf die Wahlen ist Osazes Lyrik geeignet, den Puls der Nation in dieser Zeit zu hören. Sie beleuchtet die bekannten und unbekannten Lasten, die unverhältnismäßig stark auf den Schultern der größten Bevölkerungsgruppe Nigerias – der Jugend – liegen.

 

Samuel Osaze, Der falsche Mond von Yenagoa. Gedichte englisch/deutsch. Übersetzt von Andrea Jeska. akono Verlag 2021.ISBN 978-3-949554-00-1.125 Seiten. Softcover. Hier im Webshop bestellen

Jumoke Verissimo

Jumoke Verissimo ist die Autorin zweier hochgelobter Gedichtbände und des Romans „A Small Silence.“ Ihr neuestes Buch ist ein Bilderbuch für Kinder, das auch in Yoruba erhältlich ist: Grandma and the Moon’s Hidden Secret.

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Verschiedenes

Die Kunst von Victor Ehikhamenor

The Art of Victor Ehikhamenor
Von Emmanuel Iduma

Die Bilder von Victor Ehikhamenor wirken wie eine Formenwucherung, in der Objekte und Formen verschwimmen und sich wandeln. Es passiert in ihnen zu viel, und das ist das Gebot seiner Kunst – kein Raum bleibt unbesetzt. Diese Bilder und Objekte verkörpern Formen; um eine Inhärenz oder Verankerung in der Arbeit aufzudecken, muss man sich die Operationen der Formen ansehen. Um es deutlich zu sagen: „Formen“ beziehen sich hier auf Figuren, Formen oder Erscheinungen, also die Art und Weise, wie die Dinge erscheinen oder geformt sind.

Die Formen entstehen, weil ein Schöpfer hinter ihnen steht, zumindest in diesem Fall. Einige der Leinwände sind zu bewussten Formen gefaltet und werden zu Ausstellungsobjekten, zu Gegenständen mit Persönlichkeit. Eine Möglichkeit, Ehikhamenors Werk zu betrachten, besteht darin, die Quelle der Immanenz zu suchen, aus der diese Formen entstehen. Mit der Frage im Hinterkopf werden die Formen in den Bildern sichtbar; man sieht eine Schar von Köpfen in „The Whirlwind Dancers of Uwessan“, eine Hand, die in „The Messenger from Yesterday“ nach vorne zeigt, einen verhüllten Kopf in „The Forgotten Memories We Carry“. Bewusstheit ist wohl das erste Gebot der Form. Damit soll nicht behauptet werden, dass jede:r Maler:in im Moment des Malens ein Bild im Kopf hat. Vielmehr kann man in Ehikhamenors Leinwänden, die an den richtigen Stellen gefaltet sind, das bewusste Ergebnis des Malprozesses sehen.

Flusser zufolge ist es unmöglich, Gestalter und Schöpfer der Welt zu sein und sich ihr gleichzeitig zu unterwerfen. Die Absicht, die man in Betracht ziehen sollte, ist eine, die die Autorschaft des Malers bekräftigt. Jedes Bild ist eine Welt, die bestimmten malerischen Tugenden und Pflichten unterliegt. Wenn man an die Bausteine dieser Welt, dieser Bilder, denkt, dann sind es die Formen, die als gefaltete Leinwände und mythische Figuren, die auf anderen mythischen Figuren liegen, entstehen. Nehmen Sie „Struggle for Big Afro Mama“ als Beispiel, wo Figuren in Figuren leben, eine Landschaft aus Formen.

Wenn man über das Werk von Victor Ehikhamenor nachdenkt, kehrt man zu seiner Kunstfertigkeit zurück. Ein Kunsthandwerker ist ein Handwerker, jemand, der etwas herstellt; und die Idee von Design und Präzision ist zentral für seine Praxis („er“, weil der Maler hier natürlich ein Mann ist). Auf den ersten Blick könnte man die Exaktheit seiner Linien und Kurven auf die Verwendung von Kohle zurückführen, da sie kleinste Details präzise sichtbar machen kann – siehe „Ein Mann des Volkes“. Aber wenn man tiefer in die Bedeutung seines künstlerischen Schaffens eintaucht, findet man eine sorgfältige Inszenierung, eine sich zuspitzende Erzählung. Diese Kunstfertigkeit zielt nicht darauf ab, Formen oder Objekte um des Nutzens willen zu schaffen, wie es ein Tischler oder Mechaniker tun würde. Die Linien wurden so gewählt, dass sie an angenehm verlaufen – man muss sich diesen Handwerker so vorstellen, wie man sich einen Meisterarchitekten vorstellt. Der Architekt strebt nach einer Kombination aus Ästhetik und Perfektion; „Architektur ist gefrorene Musik“, soll Goethe gesagt haben. In der Zeichnung des Kunsthandwerker-Architekten finden Sie keine einzige verirrte Linie, Kurve oder Figur. Jeder bedeckte Zentimeter wird zu einer perfekten Linie, und wenn man sie betrachtet, fühlt man sich an einen Ton aus einem erhabenen Lied erinnert, der einem nicht mehr aus dem Kopf geht.

Kunstfertigkeit impliziert Genauigkeit, und diese wiederum impliziert Klarheit. Als sichtbare Objekte sind die Formen in diesen Bildern klar genug. Und doch erheben sie zusätzliche Ansprüche. Aus dieser Exaktheit erwachsen andere mögliche Klarheiten. Unabhängig von der Freude, die man beim Betrachten empfindet, weisen die Linien auf eine Bedeutung innerhalb der Bilder hin. „Not The First Time You Are Telling Me This Story“ ist ein Beispiel dafür. Die Bedeutung würde nicht auf eine bestimmte Idee hindeuten, sondern auf die Möglichkeit der Reflexion. Denn Reflexion ist kein logischer Akt oder Prozess – in „Not The First Time You Are Telling Me This Story“, wo Figuren über Figuren geschichtet werden, folgt sie allenfalls der Logik eines Labyrinths. Reflexion ist die Bedingung, die die Koexistenz von Ideen, Geschichte, Erzählungen und Persönlichkeiten ermöglicht.

“Tell Me What I Won’t Forget" © Victor Ehikhamenor

Africa is a Country

Dieser Artikel erschien im Original auf englisch unter dem Titel „The Art of Victor Ehikhamenor“ bei Africa is a Country.

In gewisser Weise stört die Verwendung von Farbe in der Serie „This Is Not a War Story“ die Kohärenz der anderen Serien in dieser Ausstellung. Nichts zuvor hat Sie auf die Farbe vorbereitet, die sich auf dem Papier ausbreitet, als ob es sich um das Vergießen von Blut oder die Annexion von Territorium oder die Verfärbung von Landschaft handelt. In den früheren Bildern wird die Farbe verwendet, um das Wesentliche zu erhellen und der Form eine Qualität zu verleihen. Hier steht sie im Gegensatz zur Form, als wäre jedes Papier zum Schlachtfeld geworden. Es ist ein Beispiel für einen Krieg, der den Krieg verhöhnt – das Blut fließt jetzt ungehindert in Nordnigeria, eine Nachricht, die keine Nachricht mehr ist. Indem sie Farbe auf Farbe setzen, fordern die Bilder eine ähnliche politische Tugend: Vielleicht gibt es ja doch einen Weg, die Geschichte des Krieges als Nicht-Krieg zu erzählen; zu entdecken, dass es in einem blutigen Land Spuren von Menschlichkeit gibt, Freundlichkeiten, die nicht mit Gewalt beschmiert wurden.

Die ganze Zeit über hat dieser Essay einen Weg aufgezeigt, Ehikhamenors Werk als unmittelbare Begegnung mit der Form zu betrachten. Doch nun wird es notwendig, sich übergreifenden Fragen zuzuwenden. Von Anfang an sind die Bilder durch ihre Titel verwickelt. Jedes setzt voraus, dass sich in den Formen und Figuren Erzählungen und Personen befinden, und in diesen Formen und Figuren gibt es Symbole, Schlüssel und Zugänge. Jeder Titel ist die Aufforderung, mit der man sich in den mythischen Realitäten der Objektwelten bewegen kann. „Floating In The City of Dreams“ wird kaum etwas anderes suggerieren als Schweben, und ohne Zweifel erkennt man einen Kopf, ausgestreckte Arme, schwimmende Beine, über Wellen schwingende Beine.

Die Idee der Titel von Ehikhamenor als Aufforderung: „I Hope You Remember“ (Ich hoffe, du erinnerst dich) ist an zwei Stellen auf der Leinwand angebracht, was das Bild zu einem dreiteiligen Objekt macht. Sofort werden die Worte des Heiligen Augustinus relevant: „Es gibt drei Zeiten: eine Gegenwart der Vergangenheit, eine Gegenwart der Gegenwart und eine Gegenwart der Zukunft. Es scheint, dass man, wenn man sich mit diesem skulpturalen Objekt – und anderen mit ähnlichen Titeln wie „Tell Me What I Won’t Forget“ befassen will, die Gegenwart als die gemeinsame Ontologie von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft betrachten muss. Bilder sind immer präsent; sie leben im Unterbewusstsein ihrer Betrachter:innen weiter. Doch es ist nicht diese Art von Gegenwärtigkeit, die Ehikhamenors Bilder vermitteln; es ist die Gegenwärtigkeit der Geschichte, die augustinische Gegenwart der Dinge, die zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft oszilliert. Meiner Meinung nach haben Bilder keine Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft. Sie erstrecken sich über die Zeit. Und wenn der Maler dazu bewegt wird, seine Bilder mit Gegenwärtigkeit zu bevölkern, wie es Ehikhamenor getan hat, wird sich auch die Geschichte, die er verkörpert, über die Zeit erstrecken.

Unabhängig davon, wie sie auf der Oberfläche wiedergegeben werden – mit Kohle, Acryl, Emaille, Nagellöchern – ist es Ehikhamenors Absicht, dass diese Bilder eine verzauberte Welt andeuten, die von Volksmärchen und dem Stadtleben, von realen und imaginären Geschichten inspiriert ist. Der Maler ist ein Geschichtenerzähler, wenn auch ein unzuverlässiger. Das heißt, unzuverlässig, wenn man will, dass das Bild chronologische Erzählungen enthält. Welche Zeittafel könnte es zum Beispiel für „Samson und Isebel in Lagos“ geben? Schon der Titel sagt nur das Nötigste: Hier sind die Figuren von Liebenden in einer großen Stadt, bevölkert von den Linien und Kurven ihrer Begierden. Mehr kann nicht gesagt werden, denn im Bild ist alles gesagt, ein vollständiger Augenblick. Die perforierten Figuren machen dies noch deutlicher. Es ist die Schärfe ihrer Gesichter, die sie kraftvoll macht – jeder Punkt deckt ein weiteres Feld ab, bis sich der Kreis des Maler-Künstlers schließt.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Bilder von Victor Ehikhamenor einen menschlichen Körper zeigen, der einer verzauberten Welt entspricht. Die Bilder sind in der Tat dispersive Chroniken einer verzauberten Welt. Verzauberung ist in gewissem Sinne eine Anspielung auf Freude. Es besteht kein Zweifel daran, dass Ehikhamenor einerseits mit Humor und andererseits mit Witz malt (sehen Sie sich „Warten auf dem Gang des Vergnügens“ an: beachten Sie zunächst die Formen, die Größe und die Position der Köpfe, und beachten Sie die Gesten der Hände). Man sollte die Freude als Weg zur Verzauberung nicht untergraben. Diese Bilder müssen wie ein Zauberspruch wirken, sie müssen bezaubern und anziehen, bis jeder Betrachter eine andere Chronik der Verzauberung hat.

“A Man of the People" © Victor Ehikhamenor

Emmanuel Iduma ist ein niegerischer Autor aus New-York-City.

Gefördert durch die Kulturstiftung des Freistaates Sachsen. Diese Maßnahme wird mitfinanziert durch Steuermittel auf der Grundlage des vom Sächsischen Landtag beschlossenen Haushaltes.

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Musik

Sound Sultans politische Musik

Sound Sultans politische Musik
von Rasaq Malik

Nigeria brennt und die Bürger sind amüsiert.

Und ich muss meine Geschichte erzählen
um sie anzustoßen und aufzuwecken
die schlafen
unter meinem Volk.

Der Tod von Sound Sultan (Künstlername des legendären Olanrewaju Abdul-Ganiu Fasasi von seines Labels Naija Ninja) wurde am 11. Juli, als er im Alter von 44 Jahren verstarb, überall in den sozialen Medien betrauert. Sultan wurde in Jos, Plateau State, als viertes Kind einer fünfköpfigen Familie geboren. Er war sehr begabt und seine Leidenschaft für die Kunst umfasste auch andere Medien wie Schauspiel, Comedy, Songwriting und Gitarrespielen, um nur einige zu nennen. Er hatte zahlreiche Auftritte und gewann Preise für seine Lieder, die das Bewusstsein der Menschen bereicherten und ihnen die Möglichkeit boten, sich kritisch mit gesellschaftlichen Ereignissen, insbesondere in Nigeria, auseinanderzusetzen.

In Sound Sultans Musik ist das Thema des politischen Bewusstseins von zentraler Bedeutung. In seinen Liedern, die sich über Jahre beeindruckender musikalischer Erfolge erstrecken, werden die Notlage der Massen, ihre alltägliche Frustration und ihr Unmut über die nigerianische Regierung und ihre vielfältigen Ideen dazu, das Volk zu betrügen, wunderbar eingefangen. Sultans Einsichten zeigen sich auch in der Wahl der Themen, mit denen er sich beschäftigt, und in der Sprache (eine Mischung aus Yoruba und Englisch), die er für seine Lieder verwendet. Das 2020 veröffentlichte Lied „Faya Faya“ mit Duktor Sett ist ein großartiges musikalisches Werk, das den beunruhigenden Zustand des Landes und die Sehnsucht der Massen nach Hoffnung zum Ausdruck bringt. Das Bild des Feuers deutet auf die mutwillige Zerstörung und die Unruhen im Lande hin. Geschickt vorgetragen mit einer Stimme, die Verzweiflung und Müdigkeit transportiert, ermöglicht „Faya Faya“ uns, unsere kollektiven Sehnsüchte zu betrauern; unsere sterbenden Träume und Hoffnungen. Die Verwendung von Refrains in einigen von Sultans politisch ausgerichteten Musikstücken unterstreicht das Ausmaß der Probleme, unter denen die Bürger leiden. Die Wiederholung von „pana pana“ macht deutlich, dass man jahrelang vergeblich darauf gewartet hat, dass die Politiker das Feuer der postkolonialen Probleme wie Korruption, politische Instabilität, unnötige Morde, Arbeitslosigkeit usw. löschen. In dem Lied singt Sultan:

Während wir auf ein Wunder warten
Wird das Feuer brennen, brennen, brennen
Denn wir warten auf ein Orakel
Feuer soll brennen soll brennen soll brennen
Wir beten, dass das Feuer kühlt
Feuer soll brennen, soll brennen, soll brennen
Panapana o panapana o panapana o.

Hier wird das Bild des Chaos durch diese prägnanten Zeilen gezeichnet. Jahre nach der Wahl neuer Führer werden ihre Versprechen auf Veränderung zu Fata Morganas. Dieses monumentale Versagen wirkt beunruhigend, da die Massen nach den Phantomversprechen der Gewählten dürsten. In jüngster Zeit ist Nigeria zu einem zerklüfteten Hügel für Aktivisten und Menschen geworden, die sich von der Regierung die gewünschten Veränderungen wünschen. Im Oktober 2020 löste die Schießerei am Lekki Tollgate (als Teil der #EndSars-Proteste) kritische Reaktionen im Land aus. Das tragische Ereignis löste eine weltweite Erkenntnis über die Rücksichtslosigkeit aus, mit der unsere Sicherheitskräfte die ständigen Tötungen von Bürgern durch SARS (eine für ihren Missbrauch berüchtigte Polizeieinheit) bekämpfen. Darüber hinaus haben die verheerenden Auswirkungen der von den Fulani-Hirten verübten Angriffe im ganzen Land ernsthafte Sorgen um die Sicherheit der Bürger aufkommen lassen. Darüber hinaus werden in dem Lied die Waffen des Stammesdenkens und der religiösen Polarisierung hervorgehoben, die zur Spaltung und zur Erzeugung von Zwietracht unter den Massen eingesetzt werden.

In einem anderen Lied mit dem Titel „Ole (Bushmeat)“, das 2011 veröffentlicht wurde, schimpft Sultan über die diebischen Führer und ihre Tricks, mit denen sie das Land ausplündern. Seine Angst ist noch ausgeprägter, da er mit Zeilen um sich wirft, die die Plünderer und ihr unersättliches Streben nach unseren kollektiven Ressourcen treffend beschreiben. Sultan beschreibt den rückschrittlichen Zustand des Landes und die von seinen gewählten Führern begangenen Übel und bietet uns einen denkwürdigen Song, der das Gewicht unseres kollektiven Kummers trägt. Das Lied ist revolutionär und erinnert an die jahrelangen Plünderungen und die Misswirtschaft der öffentlichen Gelder, die das Land plagen. Das Bild des Buschfleisches und des Jägers steht für die Bürger und die Regierenden. Die Jäger (die Führer) machen Jagd auf die Massen (das Buschfleisch). Auch hier zieht sich der Refrain – „Ole“ – wie ein roter Faden durch das Lied. Darin zeigt sich Sultans kreativer Einfallsreichtum und seine Fähigkeit, die schrecklichen Geschehnisse in der Gesellschaft einzufangen, ohne dabei auf die poetische Note zu verzichten, die sein Werk auszeichnet. In „Ole“ singt er:

Seht sie fliegen für das Flugzeug
erinnere dich an all die Schmerzen,
die mein Volk ertragen muss
Ich werde nicht müde, es zu erklären
Die kleinen Leute, die nie hacken,
beschweren sich Wasser Licht na yawa
überall nur Licht kein Strom
die einzige Macht ist die,
die uns unterdrückt.

Diese Zeilen verdeutlichen das von den Machthabern in Sultans Heimatland errichtete Unterdrückungssystem. Durch dieses Lied werden wir auf die Leiden des Volkes und die Privilegien der Machthaber eingestimmt. Die Kluft zwischen den Armen und den Reichen wird deutlicher sichtbar. So ist es beispielsweise ein typisches Ritual unserer führenden Politiker, für medizinische Behandlungen ins Ausland zu fliegen, während die Masse der Bevölkerung schlecht ausgestattete Krankenhäuser aufsucht, die gleichzeitig als Schlachthaus für diejenigen dienen, die sich vor dem möglichen Tod der Patienten in diesen Krankenhäusern fürchten. Erwähnenswert sind auch die Schlaglöcher, die unsere Straßen zieren, während die Staatsoberhäupter per Flugzeug in andere Länder reisen.

Sultans musikalischer Weg führt uns weiterhin durch seine Vorliebe für die unermüdliche Auseinandersetzung mit gesellschaftlicher Dekadenz und Verrottung in seinem Heimatland. In „2010 (Light Up)“, featuring M.I. Abaga, überwiegt seine überwältigende Wut auf die nigerianischen Führer. „2010 (Light Up)“ konfrontiert die Führer mit ihrem Versagen, eine stabile Stromversorgung für die Massen zu gewährleisten. In diesem Song lässt Sultan die Versprechen der nigerianischen Führer Revue passieren und zeigt auf, wie die Dürre der politischen Verantwortlichkeit das Land heimsucht. Er singt:

Wenn wir unsere Regierung fragen
wann sie uns Licht geben wird
Dem sagen na 2010
Seitdem warten wir nicht mehr auf 2010
Aber jetzt muss das Warten ein Ende haben
Denn 2010 wird sich zeigen, oh oh oh

Africa is a Country

Dieser Artikel erschien im Original auf englisch bei Africa is a Country unter dem Titel „Sound Sultan’s Political Music“

Es ist erwähnenswert, dass „2010 (Light Up)“ nach wie vor einer der politischsten Songs des Landes ist. Sultans Versuch, die nigerianische Bevölkerung von den Heuschrecken zu befreien, die ihren Verstand verschlingen, ist lobenswert. Die von Sultan verwendete Metapher von Moses, der sein Volk in das gelobte Land führt, ist sehr treffend. Leider ermordet sein Heimatland diejenigen, die sich gegen die Flut der Revolution auflehnen. Der Moses wird am Galgen aufgehängt oder an einem unbekannten Ort begraben, während die systematische Vernichtung von Messiassen nie aufhört. Betrachtet man die politische Geschichte Nigerias, so wird der Schmerz über die enttäuschten Hoffnungen zur unvermeidlichen Realität. Man wird mit den traurigen Geschichten von MKO Abiola und den annullierten Wahlen vom 12. Juni 1993 konfrontiert; Ken Saro Wiwa und seinem Kampf gegen die Ölverschmutzung im Land der Ogoni und Dele Giwa und seiner Ermordung durch unbekannte Killer mittels eines Bombenpakets. Der Tod dieser Menschen unterstreicht das tragische Ende jedes Moses, der sich erhebt, um die erschütternden Erzählungen über das postkoloniale Trauma in Nigeria zu verändern. Sultan singt:

Ich möchte wie Mose sein
Meinem Volk den Weg
in das gelobte Land
Aber dann habe ich etwas bemerkt
Leute, die es mit mir versuchen, tauchen unter
Ich sehe sie, ja

In anderen Strophen des Liedes beklagt Sultan die Unfähigkeit der nigerianischen Führer und ihre kolossalen Versäumnisse und setzt sein unermüdliches Streben nach einem utopischen Heimatland fort. Wenn man sich durch die anderen aufrüttelnden Strophen dieses Liedes bewegt, werden die revolutionären Tropen, die das Lied zu einem meisterhaften Werk machen, deutlicher sichtbar. Sultan singt:

Erhebt euch Naija
Erhebt euer apa
Sag ihnen, dass du das Böse leid bist
E don tey wen fela don go o
E don tey wen fela don go o
Die Anführer sind also hinter dem Geld her

Die Erwähnung von Fela Kuti in diesem Lied ist symbolisch und zeitgemäß. Wenn man die unbehandelte Wunde der soziopolitischen Probleme in Nigeria öffnet, kommen einem Felas politisch ergreifende Lieder in den Sinn. Wie die Reden von Martin Luther King und Malcolm X, die den Kampf für die Freiheit der Schwarzen in den Vereinigten Staaten und auf dem afrikanischen Kontinent festhielten, waren und sind Felas Lieder ein wichtiges Instrument, um die Massen gegen die politischen Rüsselkäfer aufzuwiegeln, die die Blütenblätter der Träume durchwühlen. Mit seinen Liedern kämpfte er gegen den Krebswurm schlechter Führung und offener Verstöße gegen die Gesetze in seinem Heimatland. Er sezierte nationale Themen und schilderte in seinen Liedern die enormen Turbulenzen, die von den Militärführern verursacht wurden, und deren immense Unterdrückung der Menschenrechte. Er rief zur Befreiung der Nigerianer auf – der einfachen Männer, der Marktfrauen, der sterbenden Kinder, der bettlägerigen Rentner, der Verlassenen, denen die Lebensgrundlage entzogen wurde.

Fela starb 1997, aber die Probleme der Nigerianer bleiben ungelöst. Sultans revolutionäre Stimme hallt durch das Lied, wenn er sagt: „Rise up, Naija/Raise your apa“. Sultans Verachtung für Tyrannei und Unterdrückung spiegelt sich in diesem Lied wider. Seine vernichtende Kritik an der giftigen Machtausübung der Machthaber verstärkt unser Verständnis dafür, wie korrupt und ineffektiv das System unter der Regierung ist. In „Naija Jungle“, das 2018 veröffentlicht wurde, beschreibt Sound Sultan wie gewohnt die Probleme des Landes und wie die Bourgeoisie die Proletarier auf ihre gewohnte Art und Weise unterdrückt. Die ungleiche Verteilung des Reichtums spiegelt sich auch in den Strophen des Liedes wider. Darüber hinaus erinnert das Lied an George Orwells bahnbrechendes Buch „Animal Farm“ und Beautiful Nubias „The Small People’s Anthem“. In den beiden genannten Werken leiden die Massen sehr, während sich die Führer auf Kosten der Massen bereichern und ihnen die grundlegenden Annehmlichkeiten vorenthalten, die ihnen das Überleben sichern. Anstatt einen großen Beitrag zum Fortschritt der Gesellschaft und des Volkes zu leisten, sehen die Führer zu, wie sich das Volk in bitterer Armut suhlt. Sound Sultan singt:

Manche schauen, manche arbeiten
Manche reden, manche hacken
Manche leben auf dem Dach
und manche schlafen auf dem Boden
Einige arbeiten die ganze Zeit, während andere hacken
Bis die Belle voll für den Boden ist
Refrain:
Affen arbeiten, Paviane hacken
Vieles passiert im Dschungel
Wenn der Löwe redet,
hält die Schildkröte den Mund
vielschichtiger Dschungel.

In anderen Strophen des Liedes wird der Dschungel geschildert, den Sultan zu erforschen versucht. Diese Art von Dschungel ist gekennzeichnet durch Ungerechtigkeit und Strafen, die auf die Massen niedergehen. Es ist ein Dschungel, der keinen Aufschub duldet, und das Leben seiner Bewohner ist dem vorzeitigen Tod ausgeliefert. In diesem Dschungel sterben die Menschen, weil sie es leid sind, immer wieder aufzuwachen und über den besorgniserregenden Zustand von allem zu klagen. Diese Art von Dschungel ist unheimlich, und nur diejenigen, die die Schmerzen ertragen können, werden überleben. Es ist ein Dschungel namens Nigeria, und die Menschen dort liegen im Sterben.

Rasaq Malik ist ein nigerianischer Dichter. Er ist Absolvent der Universität von Ibadan, Nigeria.

Gefördert durch die Kulturstiftung des Freistaates Sachsen. Diese Maßnahme wird mitfinanziert durch Steuermittel auf der Grundlage des vom Sächsischen Landtag beschlossenen Haushaltes.

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Film

Lagos Street Boys

Lagos Street Boys
Interview mit Filmemacher Tolulope Itegboje
von Dika Ofoma

Der schlimmste Albtraum für Nigerianer:innen ist eine Begegnung mit den Area Boys, auch bekannt als Agbero. Area Boys sind locker organisierte Banden von jugendlichen und jungen erwachsenen Männern, die in den südnigerianischen Städten Aba, Onitsha, Port Harcourt, Benin, Ibadan und Lagos agieren, wo sie besonders berüchtigt sind. Sie erpressen Geld von Passanten, Händlern, Autofahrern und Fahrgästen, stehlen, gehen mit Drogen hausieren und werden bei Wahlen zu Erpressungsinstrumenten für betrügerische Politiker, die dafür eine finanzielle Entschädigung erhalten. Aber was wissen wir sonst noch über Area Boys?

Der Begriff „Area Boy“ bezeichnete ursprünglich jeden, der sich mit der Straße, dem Ort oder der Gegend, in der er wohnt, identifizierte. Diese jungen Männer (und manchmal auch Frauen) schlossen sich in einer Art soziokultureller Organisation zusammen und erfüllten Aufgaben in ihren Gemeinden, die unter anderem darin bestanden, de facto als Sicherheitspersonal zu fungieren und lokale Feste zu organisieren.

Das war in den 70er und Anfang der 80er Jahre. In den späteren 80ern kam es zu einer repressiven Militärführung, die nicht nur die Bildung vernachlässigte, sondern auch eine Politik einführte, die wirtschaftliche Härten mit sich brachte und viele Familien in die Armut stürzte. Die Eltern konnten ihre Kinder nicht mehr zur Schule schicken. Die Jugendarbeitslosigkeit nahm überhand. Eine weitere Folge war, dass einige dieser jungen Männer, die sich in den Dienst ihrer Gemeinden gestellt hatten, zu terrorisierenden Ganoven mutierten. Heute werden sie wegen ihrer Kriminalität verleumdet und stigmatisiert.

Tolulope Itegbojes ergreifender und zu Herzen gehender Film Awon Boyz, der derzeit auf Netflix zu sehen ist, ist ein Dokumentarfilm, der sich mit der anderen Seite der Lagoser Straßenjungen beschäftigt. Ohne ihre ruchlosen Aktivitäten zu billigen, bietet er ihnen die Gelegenheit, ihre Geschichten zu erzählen. Und was sie bieten, ist eine ausgewogene Erzählung über ihr Leben, die es uns ermöglicht zu verstehen, wer sie sind und warum sie so sind. Ich sprach mit Itegboje über den Film, die Inspiration dahinter, seine Entstehung und die Notwendigkeit, die Straßenjungen von Lagos zu vermenschlichen.

Area Boys, vor allem die in Lagos, sind berüchtigt. Und das nicht ohne Grund; fast jeder Nigerianer wurde von ihnen schonmal bestohlen oder erpresst. Warum hielten Sie es für wichtig, sie zu vermenschlichen, indem Sie ihre Geschichten erzählen?

Das ist eine ziemlich gute Frage. Sie haben Recht, wenn Sie sagen, dass die Jungs aus der Gegend nur für ihre Berühmtheit bekannt sind, insbesondere als Werkzeuge für Gewalt. Auch wenn einige Aspekte davon wahr sind, so ist es doch ein einseitiges Narrativ. Der Grund, warum es wichtig war, sie zu vermenschlichen, war, dies in Frage zu stellen und ihre Menschlichkeit anzuerkennen, indem wir ihre ganze Geschichte erzählen. Denn zu ignorieren, dass sie Menschen sind wie wir, bedeutet, sie als weniger wert zu behandeln. Denn wenn wir so tun, als hätten sie keine gemeinsamen Werte, keine gemeinsamen Erfahrungen mit uns, wird es zu einem Fall von wir gegen sie. Oder sie gegen uns. Und um ehrlich zu sein, sind wir in gewisser Weise gleich. Wir haben ähnliche Hoffnungen und Träume. Ich glaube nicht, dass irgendjemand aufwacht und beschließt, dass er ein Junge aus der Gegend sein will. Viele von uns in privilegierten Positionen müssen erkennen, dass wir uns in einer ähnlichen Situation befinden könnten, wenn das Schicksal und die Umstände es nicht so wollten.

Das stimmt. Ich war erstaunt, wie bereitwillig sie auch das kleinste Detail aus ihrem Leben erzählten. Ich schätze es auch, dass es keine Off-Stimme gab, die ihr Leben erzählte und uns sagte, wer sie waren. Was auch immer wir über die Jungen aus der Gegend herausfinden, wir haben es aus ihren Erzählungen gewonnen. War das eine bewusste Entscheidung?

Ja, genau. Ganz genau. Und wissen Sie, dieses Projekt ist etwas Besonderes für mich, denn es ist eines der wenigen Male, dass ich als Filmemacher mit einer einzigen Absicht an die Sache herangegangen bin und genau diese Absicht auch erreichen konnte. Ich denke, ich sollte etwas zum Hintergrund dieses Dokumentarfilms sagen. Ich habe sechs Jahre lang als Produzent in einer Werbeagentur gearbeitet. Zu meinem Job gehörte die Produktion von TV-Werbespots, und dabei hatten wir natürlich auch mit Jungen aus der Gegend zu tun. Ich habe einmal ein Musikvideo in Ajah gedreht, und wir haben die Polizei und den Sicherheitsdienst angeheuert und nicht damit gerechnet, dass die Jungs aus der Gegend auftauchen würden, aber sie kamen. Und zu unserer Überraschung haben die Polizisten nichts getan. Sie waren sogar diejenigen, die uns baten, die Jungs aus der Gegend zu bezahlen. Von da an gab es bei jedem Dreh, bei dem ich eine Außenszene drehte, einen Teil von mir, der darauf vorbereitet war, die Jungs auszusortieren. Als ich sie dann sah und mit ihnen zu tun hatte, wurde mir klar, dass ich etwas über sie machen musste. Ursprünglich wollte ich einen musikalischen Kurzfilm über Area Boys machen und sie als diese coolen Typen darstellen, die niemandem Rechenschaft ablegen müssen. Aber dann wurde mir klar, dass das ohne eine Geschichte unvollständig wäre, und die kannte ich nicht. Also habe ich angefangen zu recherchieren, was mit den Area Boys passiert ist, und was mir dabei aufgefallen ist, war das, was du erwähnt hast, dass es nur eine einzige Geschichte über sie gibt.

Je mehr ich recherchierte, desto klarer wurde mir auch, dass es kein wirkliches Beispiel für einen Fall gab, in dem Jungen aus der Gegend ihre Geschichte erzählen durften. Die Medienberichterstattung konzentrierte sich auf diese eine Erzählung. Als ich den Film drehte, dachte ich daran, Interviews mit Menschen aus dem Alltag zu machen, die ihre Erfahrungen mit Jungen aus der Gegend erzählen. In diesem Fall erzählt ein Junge aus der Gegend seine Geschichte, und dann schneidet man zu jemandem, der erzählt, wie die Jungs aus der Gegend ihn ausgeraubt haben. In gewisser Weise fühlt es sich fast so an, als würden Sie ein Urteil fällen. Deshalb haben wir uns entschlossen, die Jungen aus der Gegend einfach ihre Geschichten erzählen zu lassen. Und das bedeutet nicht, dass wir alles, was sie tun, gutheißen, indem wir sie menschlich machen. Es war auch wichtig, dass sie sich mit der Gewalt, die sie verursachen, auseinandersetzen und die Verantwortung dafür übernehmen, wenn wir diese Geschichte erzählen. Deshalb gibt es einen ganzen Abschnitt, in dem wir mit den Jungs ein Gespräch über Gewalt führen und darüber, ob sie erkennen, wie zerstörerisch sie manchmal ist.

Ja, ich denke, es ist gut durchdacht. Du hast ihre Geschichten nicht verurteilt, und sie haben auch nicht versucht, sich von ihren Missetaten freizusprechen. Mir hat gefallen, dass sie zu ihren Taten gestanden haben und nur daran interessiert waren, uns zu erzählen, wie sie zu dem wurden, was sie sind.

Ja, das ist uns auch extrem aufgefallen: Wie unglaublich bewusst diesen Jungs die Art von Leben, das sie führen, ist.

Ich denke, was wir von Awon Boyz lernen, ist, dass diese Straßenjungen unterschiedlich sind, ihre individuellen Geschichten sind verschieden; was sie eint, ist die soziale Benachteiligung, die sie alle erlebt haben. Ich bin neugierig zu erfahren, wessen Geschichte Sie am faszinierendsten fanden und warum?

Um ehrlich zu sein, fällt es mir schwer zu sagen, wer besonders hervorsticht. Ich fand sie alle gleichermaßen faszinierend. Wenn man sich mit ihnen beschäftigt, kann man aus all ihren Geschichten Erkenntnisse und Lehren ziehen.

Also gut. Für mich war es Volume, der nach Lagos gekommen war, um seine Musikträume zu verfolgen, in einer Nacht all seine Wertsachen verlor und zum Zuhälter werden musste, um zu überleben. Sein zerplatzter Traum rührte mich fast zu Tränen. Ich wurde daran erinnert, wie unsicher das Leben ist.

Das ist interessant. Mir gefällt, dass er die Straße als Schlüssel zu seiner Geschichte sieht, aber dennoch das Bewusstsein hat zu sagen, dass er sie nicht für seine Kinder will.

Wie verlief der Schreib-/Schöpfungsprozess?

Der Prozess war sehr interessant. Ich habe etwa ein Jahr lang zu diesem Thema recherchiert, was im Nachhinein betrachtet eine wahnsinnige Zeitspanne war. Aber es brachte einige interessante Erkenntnisse darüber, wie ich die Gespräche mit den Jungs angegangen bin. Wir haben die Interviews gedreht, die am Ende sehr lang waren, und sie dann transkribiert. Ich habe eng mit einem wunderbaren Skript-Editor namens Omotayo Adeola zusammengearbeitet, um ein Skript bzw. einen Schnittleitfaden für die Redakteure zu erstellen. Aber ich finde, dass die Geschichte, wie wir sie jetzt haben, erst mit dem Schnitt zusammenkam. Wir begannen mit diesem schwierigen Prozess des Verschiebens von Material – wir nahmen Material heraus, fügten neues Material hinzu, um einen größeren emotionalen Kontext zu schaffen, drehten neues Material, um das, was die Jungs sagten, zu kontextualisieren; wir untersuchten die Beziehung zwischen bestimmten visuellen und erzählerischen Teilen, um die bestmögliche Geschichte zu erzählen. Dieser ganze Prozess hat ungefähr ein Jahr gedauert, und wenn ich Haare gehabt hätte, hätte ich sie mir in jeder Sekunde ausgerissen, bis wir zum Ende gekommen sind und alles wunderbar zusammengepasst hat.

Ich frage mich, ob die Darsteller von Awon Boyz den Dokumentarfilm schon gesehen haben? Was haben sie davon gehalten?

Sie haben ihn schon zweimal gesehen. Sie sahen ihn bei einer Vorführung auf dem iREP Film Festival, das jedes Jahr in Lagos stattfindet. Ich denke, es war uns wichtig, dass sie ihn auch bei dieser Vorführung gesehen haben. Es war allerdings auch eine Art Vertrauensvorschuss, denn es war das erste Mal, dass jemand außerhalb des internen Kernteams den Dokumentarfilm sah, und so wussten wir nicht, wie darauf reagiert werden würde. Aber es war erstaunlich, denn wir hatten Leute im Publikum, die geweint haben. Die Reaktion war überwältigend. Zu sehen, wie all diese Menschen sich mit ihren Geschichten identifizieren und sie in dieser Umgebung so willkommen heißen und umarmen, war für sie sehr beeindruckend. Sogar meine Eltern waren bei der Vorführung dabei. Im Anschluss daran lud mein Vater eine Gruppe von Geschäftsleuten aus seiner Kirche ein, den Dokumentarfilm noch einmal zu sehen. Das war etwas ganz Besonderes für sie, denn damit haben wir unser Ziel für den Dokumentarfilm erreicht, als wir das erste Mal mit ihnen sprachen. Wir wollten, dass die Leute sie in einem anderen Licht sehen. Für sie war das eine Art erfüllter Auftrag und ein wahr gewordener Traum.

Wir haben jetzt eine ausgewogenere Geschichte über die Area Boys. Wir sehen sie jetzt als mehrdimensional, nicht nur als Bedrohung für die Gesellschaft. Ja, sie erpressen Geld von Autofahrern, aber sie sind auch liebevolle Väter und wunderbare Freunde. Es hat etwas von sozialem Aktivismus, diese ganze Geschichte zu erzählen. Aber ich frage mich, ob Ihr Aktivismus darüber hinausgeht. Haben Sie Pläne, das Gespräch über die Jungen aus der Region zu vertiefen und dazu beizutragen, ihre Situation zu lindern? Fühlen Sie sich dafür verantwortlich?

Ja, das stimmt, wir fühlen uns sehr verantwortlich. Ich dachte, ich würde nur ein Jahr an diesem Film arbeiten, aber jetzt, drei Jahre nach den Dreharbeiten, spreche ich immer noch darüber. Ich unterhalte mich ständig mit den Jungs darüber, wie wir sie über die finanzielle Hilfe hinaus unterstützen können, was natürlich ein Aspekt ist, den wir nicht ignorieren können, wie Sie zu Recht betont haben. So haben wir unter anderem einen Teil der Einnahmen aus dem Film beiseite gelegt und jedem der Jungs zukommen lassen. Wir bringen sie auch in Kontakt mit Leuten, die sich gemeldet haben und helfen wollen. Und die Jungs wissen, dass sie mich anrufen können, um sie auf jede erdenkliche Weise persönlich zu unterstützen.

Aber wie ich schon sagte, geht das Gespräch darüber hinaus. Ich glaube, dass wir alle eine Verantwortung für diese Jungs haben. Wir alle haben eine Rolle zu spielen. Es reicht nicht aus, zu sagen, dass die Regierung dafür verantwortlich ist. Die Regierung kann es nicht allein tun. Private Organisationen müssen eine Rolle spielen, Einzelpersonen müssen eine Rolle spielen, gemeinnützige Organisationen müssen eine Rolle spielen. Als #EndSars passierte, waren wir diejenigen, die den Druck der kriminellen Elemente in der Folgezeit zu spüren bekamen. Wir müssen die Sache also ernst nehmen. Und ich glaube, das Wichtigste, was ich als Filmemacher hätte tun können, war, meine Stimme und meine Fähigkeiten einzusetzen, um darauf aufmerksam zu machen und Raum für Gespräche darüber zu schaffen, warum es wichtig ist, diese Leute zu verstehen, damit wir besser mit ihnen interagieren und zusammenleben können. Dabei geht es nicht nur um Geld, sondern auch um die Frage, wie wir gleiche Chancen für sie schaffen können. Wie verhindern wir, dass sie weiterhin ausgegrenzt und entrechtet werden? Wie können wir sie von den Rändern der Gesellschaft wegholen und wieder integrieren?

Dika Ofoma ist ein Kultur- und Unterhaltungskritiker aus Enugu, Nigeria.

Gefördert durch die Kulturstiftung des Freistaates Sachsen. Diese Maßnahme wird mitfinanziert durch Steuermittel auf der Grundlage des vom Sächsischen Landtag beschlossenen Haushaltes.

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Fotografie

Osun Osogbo

Ọ̀sun Òṣogbo
von Adetolani Davies

Fotograf Adetolani Davies berichtet für akono mit Wort und Bild vom traditionellen Yoruba-Festival Ọ̀sun Òṣogbo, das jedes Jahr im August von tausenden Menschen gefeiert wird.

Das Ọ̀sun Òṣogbo ist ein jährliches Fest, das in der westnigerianischen Stadt Òṣogbo vom Yoruba-Volk des Staates Ọ̀sun veranstaltet wird. Es ist als das größte traditionelle Yoruba-Festival bekannt und zieht jedes Jahr im August weltweit Tausende von Zuschauer:innen und Gläubigen an. Es wird zu Ehren der Ọ̀sun gefeiert, einer Göttin der Weiblichkeit, Fruchtbarkeit, Spiritualität, der Emotionen, Sinnlichkeit, Fürsorge und Liebe. Ọ̀sun Òṣogbo ist ein zweiwöchiges Programm. Es beginnt mit der traditionellen Reinigung der Stadt namens „Iwopopo“, auf die nach drei Tagen das Anzünden der 500 Jahre alten Sechzehnspitzenlampe namens „Ina Olojumerindinlogun“ folgt. Dann folgt die „Iboriade“, eine Zusammenstellung der Kronen der früheren Herrscher und Ataojas von Òṣogbo, um die Gottheit um Segen zu bitten.

©Karma the Great / Adetolani Davies

Das Fest wurde vor etwa 600 Jahren von den Einheimischen der Gemeinde Òṣogbo ins Leben gerufen. Eine Begebenheit, die der Entstehung des Festes vorausging, besagt, dass einige Menschen in die Region Òṣogbo zogen und die Umgebung für die Besiedlung säuberten. Sobald sie damit begannen, wurden sie von einem Geist des Flussgottes Ọ̀sun vertrieben, woraufhin sich der Ort in eine heilige Kultstätte für die Anhänger verwandelte, und seither ist das Fest eine wichtige Tradition und Notwendigkeit im Yoruba-Land Òṣogbo.

©Karma the Great / Adetolani Davies

Für die Einheimischen bedeutet das Fest mehr als nur Feiern; es bedeutet Erneuerung des Glaubens, Schutz und Zuversicht, während einige andere es als Touristenattraktion betrachten. Das Fest wird von den traditionellen Gläubigen als ein Ort der spirituellen Wahrsagung und Lösung angesehen; die meisten Besucher sind Menschen, die eine Lösung für ihre jeweilige Notlage suchen, da die Göttin Ọ̀sun als mütterlich und barmherzig angesehen wird. Die Menschen erreichen den königlichen Palast mit Hoffnungen und Gebeten im Herzen, während ein ernannter Ausschuss von Priesterinnen die Menge auf einen ereignisreichen Marsch zur heiligen Grove vorbereitet – eine spirituelle Prozession, die ein energiegeladenes Spiel, Tanzen, Trommeln und traditionelle Lobreden umfasst, die sich über Stunden hinziehen können. Dieses Ritual wird von einer jungen königlichen Jungfrau namens ARUGBA angeführt – einem Teenager, der aus dem Geschlecht des Königs ausgewählt wurde. Sie ist dafür verantwortlich, ein Opfer auf dem Kopf zu tragen, das der Gottheit als Sühne dargebracht wird. Die ATAOJA von Òṣogbo und Yeye Òsun und ein Komitee von Priesterinnen weisen den Weg zum heiligen Hain, wobei sie alle von den Peitschenmännern namens OLORE geleitet werden. Sie gehen vom königlichen Palast zum heiligen Hain von Òsun, während die Menge ihnen folgt und ihre Probleme und Sorgen in die Kalebasse wirft, die von der königlichen Jungfrau getragen wird, denn sie hat die Rolle einer Vermittlerin zwischen der Gottheit und dem Volk übernommen.

©Karma the Great / Adetolani Davies

Sobald sie an der heiligen Rinne angekommen sind, gehen DER ARUGBA, YEYE ÒSUN und das Komitee der Priesterinnen hinein, um die notwendigen Rituale und Beschwichtigungen durchzuführen, und sobald die Rituale abgeschlossen und akzeptiert sind, grüßen alle die Flussgöttin und beglückwünschen sich selbst für den Erfolg und beten, dass sie alle das nächste Mal überleben; dann wird den Menschen erlaubt, das Flussufer zu betreten, um zu trinken, zu baden und das Wasser der Ọ̀sun mit nach Hause zu nehmen, und sie grüßen alle die Flussgöttin

Ore yé-yé o, Ore yé-yé Òsun!!!

Das bedeutet: „Die Güte der Mutter, die Güte der Òsun“
©Karma the Great / Adetolani Davies

Adetolani Davies ist Fotograf und lebt in Lagos. In seiner Arbeit sucht er nach Schönheit und Natürlichkeit und fängt dabei Menschen und Momente ungefiltert ein.
Karma the Great auf Instagram

Gefördert durch die Kulturstiftung des Freistaates Sachsen. Diese Maßnahme wird mitfinanziert durch Steuermittel auf der Grundlage des vom Sächsischen Landtag beschlossenen Haushaltes.

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Verschiedenes

Internationale Diebe!

Internationale Diebe!
von Lily Saint

Rückgabe von Benin-Bronzen nach Nigeria

Die Bundesrepublik plant, ab 2022 Benin-Bronzen, jahrhundertealte Skulpturen aus dem heutigen Nigeria, die während der Kolonialzeit entwendet wurden und sich massenhaft in europäischen Museen befinden, zurückzugeben. Es darf auch in anderen Ländern keine falschen Rechtfertigungen mehr dafür geben, Benin-Bronzen und andere geraubte Materialien in Museen außerhalb Afrikas aufzubewahren. Ein Kommentar.

1909 nahm sich Sir Ralph Denham Rayment Moor, Generalkonsul des britischen Südnigerianischen Protektorats, mit Zyanid das Leben. Elf Jahre zuvor, nach dem britischen „Strafangriff“ auf den königlichen Hof in Benin City, hatte Moor dabei geholfen, Beute aus Benin City in die Privatsammlung von Königin Victoria und in das britische Außenministerium zu bringen. Zu den von Moor und vielen anderen erbeuteten Materialien gehören die heute berühmten Messingreliefs, die die Geschichte des Benin-Königreichs darstellen – bekannt als die Benin-Bronzen. Hinzu kommen Gedenkköpfe und -tafeln aus Messing, geschnitzte Stoßzähne aus Elfenbein, Zier- und Körperschmuck, Heil-, Wünschel- und Zeremonialobjekte sowie Helme, Altäre, Löffel, Spiegel und vieles mehr. Moor behielt auch Dinge für sich selbst, darunter die Königinmutter Maske aus Elfenbein. Nach Moors Selbstmord erwarb der britische Ethnologe Charles Seligman, berühmt für die rassistische „Hamitische Hypothese“, die vielen frühen eugenischen Gedanken zugrunde lag, genau diese Maske, eines von sechs bekannten Exemplaren. Zusammen mit seiner Frau Brenda Seligman, die selbst Anthropologin war, trug Charles eine riesige Sammlung „ethnographischer Objekte“ zusammen. 1958 verkaufte Brenda die Maske der Königinmutter für 20.000 Pfund an Nelson Rockefeller, der sie in seinem inzwischen aufgelösten Museum of Primitive Art ausstellte, bevor er sie 1972 an das Metropolitan Museum of Art verschenkte. Dort habe ich sie diese Woche in New York City besichtigt – und wie Dan Hicks kürzlich in einem Tweet anmerkte, besteht eine gute Chance, dass sich ein Gegenstand aus dem Hof von Benin auch in der Sammlung eines regionalen, universitären oder nationalen Museums in Ihrer Nähe befindet, wenn Sie diesen Kommentar im globalen Norden lesen.

Für Hicks, den Autor von The Brutish Museums: The Benin Bronzes, Colonial Violence and Cultural Restitution, ist diese Provenienzgeschichte der Königinmutter Maske – und jede einzelne andere Geschichte des Erwerbs und Transfers von Objekten aus Benin City in Museen in der „entwickelten“ Welt – eine Geschichte, die mit Gewalt beginnt und endet. Tatsächlich entstand die Kategorie der ethnographischen Museen im 19. Jahrhundert genau aus der dämonischen Allianz zwischen anthropologischer Forschung und kolonialer Plünderung. Im Jahr 1919 bemerkte ein deutscher Ethnologe, dass „die Kriegsbeute, die bei der Eroberung von Benin gemacht wurde, … die größte Überraschung war, die das Feld der Ethnologie jemals erhalten hatte“. Diese sogenannte Kriegsbeute untermauerte die Daseinsberechtigung dieser Museen: das Sammeln und Ausstellen nicht-westlicher Kulturen als Beweis für den „europäischen Sieg über ‚primitive‘, archäologische afrikanische Kulturen.“ Die Gründung ethnographischer Museen, einschließlich des Pitt Rivers Museum in Oxford, wo Hicks derzeit arbeitet, „haben Morde, kulturelle Zerstörungen und Diebstähle mit der Propaganda der Rassenwissenschaft [und] mit der Normalisierung der Ausstellung menschlicher Kulturen in materieller Form verbunden“. Für Hicks ist die fortgesetzte Zurschaustellung dieser gestohlenen Objekte in schlecht beleuchteten Kellerräumen, hochmodernen Vitrinen und Privatsammlungen eine „andauernde Brutalität … die jeden Tag aufgefrischt wird, an dem ein Anthropologiemuseum … seine Türen öffnet.“

Nach diesem Buch kann es keine falschen Rechtfertigungen mehr dafür geben, Benin-Bronzen in Museen außerhalb Afrikas aufzubewahren, und auch keine weiteren Behauptungen, dass neue Ansätze im Wandel der Zeit ausreichen, um Kunstobjekte zu rekontextualisieren. Dieses Buch leitet einen eigenen Paradigmenwechsel in der Museumspraxis, im Sammeln und in der Ethik ein. Es gibt zwar schon frühere Argumente für die Rückgabe von Beständen westlicher Museen an afrikanischer Kunst (vor allem Felwine Sarr und Bénédicte Savoys Bericht zur Rückgabe afrikanischer Kulturgüter), aber der Umfang von Hicks‘ Argumentation ist außergewöhnlich. In einem Kapitel nach dem anderen lässt er die Belagerung Benins und ihr Nachleben in Museen auf der ganzen Welt Revue passieren, wobei er geschickt zwischen historischen Perspektiven und konzeptionellen Rahmenüberlegungen wechselt. Aus Hicks‘ detailliertem Anhang erfahren wir, dass diese gestohlenen Objekte in etwa 161 verschiedenen Museen und Galerien weltweit zu finden sind, vom British Museum bis zum Louvre in Abu Dhabi, mit nur 11 auf dem afrikanischen Kontinent.

Einen Teil des Buches widmet Hicks einer Art konventioneller Geschichtsschreibung, indem er nachzeichnet, wie die „Strafexpedition“ gegen Benin von einer Reihe von Personen und Institutionen in Aktiengesellschaften, dem Militär, der britischen Regierung und der Presse gerechtfertigt, geplant und finanziert wurde. Die britische „Expedition“ von 1897 nach Benin City im heutigen Nigeria wurde von den Briten als notwendige „strafende“ Reaktion auf die Ermordung von mindestens vier weißen Männern verteidigt. Diese Männer waren ermordet worden, als sie versuchten, in die Stadt Benin zu gelangen, obwohl der Oba ihnen zuvor strikt untersagt hatte, die Stadt zu betreten, da ihnen sonst der Tod drohen würde. Hicks zeichnet nach, wie die Briten regelmäßig Gründe für diese Art von Vergeltungsgewalt fabrizierten (oft sogar im Namen der Abolition), um zu verschleiern, was in Wirklichkeit eine Verkettung von sich überschneidenden „Kleinkriegen“ und Strafexpeditionen war, die bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurückreichen.

Africa is a Country

Dieser Artikel erschien im englischen Original bei Africa is a Country unter dem Titel „International thief thief“

Eine Anhäufung von Details nach der Hälfte des Buches – die Manöver und Angriffslinien, die Kataloge von Offizieren, Hausa-Soldaten und Trägern, das Gewicht und die Anzahl und Typen von Gewehren und anderen Waffen – lässt es in der Mitte ein wenig durchhängen. Während dies die Aufmerksamkeit derjenigen Leser wecken wird, die daran interessiert sind, die ultragewalttätigen Abgründe des Kolonialismus und seine eklatante Missachtung der rechtlichen Grenzen dessen, was im Krieg erlaubt war, auszuloten (wir erfahren zum Beispiel von Kugeln, die abgefeilt wurden, „um sie in expandierende Kugeln umzuwandeln [um] eine größere Wunde zu verursachen, wenn sie ein menschliches Ziel trafen“), empfehle ich denjenigen, die am meisten an Hicks‘ Argumenten über das ethnographische Museum heute interessiert sind, die letzten Kapitel zu überspringen.

Denn schließlich erzählen Hicks‘ Details eine Geschichte, die in verschiedenen Inkarnationen leidvoll erzählt und wiedererzählt wurde: eine Erzählung von Extraktion, Ultragewalt, Rassismus. Der eindringlichste Beitrag von The Brutish Museums liegt letztlich in Hicks‘ Einschätzung und Verurteilung des gegenwärtigen Zustands des Museumskuratoriums, insbesondere in anthropologischen Museen und verwandten Institutionen.

Die Komplizenschaft von Museumskuratoren und -mitarbeitern bei den Bemühungen, die Plünderungen zu rechtfertigen, ist nicht auf die frühen Sammler und Anthropologen beschränkt. Hicks beklagt die rhetorischen Tricks zeitgenössischer Kuratoren und Museumsbeamter, die das Problem, das den Erwerbungen der Museen zugrunde liegt, beschönigen, indem sie stattdessen argumentieren, dass Museen zu „internationalen“, „grenzenlosen“ und „universellen“ Räumen geworden sind, die die „Weltkultur“ präsentieren. Diese Behauptungen, dass eine Art internationale Inklusivität unter dem Banner des „Universalmuseums“ herbeigeführt werden kann und dass dies ausreicht, um die den Sammlungen selbst innewohnenden Verletzungen zu beheben, lassen die Tatsache außer Acht, dass solche Rahmen nichts dazu beitragen, die koloniale geografische Logik von Metropole und Peripherie zu überwinden, die die Museen überhaupt erst ins Leben gerufen hat.

The British Museum.

Hicks wendet sich auch gegen die Liebesaffäre der Kunstgeschichte mit den Object Studies, einem Feld, das die Bedeutung eines Objekts hauptsächlich durch seinen Kontext und seine Rezeption bestimmt sieht. Wie er betont, erlaubt uns dies oft, ein Objekt von den (oft gewaltsamen) menschlichen Geschichten zu lösen, die diese neueren Bedeutungen hervorgebracht haben. Der Missbrauch von Mary-Louise Pratts Konzept der „Kontaktzone“ als Mittel zur Organisation von Museumssammlungen gerät unter ähnlichen Beschuss, da Kuratoren es benutzt haben, um koloniale kulturelle Begegnungen als Austausch und „Verstrickungen“ zu betonen, anstatt als Beziehungen der Unterordnung und Plünderung unter Zwang.

Heute bekennt Hicks: „Eine Zeit des Nehmens weicht einer Zeit des Gebens.“ Wie Greer Valley betont hat, gab es endlose Debatten; Handeln ist der einzig mögliche Weg nach vorne. Einige Museen und Galerien sind dem Aufruf zur Rückführung gestohlener materieller Kultur gefolgt, und Museen wie das senegalesische Museum of Black Civilizations in Dakar und das bald entstehende Edo Museum of Western African Art in Benin City (entworfen vom Architekten David Adjaye) zeigen, dass sich sowohl auf der Ebene des Handelns als auch der Idee Veränderungen vollziehen.

Um die Rückführung zu beschleunigen und zu standardisieren, müssen vor allem die Museen mehr Transparenz über ihre Bestände zeigen. Hicks merkt an, dass „es … derzeit unklar ist, wie viele Schädel und andere menschliche Überreste aus Benin in Museen und Privatsammlungen überleben – obwohl mindestens fünf menschliche Zähne 1897 ihren Weg von Benin-Stadt nach London fanden und nun im British Museum in einem Wahrsagekasten, an einer Kette aufgereiht und in einer Messingmaske enthalten sind.“ Es ist für mich nicht ersichtlich, warum Museen nicht in der Lage sind, angemessen darüber zu berichten, welche Objekte sie haben und wie sie dazu gekommen sind. In den jüngsten Debatten in den USA über menschliche Überreste, die im Archäologie- und Anthropologiemuseum der University of Pennsylvania, im Smithsonian, an der Harvard University und anderswo aufbewahrt werden, werden regelmäßig ähnliche Hürden für diese Probleme der Zählung von Sammlungen aufgestellt. Aber die Kataloge müssen klar sein und öffentlich gemacht werden, und die Museen müssen sich sowohl in materieller als auch in ethischer Hinsicht verantworten. Dies, das wissen sie inzwischen alle, bedeutet, dass der erste notwendige Schritt darin besteht, zurückzugeben, was nicht ihnen gehört. Wie sie sich dann als Räume der Verantwortlichkeit neu erfinden, wird die nächste Aufgabe des Kurators sein.

Lily Saint ist Associate Professor für Englisch an der Wesleyan University und Autorin von „Black Cultural Life in South Africa“ (U. of Michigan Press 2018).

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