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Dahomey von Mati Diop gewinnt Goldenen Bären

»Zurückzugeben heißt,
Gerechtigkeit zu üben«
von Jona Elisa Krützfeld

Der Dokumentarfilm »Dahomey« der französisch-senegalesischen Filmemacherin Mati Diop erhält den Goldenen Bären der Berlinale Filmfestspiele.

»26 nannten sie mich. Nicht 24, nicht 25, nicht 30. 26. Was ist das für ein Name?«

Hier spricht in Mati Diops experimentellem Dokumentarfilm, der am Samstag mit dem Goldenen Bären der Berlinale ausgezeichnet wurde, eine der Statuen aus einer Gruppe von 26 nach Benin restituierten Kulturobjekten aus dem Königreich Dahomey aus dem Off. Zu Beginn des Filmes bereitet sich diese Statue darauf vor, endlich aus der opaken Nacht des Museum Quai de Branly in Paris in seine Heimat zurückzukehren.

Die Kamera begleitet die Kulturgüter, die von französischen Truppen bei der Plünderung der königlichen Paläste in Abomey 1892 entwendet und von dem französischen Oberst Alfred Dodds an einen Vorgänger des Musée du quai Branly in Paris gespendet wurden, bei ihrer Heimkehr in ihr Ursprungsland, das heutige Benin. Paraden von tanzenden und feiernden Menschen flankieren die Kolonne von mit Bildern der Kunstschätze bedruckten LKWs in Cotonou, von überallher strömen Menschen, um einen Blick auf die Heimkehr der Schätze zu erhaschen.
Mit äußerster Sorgfalt und Professionalität werden schließlich die Holzkisten mit Statuen, Schmuck und einem Thron am neu erbauten Museum Palais de la Marina in Empfang genommen und feierlich von Dutzenden von Männern mit Spanngurten die breiten Treppen ihrer neuen Heimstätten hinaufgetragen.
Dass die Sache mit der Restitution nicht ganz so einfach oder romantisch ist, wie diese Bilder glauben machen, zeigen anschließend Szenen einer öffentlich übertragenen Debatte zwischen jungen Menschen, die vor einem riesigen Publikum mit glasklaren und eloquent vorgetragenen Argumenten über ihr Verhältnis zum materiellen Kulturerbe ihres Landes und darüber diskutieren, wie die Rückgabe von 26 von insgesamt 7000 geraubten Kulturobjekten von der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich einzuordnen ist – als guter Anfang oder postkoloniale Arroganz?

Auch die immer wieder mit mystisch verzerrter Stimme und poetischen Bemerkungen aus dem Off sprechende Statue bemerkt, dass sie zwar die exotische Liebkosung ihrer neuen alten Heimstätte genieße, aber ansonsten nichts wiedererkenne, habe sich das heutige Land Benin doch in ihrer Abwesenheit von Grund auf verändert.

Am 24. Dezember 2020 erließ die französische Regierung ein neues Gesetz, das nach dem Erscheinen des »Berichts über die Rückgabe des afrikanischen Kulturerbes« die dauerhafte Rückgabe mehrerer Kulturgüter aus französischen Sammlungen an den Senegal und die Republik Benin vorsieht. Außerdem wurde ein Darlehen der französischen Entwicklungsagentur in Höhe von 20 Millionen Euro für ein neues Museum in Abomey bereitgestellt. Die Artefakte sollen in den folgenden Jahren durch das Land reisen und in verschiedenen Museen ausgestellt werden, bis sie schließlich im Museum der Amazonen- und Königsepen von Dahomèy in Abomey dauerhaft ausgestellt werden.
Der beninische Präsident Patrice Talon sprach sich für die Restitution weiterer Werke aus. Schätzungen zufolge hortet Europa mehr als 90 Prozent des afrikanischen Kulturerbes. »Zurückzugeben heißt, Gerechtigkeit zu üben«, sagte Mati Diop am Samstag in Berlin, als sie den Preis entgegennahm.

Der Begriff Restitution war in Deutschland bis vor einigen Jahren vor allem aus Berichten über Raubkunst aus dem Nationalsozialismus bekannt und wurde durch Rückgabeforderungen aus afrikanischen Ländern und damit verbundenen Bemühungen aktivistischer Gruppen in Deutschland in die Museen und die öffentliche Diskussion getragen. Schätzungen zufolge liegen noch circa 90% des materiellen sub-saharischen afrikanischen Kulturerbes, das in der Kolonialzeit gestohlen wurde, in westlichen Museen.

Auch in Deutschland befinden sich Tausende von Exponaten, die ethnologischen Sammlungen des Humboldt Forums allein umfassen rund 500.000 in kolonialen Gewaltkontexten »gesammelte« Objekte. Eines der wohl berühmtesten Beispiele für Raubkunst in Deutschland sind 20 Benin-Bronzen, die über 120 Jahre lang auf fünf deutsche Museen verteilt, beherbergt wurden.

Im Dezember 2022 gaben Außenministerin Annalena Baerbock und Kultusministerin Claudia Roth die wertvollen Objekte an Nigeria zurück. Die Benin-Bronzen wurden größtenteils unter britischer Flagge Ende des 19. Jahrhunderts geplündert. Die Grünen-Politikerin Baerbock kommentiert die Rückgabe mit den Worten: »Es war falsch, sie zu nehmen, und es war falsch, sie zu behalten.«

Insofern leistet Mati Diops Dokumentarfilm »Dahomey« einen komplexen und künstlerisch anspruchsvollen Beitrag zu einer andauernden Debatte, in der Deutungshoheit und Machtbeziehungen unter konkurrierenden Interessen immer noch ausgehandelt werden müssen. Die gezeigten Bilder sollten jedenfalls den bösen Zungen, die immer wieder behaupten, in den Herkunftsländern würden die Exponate durch Korruption oder schlechte Ausstellungsbedingungen dem Verfall und Verlust ausgesetzt, eine Lektion erteilen. Aus dieser sehr politischen Gegenwart abstrahiert die Dokumentation, deren filmische Mittel bei nur 70 Minuten Länge äußerst geschickt eingesetzt sind, immer wieder in die erhabene Welt der sprechenden Statue, die immerhin ein Kultobjekt ist und bei all dem Rummel immer mal wieder auch mit dem Wind, dem Ozean und der Ewigkeit in Kontakt treten muss.

Mati Diop

Die 1982 in Paris geborene Mati Diop stammt aus der berühmten senegalesischen Diop-Familie. Ihr Vater Wasis Diop ist Musiker und Songwriter, der für eine Mischung der traditionellen senegalesischen Volksmusik mit moderner Popmusik und Jazz bekannt ist. Zudem ist sie die Nichte des Filmemachers und Schauspielers Djibril Diop Mambéty. Diops französische Mutter ist Fotografin und Art-Direktorin. Ihren Film Atlantique (im akono Magazin besprochen), bei dem sie Regie führte und das Drehbuch schrieb, stellte sie im Rahmen der Internationalen Filmfestspiele von Cannes vor, wo er um die Goldene Palme konkurrierte. Diop war damit die erste schwarze Regisseurin im Wettbewerb von Cannes. Im November 2019 wurde sie vom Branchenblatt Variety in die 10 Directors to Watch aufgenommen. Atlantique wurde vom Senegal als Beitrag für die Oscarverleihung 2020 in der Kategorie Bester Internationaler Film eingereicht und Mitte Dezember 2019 von der Academy of Motion Picture Arts and Sciences auf die Shortlist in dieser Kategorie gesetzt.

Jona Elisa Krützfeld ist studierte Kulturwissenschaftlerin und Verlagsleiterin bei akono. Sie wohnt in Berlin und betreut hauptberuflich die Vergabe des Friedenspreises beim Börsenverein des Deutschen Buchhandels.
Im Bereich der Literaturen Afrikas interessiert sie sich besonders für Orature, historische Fiktion, Weiblichkeit und Feminismus und Erzählungen mit politischer und philosophischer Botschaft.

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Film

Die deutschen Kolonialverbrechen landen im Kino

Die deutschen Kolonialverbrechen landen im Kino
von Jona Krützfeld

„Der vermessene Mensch“ ist der erste deutsche Kinofilm, der sich mit dem Völkermord an den Ovaherero und Nama in der ehemaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika beschäftigt. Nach Jahrzehnten der nicht erfolgten Aufarbeitung werden die Kolonialverbrechen des Deutschen Kaiserreiches nun also der breiten Bevölkerung auf der Leinwand präsentiert. Ganz unbefangen rückt Regisseur Lars Kraume dabei einen weißen Ethnologen in den Mittelpunkt der Erzählung. Kann der Film trotzdem was?

Vom Menschenzoo ins Konzentrationslager

Berlin, Ende des 19. Jahrhunderts: Alexander Hoffmann ist Doktorand im Fach Ethnologie bei Professor Josef Ritter von Waldstätten an der Friedrich-Wilhelms-Universität. Der ehrgeizige junge Mann, der dem Vorbild seines Vaters, einem berühmten Ethnologen, nachstrebt, macht auf der Deutschen Kolonial-Ausstellung Bekanntschaft mit einer Delegation von Herero und Nama aus Deutsch-Südwestafrika, die Kaiser Wilhelm um eine Audienz zum Schutz der lokalen Bevölkerung ersuchen will. Zur Gruppe gehört auch Kezia Kunouje Kambazembi, die als Dolmetscherin tätig ist.

Weil die Delegation die Audienz beim Kaiser nicht gefährden will, lässt sie sich zu einer Schädelvermessung durch die Kraniometrie-Seminargruppe Hoffmanns überreden – natürlich verguckt sich Hoffmann in die scheue junge Dolmetscherin, der die Schädelvermessung zuwider ist, und verbindet in den folgenden Wochen sein ethnologisches Interesse an der Gruppe mit Schwärmereien für die kluge Fremde.

In Gesprächen schnell davon überzeugt, dass auch die Ovaherero und Nama kognitive Fähigkeiten, Philosophie und Weltanschuungen haben, versucht er entgegen dem rassistischen Zeitgeist in einem autoritären Kaiserreich voller Herrenmenschen in seiner Vorlesung die These anzubringen, dass es keinen Unterschied zwischen den Rassen gebe. Da der Film kaum von historischen Fakten abweicht, gelingt ihm dies natürlich nicht.

Einige Jahre später schlägt die sogenannte Schutztruppe in Deutsch-Südwestafrika den Aufstand der Ovaherero und Nama gegen die deutsche Besatzung nieder und es kommt zum Krieg. Hoffmann reist in der Hoffnung, Kunouje wiederzusehen und bahnbrechende ethnologische Forschung zu betreiben, selbst ins südliche Afrika. Beschützt von der kaiserlichen Armee, sammelt er zurückgelassene Kunstgegenstände und Machtinsignien der Ovaherero und Nama und schändet Gräber und Leichen, um Schädel für die Rasseforschung in Deutschland zu gewinnen. Er wird Zeuge der Gräueltaten der deutschen Armee, der Ermordung und Vertreibung zehntausender Menschen und der Internierung von Kriegsgefangenen in Konzentrationslagern.

Der weiße Mann im Mittelpunkt

War die Entscheidung, den weißen Ethnologen Hoffmann, hier gespielt von Leonhard Scheicher, in den Mittelpunkt der Handlung zu stellen und dadurch die Perspektive der Betroffenen nur nebenher laufen zu lassen, geschickt? Es kommt darauf an, was der Film will.

Beim Special Preview des Historiendramas in Leipzig am 20. April, drei Tage vor Kinostart, waren Regisseur, Hauptdarstellerin Girley und der in Deutschland lebende Hereroaktivist Israel Kaunatjike anwesend.

Einmal abgesehen von der unsensiblen und unpräzisen Verdolmetschung und einer etwas holprigen Moderation war das an den Film anschließende Gespräch in vielerlei Hinsicht sehr aufschlussreich, da es dem Team Gelegenheit bot, auf einige der schon vorab angebrachten Kritikpunkte aus Presse und Publikum Stellung zu beziehen.

Lars Kraume ist dafür bekannt, unter anderem durch seine Filme „Der Staat gegen Fritz Bauer“ und „Das fliegende Klassenzimmer“, historische und politische Themen für die Kinoleinwand pragmatisch und realistisch anzugehen.

Kulturelle Aneignung bei Fokus auf Widerstand

Lars Kraume sprach davon, sich die Perspektive von Widerstandfiguren wie etwa Nama Anführer Henrik Wittboi nicht „kulturell aneignen“ zu wollen und deswegen einen weißen Kolonialisten in den Vordergrund gestellt zu haben, denn das sei eine Perspektive, die er von Deutschland aus gut erzählen könne. Bei den Überlegungen für das Skript sei dann die Wahl auf einen Ethnologen gefallen, der als Kippfigur sowohl das aufrichtige Interesse und die Bewunderung für die namibischen Völker, als auch den internalisierten Rassismus und den imperialistischen Geist in sich vereine. Um die Verbrechen der deutschen Schutztruppe darzustellen, ohne dabei Gewalt rein zu reproduzieren, sei die Wahl auf die fiktive Figur Hoffmann gefallen, da sie als einzige glaubhaft Zeuge des Genozids werden konnte, ohne daran beteiligt zu sein.

Die Frage, warum nicht trotzdem an manchen Stellen mehr von der Perspektive der Ovaherero eingeflossen sei, beantwortet Kraume mit der Kohärenz und Glaubhaftigkeit des Plots und damit, dass er die Handlung bewusst Jahre vor dem Genozid, nämlich auf der Kolonial-Ausstellung, habe beginnen lassen, um die Persepktiven der Betroffenen darzustellen. Ab dem Beginn des Genozids habe es nur noch Gewalt gegeben; da die Perspektive der Betroffenen einzunehmen, hätte also nur gewaltvolle Bilder reproduziert.

Hauptdarstellerin Girley Jazama tut die Frage nach der fehlenden Ovaherero-Perspektive ab: „It is our own responsibility to tell these stories“. Der Film, der in Wanderkinos in Namibia gezeigt wurde, habe bei den Zuschauer:innen sehr emotionale Reaktionen ausgelöst, da auch in Namibia über die traumatischen kollektiven Erlebnisse viel Schweigen gebreitet wird.

Preview von Der vermessene Mensch in Leipzig

Befinden wir uns wieder in einem Menschenzoo?

Bert Rebhandl schreibt in der FAZ, man befände sich trotz lokaler Kooperation am Set in „Der vermessene Mensch“ wieder in einem Menschenzoo:

Dabei stimmt gerade an den Rändern der Bilder überhaupt nichts, und wenn man sich die Mühe macht, ab und zu vom Plot ein wenig wegzuschauen auf das, was insgesamt zu sehen ist, ist man sofort wieder in einem Menschenzoo, nur in einem halb aufgeklärten.

Ich finde diese Aussage ziemlich fehl am Platz, denn erstens wird darin die Gewalt, die in tatsächlichen Menschenzoos im 19. und 20. Jahrhunderts verübt wurde, relativiert und verharmlost, zweitens liegt der Aussage ein Misstrauen gegenüber den Möglichkeiten von Darstellung zugrunde, ähnlich wie Adornos „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch.“ Gilt es, jegliche Form der Darstellung zu vermeiden? Kann sie nicht auch emanzipatorischen Charakter haben? Der Genozid an den Ovaherero und Name war auch das Auslöschen einer ganzen Kultur, und laut Aussage Kraumes und Jazamas gibt es nur wenige bildliche Zeugnisse von Kleidungsweisen etwa. Der Film ist der Kostümbildnerin Cynthia Schimming gewidmet, die sich in ihren Arbeiten mit dem kulturellen Erbe Namibias beschäftigte, zum Beispiel in der Modeserie „A United World for Future Generations; Beyond Time, Beyond Oceans“ oder in ihren Kostümdesigns für die Unabhängigkeitsfeier Namibias 2015. Repräsentation matters, und wenn Herr Kraume in seiner Filmproduktion die Ressourcen zur Verfügung hat, Herero-Kostüme gestalten zu lassen, dann ist das mit namibischer Beratung doch auch ein kleines Stück zurückgewonnenes Kulturerbe.

Es sei Herrn Rebhandl zugestanden, dass die eingesetzten filmischen Mittel weder sehr experimentell noch sehr kreativ sind, so ist der Sound nicht besonders, die Kameraführung klassisch, die Bildausschnitte konservativ. Das wäre aber auch nicht Kraumes Stil, und der Film behauptet auch nicht, mehr tun als die Geschichte eines deutschen Ethnologen zu erzählen, der im Dienst der europäischen rassistischen Wissenschaft Schädel sammelte. Die Thematik der zehntausenden menschlichen Gebeine, sogenannte Human Remains, die bis heute in europäischen Museen, Krankenhäusern und Sammlungen lagern zu beleuchten, ist so lange wichtig, bis es Repatriierungen im großen Stil gibt. Bei einem Großteil der Bevölkerung ist das Wissen darüber, und über die grauenhaften Hintergründe, nämlich noch nicht angekommen.

Allein die Tatsache, dass Kraume die Erzählung als (wenn auch einseitige) Liebesgeschichte zwischen Hoffmann und Kunouje anlegen wollte, bevor die Hauptdarstellerin, die auch Filmemacherin ist, ihn davon abbrachte, zeigt doch, dass er nicht mehr und nicht weniger machen wollte, als einen massentauglichen Kinofilm zu produzieren.

Immerhin hat sich mal einer der Thematik angenommen ...

Fazit: Der Verdienst des Filmes ist, dass er sich der Thematik des deutschen Genozids an den Ovaherero und Nama annimmt, was 119 Jahre nach dem Vernichtungsbefehl durch Lothar von Trotha in einem Land, das sonst auch viel von historischer Aufarbeitung hält, reichlich spät ist. Der Titel ist brillant, die Hauptdarstellerin ebenso. Die künstlerischen Mittel sind mit Sicherheit nicht erschöpft, aber „Der vermessene Mensch“ ist ein guter Ausgangspunkt einer hoffentlich multiperspektivischeren Aufarbeitung dieses weiteren dunklen Kapitels der deutschen Geschichte.

Es bleibt zu hoffen, dass im Rahmen der deutschen Restitutionszahlungen an Namibia auch viel Geld für künstlerische Produktionen ausgeschüttet werden wird, denn die strukturellen Ungleichheiten behindern natürlich leider noch die (ästhetische) Multiperspektivität, und gerade das Kino ist ein unglaublich kapitalintensives Medium, das im globalen Norden wesentlich besser ausgestattet ist mit Ressourcen.

Die Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW) zeichnet den Film mit dem Prädikat „besonders wertvoll“ aus. „Die Jury war der Ansicht, dass es Lars Kraume trotz der Schilderung aus weißer Perspektive […] gelungen ist, dem unfassbaren Grauen insbesondere des kolonialen Vernichtungskrieges gegen die Hereros und Nama in Bildern Ausdruck zu verleihen.“ Dem kann man schon zustimmen.

Historischer Hintergrund:

Zwischen 1904 und 1908 verübte die sogenannte Schutztruppe des Deutschen Kaiserreiches in der ehemaligen Kolonie “Deutsch-Südwestafrika”, dem heutige Namibia, einen Genozid an den OvaHerero und Nama, dem schätzungsweise 50.000 bis 70.000 Menschen zum Opfer fielen. Dieser auf Befehl des deutschen Generals Lotha von Trotha ausgeführte Vernichtungskrieg ist gemessen an den Kriterien der UN-Völkermordkonvention von 1948 als Genozid einzuordnen.

Die Nachfahren der Opfer des Genozids forden seit Jahrzehnten eine Anerkennung und Aufarbeitung dieser Verbechen. Seit 1990 sucht auch die namibische Regierung einen entsprechenden Dialog. Dabei geht es auch um die Forderung nach symbolischer und materieller Entschädigung (“restorative justice”).

Während der Kolonialzeit wurden Kulturgüter, zum Beispiel Gegenstände des täglichen Gebrauchs, Kunstgegenstände oder religiöse Gegenstände, sowie Körperteile von verstorbenen Menschen oft unter Anwendung von Gewalt geraubt und nach Europa verschickt. Dort wurden sie hauptsächlich zur Beschreibung der kolonial unterdrückten Gesellschaften genutzt, da die Europäer*innen deren kulturellen Traditionen durch die Kolonisierung gefährdet wussten. Geraubte menschliche Überreste wurden objektiviert und vor allem für die sogenannte ‘Rassenforschung’ genutzt, die eine vermeintlich biologische Überlegenheit von Europäer*innen belegen sollte.

Restitution und Restituierung beschreiben Rückgabeprozesse. Schon lange fordern Herkunftsgesellschaften geraubte Gegenstände und Gebeine zurück, vor allem in der jüngeren Vergangenheit wurden zunehmend Rückgabeforderungen gestellt. Da ehemalige Kolonialmächte und Institutionen im Besitz von sogenannten kolonialen Sammlungsgütern bis vor wenigen Jahren kaum Bereitschaft zur Restitution zeigten, wurden Herkunftsgesellschaften im Restitutionsprozess vor erhebliche Schwierigkeiten gestellt. Fehlende internationale rechtliche Vorgaben und Streitigkeiten über die rechtmäßigen juristischen und moralischen Besitzansprüche, sowie mangelnde Kenntnisse zur Provenienz (Identifizierung, Herkunft, Weg des ‘Erwerbs’) von Kulturgütern sind hierbei einige Beispiele.

Weitere Infos zur Deutschen Kolonialgeschichte gibt es zum Beispiel bei Leipzig Postkolonial.

Jona Krützfeld wohnt in Leipzig und ist studierte Kulturwissenschaftlerin, dekoloniale Aktivistin und Gründerin von akono. Im Bereich der Literaturen Afrikas interessiert sie sich besonders für Orature, historische Fiktion, Weiblichkeit und Feminismus und Erzählungen mit politischer und philosophischer Botschaft.

Bildheader: „Der vermessene Mensch“ | Boell Calendar

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Kleines Land

Kleines Land
von Mathijs Cazemier

Am 7. April 2022 war es 28 Jahre her, dass der Völkermord in Ruanda begann. In Petit Pays (Kleines Land) bietet Gaël Faye einen neuen Blick auf die Ereignisse, mit besonderem Schwerpunkt darauf, wie der ethnische Konflikt in den burundischen Bürgerkrieg überging. Das Buch, das aus der Perspektive eines in Burundi lebenden ruandisch-französischen Jungen geschrieben wurde, hinterfragt falsche Vorstellungen über die Zeit, die zu der Tragödie führte, und beleuchtet die komplexen psychologischen Dimensionen des Völkermords. Zwischen Melancholie, Terror und Desillusionierung bietet Petit Pays einen bahnbrechenden und aufschlussreichen Blick auf eine der dunkelsten Seiten der afrikanischen Geschichte, die im Westen oft missverstanden wird.

In der frankophonen Welt ist Faye als Plattenkünstler bekannt. Sein gleichnamiger Song „Petit Pays“ aus dem Jahr 2011 wurde von einem farbenfrohen Musikvideo begleitet, das in den üppigen Hügeln von Burundi gedreht wurde. Der Song ist eine Fortsetzung von Protagonist Gabys Geschichte und beschreibt seinen Kampf, sich von seinen traumatischen Erlebnissen in Burundi zu erholen, wobei das Schreiben seine einzige Flucht vor der Vergangenheit darstellt. In dem Lied beschreibt Faye, wie Völkermorde eine komplexe Kombination aus Wut und Schuld bei Überlebenden wie Gaby hervorrufen, die sich oft zwischen „Selbstmord und Mord“ befinden. Das Schreiben ist ein sicherer und neutraler Weg, sich diesem Trauma zu stellen und die psychologischen Verwicklungen des Völkermordes in einer Welt, in der eine nach gut und böse aufgeteilte Interpretation der historischen Ereignisse die Norm ist, nach außen zu tragen.

Eine filmische Interpretation des Romans kam 2020 in die Kinos. Der Film, bei dem Eric Barbier Regie führte, wurde von der Kritik gelobt und bildet die letzte Facette von Fayes multimodalem Werk Petit Pays.

 

Der Roman ist das Herzstück dieses Projekts. Trotz seines fiktionalen Charakters ist die Hauptfigur, ein 11-jähriger Junge mit dem Spitznamen Gaby (kurz für Gabriel), unverhohlen von Fayes eigener Kindheit inspiriert. Gaby lebt in Kinanira, einem wohlhabenden Expat-Viertel in Bujumbura, mit seinem Vater, dem Familienkoch Prothé, dem Fahrer Innocent und seinen Freunden, mit denen er in einem verlassenen Volkswagen Kombi gerne Mangos isst. Die ersten Kapitel des Buches sind von Freude und Melancholie durchdrungen, während der Leser die Emotionen und Empfindungen dieses Kindes kennenlernt, das sich nur mit Entdeckungen und Schatzsuche beschäftigt. Von der Entdeckung der Wunder des Tanganjikasees bis hin zum Besuch verlassener Palmölfabriken wird Gabys Kindheit im Kontrast zu den alltäglichen Nöten der Burunder als bunte Anomalie inmitten der grassierenden Armut des Landes geschildert. Gabys Blase hat jedoch nicht dauerhaft Bestand; sie zerplatzt schließlich nach der Trennung seiner Eltern und dem Staatsstreich, der den neu gewählten Präsidenten Melchior Ndadaye am 21. Oktober 1993 stürzte.

Africa is a Country

Dieser Artikel erschien im Original auf englisch unter dem Titel “the missing pieces” bei Africa is a Country.

Im burundische Bürgerkrieg, der oft von den Ereignissen in Ruanda überschattet wird, standen sich ebenfalls eine Hutu-Mehrheit und eine Tutsi-Minderheit (zu der Gabys Mutter gehört) gegenüber. In der zweiten Hälfte des Romans wird Gaby mit neuen Realitäten konfrontiert. In einem politischen Kontext, in dem er als ethnischer Tutsi gezwungen ist, Partei zu ergreifen, wird Gaby von Desillusionierung, Misstrauen und Zweifeln geplagt. In dem Maße, in dem ethnischer Hass den öffentlichen Diskurs zu durchdringen beginnt, ändert sich Gabys Haltung gegenüber seinen Verwandten, Freunden und Bekannten. Indem sich Gaby im Laufe des Romans allmählich politisiert, wendet sich Faye gegen das Missverständnis, der Konflikt zwischen Hutus und Tutsis sei einfach aus heiterem Himmel entstanden. Stattdessen beleuchtet der Autor die umfangreiche Propaganda zur Spaltung der Bevölkerung und die komplexen psychologischen Manipulationen, die von den verschiedenen Akteuren des Völkermords – von den Regierungen bis zur Zivilgesellschaft – durchgeführt wurden. Westliche Historiker, Politikwissenschaftler und Organisationen wie Human Rights Watch haben oft behauptet, dass der Völkermord hätte verhindert werden können, wenn die internationalen Akteure härter durchgegriffen hätten. Dies ist sicherlich richtig, aber der Völkermord fand nicht im luftleeren Raum statt, und das Ausmaß der Ereignisse zu begreifen, war laut Faye damals eine komplexe Aufgabe.

Petit Pays Filmplakat

Der Roman hilft den Leser:innen, diese Komplexität zu begreifen: Sein Ich-Erzählstil ermöglicht es, in Gabys physische und psychologische Umgebung einzutauchen. Als Leser:in können wir uns in alle Bemühungen Gabys einfühlen – als wären wir selbst indirekt davon betroffen – selbst wenn er auf den letzten Seiten des Romans gezwungen wird, einen Hutu-Mann zu ermorden. Dennoch vermeidet Faye eine übermäßige Verwendung melodramatischer Sprache und entscheidet sich bewusst dafür, einen realistischen Roman zu schreiben. Seiner Meinung nach ist der Völkermord ein Ereignis, das die Literatur nicht in seiner Gesamtheit beschreiben kann. Gabys Verständnis des Völkermords ist daher sehr begrenzt und beschränkt sich auf seine persönlichen Erfahrungen – und damit auch auf das der Lesesenden.

Afrikanische historische Ereignisse wie der Völkermord in Ruanda und der Bürgerkrieg in Burundi werden allzu oft durch die Brille der westlichen Welt betrachtet. Die Erinnerung an diese Ereignisse ist daher von einer europäischen Voreingenommenheit geprägt, während neue Stimmen und Interpretationen es schwer haben, an die Oberfläche zu gelangen. Geschichte ist viel mehr als nur eine lineare, einseitige Zeitachse, und neue Erzählungen wie die von Gaby wurden oft aufgrund von Ethnie, Geschlecht oder Nationalität ausgeklammert. Das ist ein Fehler, denn Werke wie Petit Pays ermöglichen es uns, Geschichte neu zu denken und die gängige Art des Erinnerns zu hinterfragen. Es müssen gemeinsame Anstrengungen unternommen werden, um diesen neuen Erzählungen mehr Gewicht zu verleihen, denn sie sind entscheidende fehlende Teile des Puzzles, das wir Geschichte nennen.

Mathijs Cazemier ist Student an der Universität Leiden (Niederlande) und Mitbegründer des Kunst- und Medienblogs BetweenUs.

Gefördert durch die Kulturstiftung des Freistaates Sachsen. Diese Maßnahme wird mitfinanziert durch Steuermittel auf der Grundlage des vom Sächsischen Landtag beschlossenen Haushaltes.

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Verfluchte Erbstücke

Verfluchte Erbstücke
von Tsogo Kuba

Vor zwei Jahren schrieb ich einen Artikel über die afrikanische Netflix-Serie Queen Sono, in dem ich meine Bedenken über die Zukunft von Netflix in Südafrika äußerte. Meine Einschätzung war, dass Queen Sono tapfer versuchte, das eindeutig amerikanische Genre des Spionagethrillers in ein südafrikanisches Umfeld zu übertragen, das, so gut es auch gemeint war, die erwarteten Ungereimtheiten bei der Adaption des Genres in einem Kontext, der räumlich und zeitlich weit von seinem Ursprung entfernt ist, nicht überwinden konnte. Die Schwächen von Queen Sono scheinen einen breiteren Trend widergespiegelt zu haben, der vor allem in Film und Fernsehen auftritt, aber auch in anderen Kulturindustrien zu beobachten ist, wo die südafrikanische Kunst unter dem Einfluss der amerikanischen kulturellen Hegemonie mit ihrer eigenen Identität ringt. Die südafrikanischen Netflix-Originals der nachfolgenden Jahre haben meine Befürchtungen nicht widerlegt. Vielmehr noch haben sie einen Elefanten im Raum beleuchtet, den ich bei der Bewertung von Netflix‘ Eindringen übersehen hatte – nämlich die Dominanz von Seifenopern in der südafrikanischen Fernsehindustrie.

Südafrikas erste Seifenoper der demokratischen Ära, eGoli: City of Gold, wurde 1992 erstmals ausgestrahlt und bald darauf von der berühmteren Generations abgelöst, die von der South African Broadcasting Corporation (SABC), der öffentlichen Rundfunkanstalt des Landes, in Auftrag gegeben wurde. Während des demokratischen Übergangs bemühten sich die SABC und der Privatsender M-Net um die Förderung und Darstellung eines positiven und multi-ethnischen Südafrikas, indem sie die Schwarzen Südafrikaner:innen als wohlhabend und aufstrebend darstellten und sie beruflich und gesellschaftlich mit anderen Rassen zusammenführten. Die „Soapies“ dieser Zeit stellten ein neues Südafrika dar und zeigten, wie die neuen Südafrikaner:innen darin aussehen könnten. Obwohl Seifenopern oft keine gesellschaftspolitische Bedeutung beigemessen wurde, fungierten sie für viele Südafrikaner:innen als soziokulturelle Barometer. Neuere Interpreten lokaler Soaps erforschen die Lebenserfahrungen und brisanten Themen, die den Durchschnitts-Südafrikaner betreffen, und erzielen dabei hohe Einschaltquoten bei öffentlichen und privaten Sendern. Soaps sind im gesellschaftlichen Leben allgegenwärtig, und das Publikum entwickelt folglich parasoziale Beziehungen zu den Figuren und Handlungssträngen einer Soap. Die Episoden des Vorabends sind in vielen Bereichen des südafrikanischen Lebens Gesprächsthema – vom Taxistand über den Schulhof bis zur Kantine am Arbeitsplatz. Diese eingefleischte Zuschauerschaft ermöglicht es den Sendern, teure Werbung zur Hauptsendezeit zu verkaufen, was enorme Gewinne einbringt.

Es überrascht nicht, dass die Zahl der Soaps in Südafrika im Laufe der Jahre exponentiell gestiegen ist. Heute haben vier der fünf frei empfangbaren SABC-Kanäle eine Reihe von Soaps im Programm, die zur Hauptsendezeit ausgestrahlt werden. Seifenopern belegen derzeit die ersten zehn Plätze der meistgesehenen Fernsehprogramme des Landes. Der Großteil der Zuschaueranteile im südafrikanischen Fernsehen beruht auf dem Modell der Seifenoper. Es ist schwer zu glauben, dass diese Situation rein zufällig ist. Da die SABC exponentiell Geld verliert – aufgrund der Misswirtschaft von Führungskräften des Senders bis hin zu unabhängigen Produktionsfirmen -, bleiben die Seifenopern eine der beständigsten Einnahmequellen für den angeschlagenen Sender und immer noch ein Grundpfeiler der südafrikanischen Industrie.

Wenn es um Gewinnmaximierung durch Inhalte geht, ist Netflix nicht unerfahren. Nachdem sich das Unternehmen mit seinen relativ gewagten und von der Kritik gefeierten Serien (darunter House of Cards, Orange is the New Black, Stranger Things und Black Mirror) einen Namen gemacht hat, scheint es in letzter Zeit vor allem darum zu gehen, eine Flut von Inhalten zu produzieren, um seine Plattform zu unterstützen. Da sich immer mehr Sender von Netflix abspalten, um ihre eigenen Streaming-Plattformen zu starten (Disney+, Peacock, HBO Max), und neue konkurrierende Anbieter auf den Markt drängen (Apple TV, Amazon Prime), werden die Regeln des Wettbewerbs weniger durch den Kampf „echte Kunst gegen Inhalte zur Unterstützung einer Plattform“ bestimmt. Vielmehr geht es darum, so viele Inhalte wie möglich anzubieten – eine Veränderung, die durch die COVID-19-Pandemie und die Aufholjagd von Netflix gegenüber einer zunehmenden Zahl größerer und etablierterer Sender wie NBC und Disney, die über eingebaute Kataloge mit beliebten Serien und Filmen zur Unterstützung ihrer Streaming-Plattformen verfügen, vorangetrieben wurde. Angesichts der Tatsache, dass das Publikum viel mehr verfügbare Zeit und weniger verfügbares Einkommen zur Verfügung hat, sowie der zunehmenden Konkurrenz auf einem Markt, den Netflix einst monopolisiert hat, scheint Netflix davon auszugehen, dass sich die Zuschauer weniger um die Qualität dessen sorgen, was sie sehen, als vielmehr um die Quantität des Angebots.

Africa is a Country

Dieser Artikel erschien im Original auf englisch unter dem Titel “Cursed heirlooms” bei Africa is a Country.

Südafrikanische Filmemacher:innen haben eine vertrauensvolle Beziehung zu Netflix aufgebaut, indem sie mit dem von lokalen Trends unabhängigen Unternehmen Serien entwickeln und produzieren. Für Netflix dient die Partnerschaft nicht nur der Ergänzung seines globalen Content-Streams, sondern Südafrika scheint ein perfekter Weg zu sein, da seine eigene Industrie der effizienten Maximierung von Inhalten Priorität eingeräumt hat – ein offensichtlicher Übergang zur Streaming-Industrie. In den späten 2000er und frühen 2010er Jahren entwickelte sich das Fernsehen zu einem immer stärker von Autoren geprägten und dramaturgisch fesselnden Format. Das amerikanische Fernsehen zog Hollywood-Schauspieler, Autoren und Regisseure an, die Budgets wuchsen, die Laufzeiten wurden länger und die Erzählweise reifte. Der kleine Bildschirm begann, nuancierte, moralisch zweideutige und psychologisch reichhaltige Charaktere zu zeigen, die in komplexe und sorgfältig ausgearbeitete Geschichten eingebunden waren. Prestige-Dramen und anspruchsvolle Komödien wie Breaking Bad, Atlanta, Girls, The Sopranos und viele andere zeigten Zuschauer:innen, Kritiker:innen und Produzent:innen gleichermaßen, dass der kleine Bildschirm seinem großen Pendant in künstlerischer Hinsicht ebenbürtig sein konnte. Zwar spricht vieles dafür, dass einige der Elemente dessen, was umgangssprachlich als „Peak TV“ bezeichnet wird, ihren Ursprung in der Seifenoper haben, doch findet sich das Genre heute unter den TV-Relikten neben 30-minütigen Sitcoms mit mehreren Kameras und Familienspielshows wieder.

Letztlich geht es bei allen Seifenopern weniger um eine sinnvolle, durchdachte und geschickte Handlung, sondern vielmehr um das Bemühen, die Sendeanforderungen des Genres zu erfüllen. Dies sind Zugeständnisse, die die meisten Zuschauer:innen für die Bequemlichkeit täglicher Episoden bis ins Unendliche passiv hinnehmen.

Die Dominanz jeder Form von Fernsehen kann problematisch sein. Das Spitzenfernsehen, so sehr es auch geschätzt wurde, hatte eine begrenzte Lebensdauer und seine eigenen schädlichen Eigenschaften und Folgen. Im Gegensatz zu Peak TV hat das Genre der Seifenoper einen besonders schädlichen Einfluss, da seine erzählerischen Konventionen auf eigentümliche Weise mit seinen einzigartigen Sendeanforderungen verbunden sind. Wenn es darum geht, die Tradition der Seifenoper an andere Fernsehformen, insbesondere an die Serienform, anzupassen, ist es unklug, ja sogar destruktiv, das Kind mit dem Bade auszuschütten und das Baby zu behalten. Dieser Kampf hat die südafrikanischen Netflix-Shows geprägt. Die Omnipräsenz von Soaps führt dazu, dass die meisten, wenn nicht sogar alle Filmemacher, die im Fernsehen arbeiten, einen großen Teil ihrer Karriere diesem Genre verdanken, und so fällt es ihnen schwer, aus seinen sehr speziellen Parametern auszubrechen.

Abgesehen vom Budget besteht der unmittelbarste Unterschied zwischen einer Serie und einer Soap darin, dass Serien ein Ende haben. Für Soaps ist es charakteristisch, dass sie kein Ende haben. Daher ist es unmöglich, außerhalb der jeweiligen Prämisse einer Soap die konzeptionelle Gesamtheit einer Soap wirklich zu erfassen. Das Problem, einen überzeugenden Weg zu finden, Geschichten zu beenden, Handlungsstränge entlang eines Bogens auszurichten und ein ausgewogenes Tempo zu finden, ist ein wiederkehrendes Problem bei südafrikanischen Netflix-Originalen.

Jiva! ist trotz seiner vielen Reize ein deutliches Beispiel dafür. Die Serie ist ein Tanzdrama (à la Step-Up), das die Geschichte einer jungen Frau, Ntombi (Noxolo Dlamini), erzählt, die einen aussichtslosen Job als Fremdenführerin im örtlichen Wasserpark hat, aber alles riskiert, um ihren Traum zu verfolgen, professionelle Tänzerin zu werden. Jiva! bietet in seiner acht Episoden umfassenden ersten Staffel eine Vielzahl von Handlungssträngen, von denen jedoch nur eine Handvoll fesselnd wirkt, weil die meisten nicht mit dem zentralen Thema der Serie zusammenhängen. Alles andere verfällt in eine vorhersehbare Liebesgeschichte, sobald es den Raum des zentralen Tanzwettbewerbs verlässt.

Thematische Widersprüche tauchen in ähnlicher Weise in Blood and Water auf, der zweiten südafrikanischen Koproduktion, die nach Queen Sono auf Netflix debütiert und bei ihrem Start weltweit auf Platz 1 landete. Über die beiden Staffeln hinweg leidet die Serie an einer akuten Identitätskrise. Manchmal sehnt sie sich danach, ein düsterer und spannender Thriller zu sein, was der Autor Nosipho Dumisa-Ngoasheng, der bereits eine Adaption von Alfred Hitchcocks Rear Window geschrieben hat, mehr als gut beherrscht. Aber es will auch die sorglose Ernüchterung eines Gossip Girl, in dem die Teenager so fantastisch von den Eltern oder jedem Anzeichen von Adoleszenz oder Verantwortung entfernt sind.

Blood and Water folgt Puleng Khumalo (Ama Qamata), einem Mädchen im Teenageralter, das sich an einer angesehenen Privatschule in Kapstadt einschreibt, weil es vermutet, dass eine der Schülerinnen, Fikile Bele (Khosi Ngema), ihre ältere Schwester ist, die kurz nach ihrer Geburt von ihren Eltern entführt wurde. Im Laufe der ersten Staffel, in der Pulengs Versuche, zu beweisen, dass Fikile ihre Schwester ist, immer gefährlicher und oft auch hirnrissiger werden, wird der/die Zuschauer:in an die Leere erinnert, die ihre zerrüttete Familiendynamik darstellt, und daran, warum sie verzweifelt versucht, das Geheimnis zu lösen. Der zweiten Staffel fehlt die thematische Grundlage, die der ersten Staffel den Fokus gegeben hat, und wie Jiva! kämpft sie damit, eine fesselnde Geschichte oder Handlung außerhalb der Haupthandlung aufrechtzuerhalten. Die Handlung wird in der zweiten Staffel unbeholfen vorangetrieben, ihre ergänzenden Nebenhandlungen werden routinemäßig aufgegriffen, vergessen, abgehackt und verändert, ohne dass es eine Auflösung gibt. Das Hinzufügen neuer Charaktere fühlt sich aufregend an, ist aber gegen Ende der Staffel unerheblich.

Fairerweise muss man sagen, dass schlechtes Schreiben schlechtes Schreiben ist, unabhängig davon, ob dieses schlechte Schreiben in einer Branche angesiedelt ist, die von einer speziellen Art des Geschichtenerzählens geprägt ist. Der Austausch von Handlungssträngen in dieser Art und Weise erinnert an die Traditionen des Geschichtenerzählens in Soap-Serien, in denen eine Vielzahl von tangentialen und ungelösten Handlungssträngen üblich ist, um das wochentägliche Sendeprogramm zu unterstützen. Die Handlungsstränge haben keine saubere Auflösung, und Nebenhandlungen, Wendungen und Charaktere werden in einem schwindelerregenden Tempo entwickelt, fallen gelassen und wieder aufgegriffen. Diese Merkmale wären in einer Seifenoper zu Hause, aber in einer Staffel mit einer Laufzeit von acht bis zehn Episoden führt dies zu einem Mangel an Fokus und Kohäsion.

Der nagende und ausufernde Einfluss von Soaps hindert südafrikanische Serien daran, jemals die Art von charakteristischer und nuancierter Erzählung zu erreichen, die zum Beispiel Squid Game zu einem durchschlagenden Erfolg machte. Außerdem ist die Produktion von 260 Episoden in einem einzigen Jahr eine gigantische Aufgabe für jede Produktionsfirma. Die enorme Arbeitsbelastung hat dazu geführt, dass sich viele Beschäftigte in der südafrikanischen Filmindustrie über Überlastung und Unterbezahlung beklagen. Angesichts von mehr als einem Dutzend Soaps, die derzeit in einer relativ kleinen Branche produziert werden, fragt man sich, ob die Rahmenbedingungen tragfähig sind. Was wir brauchen, ist eine rigorosere Hinterfragung des Stands der Dinge, anstatt eine passive Akzeptanz der Industrie als den aktuellen Stand der Dinge. Wenn Hit-Shows wie Is’thunzi, Tjovitjo, Hopeville oder Yizo Yizo uns etwas gezeigt haben, dann dass die Südafrikaner:innen in der Lage sind, sich für das Serienfernsehen zu interessieren und es zu unterstützen. Die südafrikanischen Netflix-Serien des letzten Jahres sind ein Zeichen dafür, dass die Hegemonie der Seifenopern bei weitem kein Einzelphänomen ist; ihr Einfluss engt offensichtlich die kreative Vorstellungskraft ein, wie lokales Fernsehen aussehen und sich anfühlen kann.

Dabei geht es nicht darum, die lange Geschichte der Seifenopern und die wichtige Rolle, die sie im Leben von Millionen von Südafrikaner:innen spielen, zu verharmlosen, sondern darum, als Produzierende und Konsumierende von Inhalten zu fordern, dass die Soap nicht das einzige Genre ist, von dem die Fernsehindustrie lebt.

Tsogo Kupa ist Schriftsteller und Filmemacher aus Johannesburg.

Gefördert durch die Kulturstiftung des Freistaates Sachsen. Diese Maßnahme wird mitfinanziert durch Steuermittel auf der Grundlage des vom Sächsischen Landtag beschlossenen Haushaltes.

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Lagos Street Boys

Lagos Street Boys
Interview mit Filmemacher Tolulope Itegboje
von Dika Ofoma

Der schlimmste Albtraum für Nigerianer:innen ist eine Begegnung mit den Area Boys, auch bekannt als Agbero. Area Boys sind locker organisierte Banden von jugendlichen und jungen erwachsenen Männern, die in den südnigerianischen Städten Aba, Onitsha, Port Harcourt, Benin, Ibadan und Lagos agieren, wo sie besonders berüchtigt sind. Sie erpressen Geld von Passanten, Händlern, Autofahrern und Fahrgästen, stehlen, gehen mit Drogen hausieren und werden bei Wahlen zu Erpressungsinstrumenten für betrügerische Politiker, die dafür eine finanzielle Entschädigung erhalten. Aber was wissen wir sonst noch über Area Boys?

Der Begriff „Area Boy“ bezeichnete ursprünglich jeden, der sich mit der Straße, dem Ort oder der Gegend, in der er wohnt, identifizierte. Diese jungen Männer (und manchmal auch Frauen) schlossen sich in einer Art soziokultureller Organisation zusammen und erfüllten Aufgaben in ihren Gemeinden, die unter anderem darin bestanden, de facto als Sicherheitspersonal zu fungieren und lokale Feste zu organisieren.

Das war in den 70er und Anfang der 80er Jahre. In den späteren 80ern kam es zu einer repressiven Militärführung, die nicht nur die Bildung vernachlässigte, sondern auch eine Politik einführte, die wirtschaftliche Härten mit sich brachte und viele Familien in die Armut stürzte. Die Eltern konnten ihre Kinder nicht mehr zur Schule schicken. Die Jugendarbeitslosigkeit nahm überhand. Eine weitere Folge war, dass einige dieser jungen Männer, die sich in den Dienst ihrer Gemeinden gestellt hatten, zu terrorisierenden Ganoven mutierten. Heute werden sie wegen ihrer Kriminalität verleumdet und stigmatisiert.

Tolulope Itegbojes ergreifender und zu Herzen gehender Film Awon Boyz, der derzeit auf Netflix zu sehen ist, ist ein Dokumentarfilm, der sich mit der anderen Seite der Lagoser Straßenjungen beschäftigt. Ohne ihre ruchlosen Aktivitäten zu billigen, bietet er ihnen die Gelegenheit, ihre Geschichten zu erzählen. Und was sie bieten, ist eine ausgewogene Erzählung über ihr Leben, die es uns ermöglicht zu verstehen, wer sie sind und warum sie so sind. Ich sprach mit Itegboje über den Film, die Inspiration dahinter, seine Entstehung und die Notwendigkeit, die Straßenjungen von Lagos zu vermenschlichen.

Area Boys, vor allem die in Lagos, sind berüchtigt. Und das nicht ohne Grund; fast jeder Nigerianer wurde von ihnen schonmal bestohlen oder erpresst. Warum hielten Sie es für wichtig, sie zu vermenschlichen, indem Sie ihre Geschichten erzählen?

Das ist eine ziemlich gute Frage. Sie haben Recht, wenn Sie sagen, dass die Jungs aus der Gegend nur für ihre Berühmtheit bekannt sind, insbesondere als Werkzeuge für Gewalt. Auch wenn einige Aspekte davon wahr sind, so ist es doch ein einseitiges Narrativ. Der Grund, warum es wichtig war, sie zu vermenschlichen, war, dies in Frage zu stellen und ihre Menschlichkeit anzuerkennen, indem wir ihre ganze Geschichte erzählen. Denn zu ignorieren, dass sie Menschen sind wie wir, bedeutet, sie als weniger wert zu behandeln. Denn wenn wir so tun, als hätten sie keine gemeinsamen Werte, keine gemeinsamen Erfahrungen mit uns, wird es zu einem Fall von wir gegen sie. Oder sie gegen uns. Und um ehrlich zu sein, sind wir in gewisser Weise gleich. Wir haben ähnliche Hoffnungen und Träume. Ich glaube nicht, dass irgendjemand aufwacht und beschließt, dass er ein Junge aus der Gegend sein will. Viele von uns in privilegierten Positionen müssen erkennen, dass wir uns in einer ähnlichen Situation befinden könnten, wenn das Schicksal und die Umstände es nicht so wollten.

Das stimmt. Ich war erstaunt, wie bereitwillig sie auch das kleinste Detail aus ihrem Leben erzählten. Ich schätze es auch, dass es keine Off-Stimme gab, die ihr Leben erzählte und uns sagte, wer sie waren. Was auch immer wir über die Jungen aus der Gegend herausfinden, wir haben es aus ihren Erzählungen gewonnen. War das eine bewusste Entscheidung?

Ja, genau. Ganz genau. Und wissen Sie, dieses Projekt ist etwas Besonderes für mich, denn es ist eines der wenigen Male, dass ich als Filmemacher mit einer einzigen Absicht an die Sache herangegangen bin und genau diese Absicht auch erreichen konnte. Ich denke, ich sollte etwas zum Hintergrund dieses Dokumentarfilms sagen. Ich habe sechs Jahre lang als Produzent in einer Werbeagentur gearbeitet. Zu meinem Job gehörte die Produktion von TV-Werbespots, und dabei hatten wir natürlich auch mit Jungen aus der Gegend zu tun. Ich habe einmal ein Musikvideo in Ajah gedreht, und wir haben die Polizei und den Sicherheitsdienst angeheuert und nicht damit gerechnet, dass die Jungs aus der Gegend auftauchen würden, aber sie kamen. Und zu unserer Überraschung haben die Polizisten nichts getan. Sie waren sogar diejenigen, die uns baten, die Jungs aus der Gegend zu bezahlen. Von da an gab es bei jedem Dreh, bei dem ich eine Außenszene drehte, einen Teil von mir, der darauf vorbereitet war, die Jungs auszusortieren. Als ich sie dann sah und mit ihnen zu tun hatte, wurde mir klar, dass ich etwas über sie machen musste. Ursprünglich wollte ich einen musikalischen Kurzfilm über Area Boys machen und sie als diese coolen Typen darstellen, die niemandem Rechenschaft ablegen müssen. Aber dann wurde mir klar, dass das ohne eine Geschichte unvollständig wäre, und die kannte ich nicht. Also habe ich angefangen zu recherchieren, was mit den Area Boys passiert ist, und was mir dabei aufgefallen ist, war das, was du erwähnt hast, dass es nur eine einzige Geschichte über sie gibt.

Je mehr ich recherchierte, desto klarer wurde mir auch, dass es kein wirkliches Beispiel für einen Fall gab, in dem Jungen aus der Gegend ihre Geschichte erzählen durften. Die Medienberichterstattung konzentrierte sich auf diese eine Erzählung. Als ich den Film drehte, dachte ich daran, Interviews mit Menschen aus dem Alltag zu machen, die ihre Erfahrungen mit Jungen aus der Gegend erzählen. In diesem Fall erzählt ein Junge aus der Gegend seine Geschichte, und dann schneidet man zu jemandem, der erzählt, wie die Jungs aus der Gegend ihn ausgeraubt haben. In gewisser Weise fühlt es sich fast so an, als würden Sie ein Urteil fällen. Deshalb haben wir uns entschlossen, die Jungen aus der Gegend einfach ihre Geschichten erzählen zu lassen. Und das bedeutet nicht, dass wir alles, was sie tun, gutheißen, indem wir sie menschlich machen. Es war auch wichtig, dass sie sich mit der Gewalt, die sie verursachen, auseinandersetzen und die Verantwortung dafür übernehmen, wenn wir diese Geschichte erzählen. Deshalb gibt es einen ganzen Abschnitt, in dem wir mit den Jungs ein Gespräch über Gewalt führen und darüber, ob sie erkennen, wie zerstörerisch sie manchmal ist.

Ja, ich denke, es ist gut durchdacht. Du hast ihre Geschichten nicht verurteilt, und sie haben auch nicht versucht, sich von ihren Missetaten freizusprechen. Mir hat gefallen, dass sie zu ihren Taten gestanden haben und nur daran interessiert waren, uns zu erzählen, wie sie zu dem wurden, was sie sind.

Ja, das ist uns auch extrem aufgefallen: Wie unglaublich bewusst diesen Jungs die Art von Leben, das sie führen, ist.

Ich denke, was wir von Awon Boyz lernen, ist, dass diese Straßenjungen unterschiedlich sind, ihre individuellen Geschichten sind verschieden; was sie eint, ist die soziale Benachteiligung, die sie alle erlebt haben. Ich bin neugierig zu erfahren, wessen Geschichte Sie am faszinierendsten fanden und warum?

Um ehrlich zu sein, fällt es mir schwer zu sagen, wer besonders hervorsticht. Ich fand sie alle gleichermaßen faszinierend. Wenn man sich mit ihnen beschäftigt, kann man aus all ihren Geschichten Erkenntnisse und Lehren ziehen.

Also gut. Für mich war es Volume, der nach Lagos gekommen war, um seine Musikträume zu verfolgen, in einer Nacht all seine Wertsachen verlor und zum Zuhälter werden musste, um zu überleben. Sein zerplatzter Traum rührte mich fast zu Tränen. Ich wurde daran erinnert, wie unsicher das Leben ist.

Das ist interessant. Mir gefällt, dass er die Straße als Schlüssel zu seiner Geschichte sieht, aber dennoch das Bewusstsein hat zu sagen, dass er sie nicht für seine Kinder will.

Wie verlief der Schreib-/Schöpfungsprozess?

Der Prozess war sehr interessant. Ich habe etwa ein Jahr lang zu diesem Thema recherchiert, was im Nachhinein betrachtet eine wahnsinnige Zeitspanne war. Aber es brachte einige interessante Erkenntnisse darüber, wie ich die Gespräche mit den Jungs angegangen bin. Wir haben die Interviews gedreht, die am Ende sehr lang waren, und sie dann transkribiert. Ich habe eng mit einem wunderbaren Skript-Editor namens Omotayo Adeola zusammengearbeitet, um ein Skript bzw. einen Schnittleitfaden für die Redakteure zu erstellen. Aber ich finde, dass die Geschichte, wie wir sie jetzt haben, erst mit dem Schnitt zusammenkam. Wir begannen mit diesem schwierigen Prozess des Verschiebens von Material – wir nahmen Material heraus, fügten neues Material hinzu, um einen größeren emotionalen Kontext zu schaffen, drehten neues Material, um das, was die Jungs sagten, zu kontextualisieren; wir untersuchten die Beziehung zwischen bestimmten visuellen und erzählerischen Teilen, um die bestmögliche Geschichte zu erzählen. Dieser ganze Prozess hat ungefähr ein Jahr gedauert, und wenn ich Haare gehabt hätte, hätte ich sie mir in jeder Sekunde ausgerissen, bis wir zum Ende gekommen sind und alles wunderbar zusammengepasst hat.

Ich frage mich, ob die Darsteller von Awon Boyz den Dokumentarfilm schon gesehen haben? Was haben sie davon gehalten?

Sie haben ihn schon zweimal gesehen. Sie sahen ihn bei einer Vorführung auf dem iREP Film Festival, das jedes Jahr in Lagos stattfindet. Ich denke, es war uns wichtig, dass sie ihn auch bei dieser Vorführung gesehen haben. Es war allerdings auch eine Art Vertrauensvorschuss, denn es war das erste Mal, dass jemand außerhalb des internen Kernteams den Dokumentarfilm sah, und so wussten wir nicht, wie darauf reagiert werden würde. Aber es war erstaunlich, denn wir hatten Leute im Publikum, die geweint haben. Die Reaktion war überwältigend. Zu sehen, wie all diese Menschen sich mit ihren Geschichten identifizieren und sie in dieser Umgebung so willkommen heißen und umarmen, war für sie sehr beeindruckend. Sogar meine Eltern waren bei der Vorführung dabei. Im Anschluss daran lud mein Vater eine Gruppe von Geschäftsleuten aus seiner Kirche ein, den Dokumentarfilm noch einmal zu sehen. Das war etwas ganz Besonderes für sie, denn damit haben wir unser Ziel für den Dokumentarfilm erreicht, als wir das erste Mal mit ihnen sprachen. Wir wollten, dass die Leute sie in einem anderen Licht sehen. Für sie war das eine Art erfüllter Auftrag und ein wahr gewordener Traum.

Wir haben jetzt eine ausgewogenere Geschichte über die Area Boys. Wir sehen sie jetzt als mehrdimensional, nicht nur als Bedrohung für die Gesellschaft. Ja, sie erpressen Geld von Autofahrern, aber sie sind auch liebevolle Väter und wunderbare Freunde. Es hat etwas von sozialem Aktivismus, diese ganze Geschichte zu erzählen. Aber ich frage mich, ob Ihr Aktivismus darüber hinausgeht. Haben Sie Pläne, das Gespräch über die Jungen aus der Region zu vertiefen und dazu beizutragen, ihre Situation zu lindern? Fühlen Sie sich dafür verantwortlich?

Ja, das stimmt, wir fühlen uns sehr verantwortlich. Ich dachte, ich würde nur ein Jahr an diesem Film arbeiten, aber jetzt, drei Jahre nach den Dreharbeiten, spreche ich immer noch darüber. Ich unterhalte mich ständig mit den Jungs darüber, wie wir sie über die finanzielle Hilfe hinaus unterstützen können, was natürlich ein Aspekt ist, den wir nicht ignorieren können, wie Sie zu Recht betont haben. So haben wir unter anderem einen Teil der Einnahmen aus dem Film beiseite gelegt und jedem der Jungs zukommen lassen. Wir bringen sie auch in Kontakt mit Leuten, die sich gemeldet haben und helfen wollen. Und die Jungs wissen, dass sie mich anrufen können, um sie auf jede erdenkliche Weise persönlich zu unterstützen.

Aber wie ich schon sagte, geht das Gespräch darüber hinaus. Ich glaube, dass wir alle eine Verantwortung für diese Jungs haben. Wir alle haben eine Rolle zu spielen. Es reicht nicht aus, zu sagen, dass die Regierung dafür verantwortlich ist. Die Regierung kann es nicht allein tun. Private Organisationen müssen eine Rolle spielen, Einzelpersonen müssen eine Rolle spielen, gemeinnützige Organisationen müssen eine Rolle spielen. Als #EndSars passierte, waren wir diejenigen, die den Druck der kriminellen Elemente in der Folgezeit zu spüren bekamen. Wir müssen die Sache also ernst nehmen. Und ich glaube, das Wichtigste, was ich als Filmemacher hätte tun können, war, meine Stimme und meine Fähigkeiten einzusetzen, um darauf aufmerksam zu machen und Raum für Gespräche darüber zu schaffen, warum es wichtig ist, diese Leute zu verstehen, damit wir besser mit ihnen interagieren und zusammenleben können. Dabei geht es nicht nur um Geld, sondern auch um die Frage, wie wir gleiche Chancen für sie schaffen können. Wie verhindern wir, dass sie weiterhin ausgegrenzt und entrechtet werden? Wie können wir sie von den Rändern der Gesellschaft wegholen und wieder integrieren?

Dika Ofoma ist ein Kultur- und Unterhaltungskritiker aus Enugu, Nigeria.

Gefördert durch die Kulturstiftung des Freistaates Sachsen. Diese Maßnahme wird mitfinanziert durch Steuermittel auf der Grundlage des vom Sächsischen Landtag beschlossenen Haushaltes.

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Gefangen in der Geschichte

Gefangen in der Geschichte
Interview mit Filmemacher John Gutierrez - von Dylan Valley

Der neue in Kapstadt spielende Film des Regisseurs John Gutierrez handelt von Kolonialismus, Vertreibung und der komplizierten Beziehung des Menschen zur Natur.

Die Meeresschnecke Abalone ist eine heiße Ware auf dem Schwarzmarkt. Sie ist ein Luxuslebensmittel, besonders im Fernen Osten und in Europa begehrt. Es ist daher nicht verwunderlich, dass sie auch das Lebenselixier von Fischerfamilien der Arbeiterklasse ist, die die Meeresmolluske aus geschützten Gewässern wildern. Große Syndikate, die oft mit dem Drogenhandel oder Revierbanden verbunden sind, agieren als Zwischenhändler mit dem Markt. Südafrika, insbesondere die Küste um Kapstadt, ist ein wichtiger Knotenpunkt in diesem illegalen Handel. Erst Anfang dieses Monats hat die Polizei in Kapstadt an einem Tag 65 mutmaßliche Abalone-Wilderer festgenommen.

Sons of the Sea heißt der neue Spielfilm des mexikanisch-amerikanischen Regisseurs John Gutierrez. Der Film hatte seine Premiere bei Cinequest im März 2021 und wird erneut beim Durban International Film Festival in Südafrika zu sehen sein, das vom 22. Juli bis 1. August 2021 stattfindet. Der Film spielt an der Küste der False Bay in Kapstadt. Die Handlung folgt zwei Brüdern aus den „council flats“ von der armen Seite des malerischen Fischerdorfes und Touristenortes Kalk Bay. Einer der Brüder stolpert über eine Ladung gewilderter Abalonen, oder Perlemoen, wie sie vor Ort genannt werden. Der ältere Bruder Mikhail (Marlon Swartz) sieht darin eine Möglichkeit, dem Ghetto zu entfliehen, während der Fund für den jüngeren Bruder Gabe (Roberto Kyle) eher das Ende einer vielversprechenden Zukunft bedeuten könnte. Während sie einen Plan ausarbeiten, um die Abalone auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen, beginnt ein abtrünniger Stadtrat (Brendon Daniels), der seine eigene persönliche Tragödie zu bewältigen hat, sie zu jagen.

Ohne jemals didaktisch zu sein, berührt der Film die Themen Kolonialismus, Vertreibung und die komplizierte Beziehung des Menschen zur Natur. Es ist ein wunderschön gedrehter, authentisch gespielter Thriller, der gut auf Festivals laufen wird. Gutierrez lebt in Kapstadt (seine Lebensgefährtin ist die gefeierte südafrikanische Autorin und Regisseurin Nadia Davids, die Sons of the Sea mitproduziert hat), und wir trafen uns, um über den Film und seine Themen zu sprechen, über seine dokumentarische Herangehensweise an die Fiktion und die Ähnlichkeiten zwischen seiner Heimat Kalifornien und seinem derzeitigen Zuhause an der Spitze Afrikas.

DV: Dieses Projekt ist eindeutig ein Herzensprojekt. Wie hat das begonnen?

JG: Es begann 2013, als ein befreundeter Produzent und ich nach Kapstadt kamen, um eine Geschichte für einen Spielfilm zu suchen. Ich sagte ihm: „Alter, wir müssen den Zug nehmen, nach Kalk Bay fahren und du musst dir die Küste ansehen.“ Das taten wir und nahmen ein paar Kleinbildkameras mit, hingen im Hafen herum, machten Fotos und sprachen mit den Leuten … wir wussten, dass es dort etwas gab. Wir wussten nur nicht, was die Geschichte war, die ergab sich dann einfach im Hintergrund.

2018 hatte ich ein Drehbuch geschrieben, ich wurde (dem Produzenten) Khosie Dali durch Imran Hamdulay vorgestellt, der den Film auch produzierte und das Produktionsdesign übernahm. Ich schrieb ein Drehbuch mit dem Titel „Lie of the Land“ über eine weiße Familie, die in ein Haus in Protea Village einzieht, und die Leute, deren Haus es war, versuchen, es zurückzubekommen. Es war ein bisschen ehrgeizig für einen ersten Spielfilm, und Khosi meinte: „Ich glaube nicht, dass wir das mit 5.000 Dollar machen können!“ Ich habe niedrig angefangen. Ich wusste, wir könnten mehr Geld auftreiben, aber mir war klar, dass wir es mit wenig Geld machen mussten.
Also verwarf ich die Idee und beschloss, etwas im Dokumentarstil zu machen – mit ein paar Schauspielern und einer sehr einfachen Geschichte. Ich begann, über meine eigene Heimat in Kalifornien nachzudenken und über die Themen, die ich erforschen wollte, und ich wollte die Brüderlichkeit erforschen. Ich griff auf diese alte Geschichte aus der mexikanisch-amerikanischen Gemeinschaft zurück, in der es um einen Taucher namens Mechudo geht, der im Rahmen eines Wettbewerbs taucht. Er wird gierig und holt sich die größte Perle und stirbt im Wasser. Es gibt viele Adaptionen dieser Geschichte. Er war übrigens auch ein Yaqui-Indianer, das ist eine unglaubliche Volksgruppe, von der meine Familie abstammt. Diese Geschichte wurde von John Steinbeck in der Novelle Die Perle aufgegriffen und das wurden die beiden Inspirationen, von denen ich dachte, dass sie etwas sein könnten, das ich nach Kapstadt verpflanzen könnte. Von da an fing ich an, nach Kapstadt zurückzukehren und mit den jungen Leuten zu sprechen, die in den Fischerhütten leben, mit ihnen abzuhängen, sie beim Surfen zu beobachten und so weiter. Mich also der Geschichte aus einem dokumentarischen Blickwinkel zu nähern, ohne wirklich sicher zu sein, wohin sie führen würde. Ich hörte kleine Stücke von dem, womit sie täglich zu tun hatten. Etwa zur gleichen Zeit stieß ich auf das Buch The Poacher von [dem südafrikanischen Journalisten] Kimon de Greef, mit dem ich mich anfreundete. Und dann habe ich angefangen, tief in die Abalone-Szene einzutauchen, die echt unglaublich ist. Mir wurde klar, dass es hier nicht nur um Leute geht, die versuchen, das schnelle Geld zu machen, sondern um alles. Das ist eine globale Geschichte. Es geht um Menschen, die versuchen, von ihrem Meer zu leben, von dem sie nicht mehr leben können.

Bild aus Sons of the Sea

DV: Warum ist der Handel mit Abalone so eine große Sache auf dem Schwarzmarkt?

JG: Man kann in die Kriminalgeschichte einsteigen, wo es um Gangster geht, um die chinesische Triade, und es geht um Drogen, die in die Cape Flats gepumpt werden im Austausch für Abalone, die in China für Hunderte und Aberhunderte von Dollar verkauft wird. Für mich ist die Abalone, die Gabe und Mikhail finden, die Schatztruhe, der „McGuffin“, der einen durch die Geschichte führt. Im Kern der Geschichte geht es um eine Gruppe von Männern, die von einem Ort in der Welt kommen, die von diesem Ort gelebt haben, und sie wurden vertrieben. Aufgrund des systemischen Rassismus und der Geschichte des Kolonialismus kämpfen sie darum, an dem Ort zu überleben, von dem sie kommen. Und das ist eine universelle Geschichte, die sich mit meinen Leuten zu Hause verbindet; der Schwarzen Gemeinschaft, der Gemeinschaft der amerikanischen Ureinwohner:innen und der hispanischen Gemeinschaft. Wenn sie diesen Film sehen, sehen sie sich selbst darin reflektiert. Während ich also eine sehr spezifische südafrikanische Geschichte erzählte, erzählte ich in dieser Besonderheit eine globale Geschichte über das Braun- und Schwarzsein in einer Welt, die kolonisiert wurde.

DV: Es gibt definitiv viele historische und kulturelle Gemeinsamkeiten zwischen Kalifornien und Kapstadt. Haben Sie das bei Ihrer Arbeit auch bemerkt?

JG: Es gibt tiefgreifende Ähnlichkeiten in der Landschaft, besonders in der San Francisco Bay Area, wo ich herkomme, und in Kapstadt, diesem unglaublichen, atemberaubenden Zusammentreffen von Bergen und Meer. Dann gibt es die radikalen Unterschiede zwischen den Wohlhabenden und den Verarmten – obwohl diese Unterschiede in Kapstadt natürlich noch viel intensiver sind. Auf einer intimen Ebene spüre ich eine Vertrautheit zwischen dem farbigen Kapstadt und dem mestizischen Kalifornien – dieselbe Geschichte des kulturellen Zusammenstoßes, der Mischung aus Ureinwohner:innen, gewaltsam herbeigeholten Menschen und Siedlern. Auch andere Dinge sind vertraut: das Zusammenkommen der Familie in großer Zahl zum Essen, die Formung des Einzelnen als Teil eines Kollektivs, einer Gemeinschaft. Es gibt also sowohl schmerzhafte als auch schöne Markierungen der Gleichheit.

Africa is a Country

Dieser Artikel erschien im original auf englisch unter dem Titel „Trapped by history“ bei Africa is a country.

DV: Mit Blick auf die Themen Kolonialismus und Vertreibung fiel mir auf, dass es in diesem Film keine weißen Charaktere gibt, obwohl Kapstadt eine relativ große weiße Bevölkerung hat. Kapstadt wird oft so beschrieben, dass es sich sehr kolonial anfühlt, obwohl es schon Jahrzehnte in der Demokratie ist. War das eine bewusste Entscheidung und was war die Motivation dahinter?

JG: Die ursprünglichen Geldgeber empfahlen drei weiße männliche Schauspieler für die Rolle des Regierungsbeamten Peterson, aber wir (die Produzenten) trafen uns als Gruppe und beschlossen, das Angebot abzulehnen. Aus zwei Gründen: Ich wollte das Weißsein im Film dezentralisieren, obwohl es natürlich ein durchgängiges Merkmal ist. Die koloniale Prägung ist überall, in der Landschaft, in den Bildern, im gesamten sozialen Kontext/Konstrukt der Welt der Jungen. Aber es war auch wichtig, weil der Beamte aus der gleichen Welt kommen musste wie die Jungen, und in gewisser Weise sind alle vier männlichen Charaktere (vom kleinen Jungen bis zum erwachsenen Mann) repräsentativ für ein einziges Leben und wie gefangen wir in der Geschichte sein können. Außerdem tut es immer mehr weh, wenn die eigenen Leute einem Gewalt antun, das wissen wir, und es gibt immer eine schwierige, komplizierte Geschichte dahinter.

Sons of the Sea wurde im März 2020 auf dem Cinequest Film Festival in San Jose, Kalifornien (der Heimatstadt von John Gutierrez) uraufgeführt.
John Gutierrez ist ein Latinx-Autor/Regisseur, geboren und aufgewachsen in San Jose, Kalifornien.
Dylan Valley ist Mitglied der Redaktion von Africa is a Country. Er ist Filmemacher und gehört der Fakultät für Fernsehstudien der Wits University an.

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Auf den Spuren von Jeneba

Auf den Spuren von Jeneba
von Mariama Wurie

Mit dem Film "Retracing Jeneba" schafft Sierra Leones Dokumentarfilm den Übergang von reiner Advocacy zu Kunst.

Sierra Leones Filmgeschichte – besonders die Geschichte des Dokumentarfilms- ist nicht besonders üppig, dafür sehr tragisch. Sie ist vor allem durch Cry Freetown geprägt, den ersten und bekanntesten Dokumentarfilm des Landes geprägt. Cry Freetown kam zur Jahrtausendwende heraus und erzählt über 27 Minuten von den Gräueltaten, die im Bürgerkrieg Sierra Leones auf dem Höhepunkt des Konfliktes geschahen. Es folgte der von der Kritik gefeierte und mehrfach preisgekrönte Film One Goal, ein Film über eine Fußballmannschaft, die aus Kriegsamputierten besteht. Viele der Mitwirkenden von One Goal wurden in La Vita Non Perde Valore von 2012 – einem ebenfalls hochgelobten Film über die Arbeit eines italienischen Pastors, der durch Gott Kriegsopfern hilft – erneut interviewt. Und schließlich ist da noch Survivors – der Bericht über die Überlebenden der Ebola-Pandemie, die in Sierra Leone zwischen 2014 und 2017 wütete. In letzter Zeit sind außerdem einige Amateur-Dokumentarfilme über die allgegenwärtige Vergewaltigungskultur des Landes, Prostitution und Menschenhandel und die Auswirkungen des Coronavirus im ländlichen Raum erschienen. Die meisten dieser Filme wurden im Auftrag von Nachrichtensendern und für Advocacy-Zwecke produziert. Die Botschaft lautet: Die Menschen in Sierra Leone leiden, und niemand scheint sich darum zu kümmern, bitte schickt Hilfe. Sie hinterlassen bei Bürger:innen und Kulturschaffenden ein Gefühl der Hilflosigkeit und bei Regierungen und NGOs Gleichgültigkeit. Es scheint, dass ein Eingreifen nicht in ihren jährlichen Entwicklungsplan für das Land passt.
Vor diesem Hintergrund produzierte der Künstler Joseph Kaifala, der während des Krieges wegen seiner bloßen Existenz verhaftet wurde, eine immersive und handlungsorientierte Dokumentation über seine Erfahrungen. Retracing Jeneba ist Kaifalas persönliche Geschichte – die Geschichte darüber, wie er während des Bürgerkriegs zwischen Sierra Leone, Liberia und Guinea geboren und aufgewachsen ist. Wie er inhaftiert und wieder freigelassen wurde, um dann tagelang zu Fuß über die Grenzen zu marschieren. Wie er in einem Flüchtlingslager landet, seine Großmutter, seinen Vater, sein Zuhause und seine Würde verliert – aber nie die Hoffnung. Es ist die Geschichte, wie diese sehr tragische Erfahrung der Antrieb für all die Arbeit und Kunst ist, die er heute schafft – und all seinen heutigen Erfolg. In seinem eindringlichen Stil ist der Film ein Aufruf zum Handeln – er ermutigt Zivilist:innen, ihre Geschichten mit anderen zu teilen und so von den Narben des Krieges zu heilen. Diese Ermutigung ist so wirksam, dass die bekannte Sängerin und Rapperin Fantacee Wiz während der Fragerunde der Filmpremiere in Sierra Leones Hauptstadt Freetown das Mikrofon in die Hand nahm, um ihre Geschichte von Vergewaltigung und sexuellem Missbrauch während des Krieges zu erzählen – und über die Maßnahmen zu sprechen, die sie ergreifen will, um denjenigen zu helfen, die seit Jahren mit dem gleichen Trauma zu kämpfen haben.
Laut Kaifala ist seine Inspiration für einen derartigen Dokumentarfilm in Sierra Leones Tradition des Geschichtenerzählens verankert. Er sagt selber, Sierra Leone habe zwar kaum so etwas wie eine Filmgeschichte – was es aber gäbe, sei eine Geschichte des Theaters, der Live-Performance und des mündlichen Geschichtenerzählens. Das mündliche Geschichtenerzählen ist eine Tradition, die bei den 13 Stämmen als „djeli“ bekannt ist – das sind Männer und Frauen, die das Publikum bewegen, indem sie die Vergangenheit, die Zukunft und die Gegenwart durch Erzählgesänge bei Familienfesten zum Leben erwecken.
Kaifalas Retracing Jeneba ist nicht nur ein Dokumentarfilm aus Sierra Leone. Es ist die Geschichte davon, wie ein Trauma zum Handeln anspornen kann. Es ist die Geschichte davon, warum Sierra Leoner:innen weiterhin Geschichten erzählen sollten. Es ist eine eindringliche Erfahrung, die die Djeli-Sprache eines sierraleonischen Mende-Mannes hervorruft.
Kaifalas Film ist vielleicht auch ein Abbild dessen, wie er sein Leben lebt. Er ist Anwalt, Programm-Manager bei Sierra Leones führender feministischer Organisation Purposeful, Historiker, Autor von drei hochgelobten Werken (eines davon ist ein Buch mit Maximen), Aktivist, Obmann von Massengräbern und einer, der Spenden sammelt, um Schulen in Kleinstädten zu bauen, in denen es vorher keine gab.

Global Dispatches

Episode 185: Joseph Kaifala Joseph Kaifala was just a child when civil war broke out in Liberia and Sierra Leone. The war came to his town in 1989 and as a seven-year-old was imprisoned with his father. They were eventually released and Joseph and his family spent much of the next decade on the run from a brutal civil war that seemed to follow them everywhere.
Kaifala ist in der Tat ein Teil der Riege moderner sierraleonischer Filmemacher, die die Kunst des Dokumentarfilms nutzen, um Gespräche anzuregen und soziale Veränderungen anzustoßen. Bei der Premierenvorführung von Retracing Jeneba betont Kaifala, dass seine wichtigste Botschaft ist, dass die Nation aufhören muss, so zu tun, als hätte es den Krieg nie gegeben und sich einfach dem Versuch hinzugeben, alles zu vergessen. Vielmehr pocht er in einem Raum voller Politiker:innen, Geschäftsfrauen und -männer und gewöhnlicher Zivilist:innen darauf, niemals zu vergessen. Immer und immer wieder über die Wunden zu sprechen, bis sie geheilt sind, und damit sich das Grauen nicht wiederholt. Dies ist eine Erzählung, die im Film widerhallt, wenn Kaifala die Zelle, in der er als Kind in Liberia gefangen gehalten wurde, das Flüchtlingslager, in dem er in Guinea lebte, und das Grab seines Vaters noch einmal besucht. Er sagt, seine Mutter würde nie wollen, dass er diese Orte – vor allem das Grab seines Vaters – besucht, weil es zu sehr schmerzt. Aber für Kaifala ist es nicht nur kathartisch, es erinnert ihn auch an seine Bestimmung. Sein Vater war ein Pädagoge, und so bleibt Bildung sein Vermächtnis auf Erden, denn Kaifala baut Schulen im Namen seines Vaters.

Autorin: Mariama Wurie

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Atlantique

Atlantique
von Mati Diop

Von Geistern der Liebe in Dakar

Der Atlantik ist ein Sehnsuchtsort für Ada (Mame Bineta Sané) und Souleiman (Ibrahima Traoré). Die beiden sind jung, schön und zum ersten Mal verliebt. Und obwohl ihr ganzes Leben noch vor ihnen liegt, befinden sich beide bereits in einer Sackgasse. Souleiman, der aus einer Arbeiterfamilie kommt und auf dem Bau schuftet, hat seit vier Monaten seinen Lohn nicht erhalten und ist deshalb hoch verschuldet. Ada soll von ihren Eltern an Omar (Babacar Sylla) verheiratet werden und in der arrangierten Ehe mit einem reichen Mann glücklich werden. Bevor diese tragische Liebesgeschichte sich jedoch entfaltet, ist Souleiman plötzlich weg, mit seinen Kollegen und Freunden in ein Boot gestiegen – auf der Suche nach einem besseren Leben auf den weiten, wilden Atlantik herausgefahren. Er und die anderen Bauarbeiter wollten nicht länger an dem futuristischen Gebäude bauen, das eine Zukunft suggeriert, die niemand von ihnen je haben wird.

Atlantique wurde von Netflix co-produziert und ist in OmU Fassung auf Netflix Deutschland verfügbar.

Erste Frau of Colour in Cannes

Angesichts von Frankreichs kolonialer Vergangenheit ist es wirklich erstaunlich, dass Regisseurin Mati Diop 2019 die erste Frau of Colour war, die mit ihrem Film für die Goldene Palme bei den Internationalen Filmfestspielen von Cannes nominiert wurde. Denn Frankreich besetzte und veränderte auch den Senegal, Handlungsort von Atlantique, für immer. Die Franco-Senegalesin Diop wollte nach eigenen Aussagen einen Film über eine ganz bestimmte Zeitspanne zwischen 2002 und 2010 machen, in der junge Senegales:innen massenweise für eine bessere Zukunft Richtung Europa aufbrachen.

Die 1982 in Paris geborene Mati Diop stammt aus der berühmten senegalesischen Diop-Familie: Ihr Vater Wasis Diop ist Musiker und Songwriter, der für seine Mischung aus traditioneller senegalesischer Volksmusik mit moderner Popmusik und Jazz bekannt ist. Zudem ist sie die Nichte des Filmemachers und Schauspielers Djibril Diop Mambéty, der beim Kultfilm Touki Bouki Regie führte.

Mati Diop und der Cast von Atlantique in Cannes

Süddeutsche Zeitung

Verliebt in einen Geist – Umso enttäuschender ist es, dass der Streamingdienst Netflix, der den Film coproduziert hat, ihn in Deutschland ohne große Werbung in den Tiefen seiner Mediathek versenkt. Er hätte eine bessere Behandlung verdient. Nicht nur, weil er der Migrationsdebatte, von der die Europäer oft glauben…

Frauen als besessene Erzählerinnen

In Abwesenheit der Männer stehen in Atlantique die Frauen im Mittelpunkt, bis die Verschwundenen als Geister wieder auftauchen. Jeder kennt wahrscheinlich das Gefühl, buchstäblich krank zu sein vor Angst um einen geliebten Menschen. Diop zeigt, was passiert, wenn dieses Gefühl eine ganze Gesellschaft erfasst. Dass diese kollektive Erschütterung Symptom ist für globale Ungerechtigkeit, muss sie im Film nicht extra deutlich machen. Diop erzählt, wie Souleiman und die anderen verschwundenen Männer die zurückgeblieben Frauen als Geister heimsuchen. Die Besessenheit erlaubt ihnen nicht nur, Körper und Seelen zu tauschen, sondern setzt auch ungeahnte Kräfte in den Frauen frei, mit denen sie ihren Geliebten nachträglich zu Gerechtigkeit verhelfen. Sie sind besessen, aber es ist eine Besessenheit, die ihnen nicht nur erlaubt, Seelen und Körper zu tauschen und sich mit ihren abwesenden Geliebten zu vereinen. Sie setzt auch bei ihnen Kräfte frei, von denen sie nichts ahnten. Was auch immer den Männern geschehen ist: Ihr Versuch, das Leben in die eigene Hand zu nehmen, war nicht ganz vergebens.

Atlantique, Frankreich/Senegal/Belgien 2019 – Regie: Mati Diop. Buch: Olivier Demangel, Mati Dio. Kamera: Claire Mathon. Mit: Mama Sané, Ibrahima Traoré.

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Wanuri Kahiu

Wanuri Kahiu
Afrobubblegum: Kunst, die das Leben feiert

Sicher habt ihr schon von dem Film Rafiki der kenianischen Filmemacherin Wanuri Kahiu gehört, einem kenianischen Liebesfilm über eine queere Beziehung. Dieser war der erste seiner Art und hat für ganz schön Trubel gesorgt, denn er wurde in Kenia selbst verboten. Rafiki hat eine ganz eigene, farbenfrohe und helle Ästhetik und transportiert zu einem großen Teil fröhliche und positive Inhalte.

Wahiu erklärt in einem Interview, dass sie das Genre des Filmes als Afrobubblegum bezeichnet:

„Wir – das heißt, ein Kollektiv von Musikern und Zeichnern und Filmemachern – nennen unser Genre ‚Afrokaugummi‘ (Afro-Bubblegum): Kunst, die das Leben feiert, die freudig und frech und frivol ist. Wir kreieren Afrobubblegum-Inhalte, und das bedeutet, gegen die schrecklichen Afrika-Bilder anzugehen. Wir sind modern und optimistisch und kosmopolitisch, und so möchten wir auch gesehen werden.“

Und weiter…

Die meiste Förderung für afrikanische Kunst bezieht sich auf Konflikte: „Seien Sie stark für etwas oder stark gegen etwas, oder machen Sie ein Gender-Statement“, bekommt man gesagt, „thematisieren Sie deprimierende Zustände.“ Aber so ist unser Film nicht. Er handelt von zwei Mädchen, die sich ineinander verlieben. Das ist nicht, was die Geldgeber von Afrika erwarten. Es gibt keine Tradition von positiven, Hoffnung machenden Filmen. Aber dieses Narrativ der Verzweiflung wollen wir verändern.“ „Rafiki“ ist in Swahili gedreht. Genauer: in Sheng, einem Slang aus Nairobi, sodass außerhalb viele Gesten und Ausdrücke gar nicht verstanden werden dürften. Diesen Film sollen Kenianer, sollen Afrikaner sehen, damit sie sich anders zu sehen lernen, als sie in den meisten Medien dargestellt werden.

Ein weiterer sehr starker Film von Kahiu ist „From a whisper“, ein Drama über die terroristischen Bombenanschläge auf die US-amerikanische Botschaft in Nairobi 1998.

Mit sehr viel Feingefühl für Trauer, Freundschaft und familiäre Beziehungen erzählt der Film anhand von zwei Betroffenen, welche Risse im Leben ein solches Ereignis hinterlässt. From a whisper gewann eine Auszeichnung in der Kategorie beste Erzählung auf dem Pan African Film & Arts Festival.

Für alle Science Fiction Fans sollte jedoch „Pumzi“ von Kahiu der heißeste Tipp sein, ein futuristischer Kurzfilm über die Auswirkungen des Klimawandels. Der Film, der 2009 erstmals gezeigt wurde, spielt 35 Jahre nach dem Dritten Weltkrieg, dem sogenannten Wasserkrieg, in einer autoritär organisierten Gemeinschaft, die wegen der lebensbedrohlichen Hitze auf dem Planeten in einer überirdischen Kapsel lebt. Wasser ist eine knappe Ressource und wird unter strengsten Kontrollen rationiert ausgegeben. Die zentrale Figur ist eine Schwarze Naturwissenschaftlerin, die es schafft, einen Baum in der Postapokalypse zu pflanzen und somit Leben zu erschaffen. Wirklich toll anzusehen ist es, wie geschickt Kahiu Technologieaffinität und Naturverbundenheit in Einklang bringt.

Kahiu verortet ihren Film als afrikanischen Futurismus (nicht Afrofuturismus), eine Fiktion, die SciFi, Fantasy, Mythik und Legenden umfasst, die vom afrikanischen Kontinent stammen:

Es gibt viele Möglichkeiten, über unsere Erfahrungen als Afrikaner zu sprechen, und wenn wir uns auf unsere Traditionen und Überzeugungen als Afrikaner stützen, wird dies eine Möglichkeit sein, neue Geschichten über uns selbst zu erzählen"

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