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Dahomey von Mati Diop gewinnt Goldenen Bären

»Zurückzugeben heißt,
Gerechtigkeit zu üben«
von Jona Elisa Krützfeld

Der Dokumentarfilm »Dahomey« der französisch-senegalesischen Filmemacherin Mati Diop erhält den Goldenen Bären der Berlinale Filmfestspiele.

»26 nannten sie mich. Nicht 24, nicht 25, nicht 30. 26. Was ist das für ein Name?«

Hier spricht in Mati Diops experimentellem Dokumentarfilm, der am Samstag mit dem Goldenen Bären der Berlinale ausgezeichnet wurde, eine der Statuen aus einer Gruppe von 26 nach Benin restituierten Kulturobjekten aus dem Königreich Dahomey aus dem Off. Zu Beginn des Filmes bereitet sich diese Statue darauf vor, endlich aus der opaken Nacht des Museum Quai de Branly in Paris in seine Heimat zurückzukehren.

Die Kamera begleitet die Kulturgüter, die von französischen Truppen bei der Plünderung der königlichen Paläste in Abomey 1892 entwendet und von dem französischen Oberst Alfred Dodds an einen Vorgänger des Musée du quai Branly in Paris gespendet wurden, bei ihrer Heimkehr in ihr Ursprungsland, das heutige Benin. Paraden von tanzenden und feiernden Menschen flankieren die Kolonne von mit Bildern der Kunstschätze bedruckten LKWs in Cotonou, von überallher strömen Menschen, um einen Blick auf die Heimkehr der Schätze zu erhaschen.
Mit äußerster Sorgfalt und Professionalität werden schließlich die Holzkisten mit Statuen, Schmuck und einem Thron am neu erbauten Museum Palais de la Marina in Empfang genommen und feierlich von Dutzenden von Männern mit Spanngurten die breiten Treppen ihrer neuen Heimstätten hinaufgetragen.
Dass die Sache mit der Restitution nicht ganz so einfach oder romantisch ist, wie diese Bilder glauben machen, zeigen anschließend Szenen einer öffentlich übertragenen Debatte zwischen jungen Menschen, die vor einem riesigen Publikum mit glasklaren und eloquent vorgetragenen Argumenten über ihr Verhältnis zum materiellen Kulturerbe ihres Landes und darüber diskutieren, wie die Rückgabe von 26 von insgesamt 7000 geraubten Kulturobjekten von der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich einzuordnen ist – als guter Anfang oder postkoloniale Arroganz?

Auch die immer wieder mit mystisch verzerrter Stimme und poetischen Bemerkungen aus dem Off sprechende Statue bemerkt, dass sie zwar die exotische Liebkosung ihrer neuen alten Heimstätte genieße, aber ansonsten nichts wiedererkenne, habe sich das heutige Land Benin doch in ihrer Abwesenheit von Grund auf verändert.

Am 24. Dezember 2020 erließ die französische Regierung ein neues Gesetz, das nach dem Erscheinen des »Berichts über die Rückgabe des afrikanischen Kulturerbes« die dauerhafte Rückgabe mehrerer Kulturgüter aus französischen Sammlungen an den Senegal und die Republik Benin vorsieht. Außerdem wurde ein Darlehen der französischen Entwicklungsagentur in Höhe von 20 Millionen Euro für ein neues Museum in Abomey bereitgestellt. Die Artefakte sollen in den folgenden Jahren durch das Land reisen und in verschiedenen Museen ausgestellt werden, bis sie schließlich im Museum der Amazonen- und Königsepen von Dahomèy in Abomey dauerhaft ausgestellt werden.
Der beninische Präsident Patrice Talon sprach sich für die Restitution weiterer Werke aus. Schätzungen zufolge hortet Europa mehr als 90 Prozent des afrikanischen Kulturerbes. »Zurückzugeben heißt, Gerechtigkeit zu üben«, sagte Mati Diop am Samstag in Berlin, als sie den Preis entgegennahm.

Der Begriff Restitution war in Deutschland bis vor einigen Jahren vor allem aus Berichten über Raubkunst aus dem Nationalsozialismus bekannt und wurde durch Rückgabeforderungen aus afrikanischen Ländern und damit verbundenen Bemühungen aktivistischer Gruppen in Deutschland in die Museen und die öffentliche Diskussion getragen. Schätzungen zufolge liegen noch circa 90% des materiellen sub-saharischen afrikanischen Kulturerbes, das in der Kolonialzeit gestohlen wurde, in westlichen Museen.

Auch in Deutschland befinden sich Tausende von Exponaten, die ethnologischen Sammlungen des Humboldt Forums allein umfassen rund 500.000 in kolonialen Gewaltkontexten »gesammelte« Objekte. Eines der wohl berühmtesten Beispiele für Raubkunst in Deutschland sind 20 Benin-Bronzen, die über 120 Jahre lang auf fünf deutsche Museen verteilt, beherbergt wurden.

Im Dezember 2022 gaben Außenministerin Annalena Baerbock und Kultusministerin Claudia Roth die wertvollen Objekte an Nigeria zurück. Die Benin-Bronzen wurden größtenteils unter britischer Flagge Ende des 19. Jahrhunderts geplündert. Die Grünen-Politikerin Baerbock kommentiert die Rückgabe mit den Worten: »Es war falsch, sie zu nehmen, und es war falsch, sie zu behalten.«

Insofern leistet Mati Diops Dokumentarfilm »Dahomey« einen komplexen und künstlerisch anspruchsvollen Beitrag zu einer andauernden Debatte, in der Deutungshoheit und Machtbeziehungen unter konkurrierenden Interessen immer noch ausgehandelt werden müssen. Die gezeigten Bilder sollten jedenfalls den bösen Zungen, die immer wieder behaupten, in den Herkunftsländern würden die Exponate durch Korruption oder schlechte Ausstellungsbedingungen dem Verfall und Verlust ausgesetzt, eine Lektion erteilen. Aus dieser sehr politischen Gegenwart abstrahiert die Dokumentation, deren filmische Mittel bei nur 70 Minuten Länge äußerst geschickt eingesetzt sind, immer wieder in die erhabene Welt der sprechenden Statue, die immerhin ein Kultobjekt ist und bei all dem Rummel immer mal wieder auch mit dem Wind, dem Ozean und der Ewigkeit in Kontakt treten muss.

Mati Diop

Die 1982 in Paris geborene Mati Diop stammt aus der berühmten senegalesischen Diop-Familie. Ihr Vater Wasis Diop ist Musiker und Songwriter, der für eine Mischung der traditionellen senegalesischen Volksmusik mit moderner Popmusik und Jazz bekannt ist. Zudem ist sie die Nichte des Filmemachers und Schauspielers Djibril Diop Mambéty. Diops französische Mutter ist Fotografin und Art-Direktorin. Ihren Film Atlantique (im akono Magazin besprochen), bei dem sie Regie führte und das Drehbuch schrieb, stellte sie im Rahmen der Internationalen Filmfestspiele von Cannes vor, wo er um die Goldene Palme konkurrierte. Diop war damit die erste schwarze Regisseurin im Wettbewerb von Cannes. Im November 2019 wurde sie vom Branchenblatt Variety in die 10 Directors to Watch aufgenommen. Atlantique wurde vom Senegal als Beitrag für die Oscarverleihung 2020 in der Kategorie Bester Internationaler Film eingereicht und Mitte Dezember 2019 von der Academy of Motion Picture Arts and Sciences auf die Shortlist in dieser Kategorie gesetzt.

Jona Elisa Krützfeld ist studierte Kulturwissenschaftlerin und Verlagsleiterin bei akono. Sie wohnt in Berlin und betreut hauptberuflich die Vergabe des Friedenspreises beim Börsenverein des Deutschen Buchhandels.
Im Bereich der Literaturen Afrikas interessiert sie sich besonders für Orature, historische Fiktion, Weiblichkeit und Feminismus und Erzählungen mit politischer und philosophischer Botschaft.

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Film

Die deutschen Kolonialverbrechen landen im Kino

Die deutschen Kolonialverbrechen landen im Kino
von Jona Krützfeld

„Der vermessene Mensch“ ist der erste deutsche Kinofilm, der sich mit dem Völkermord an den Ovaherero und Nama in der ehemaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika beschäftigt. Nach Jahrzehnten der nicht erfolgten Aufarbeitung werden die Kolonialverbrechen des Deutschen Kaiserreiches nun also der breiten Bevölkerung auf der Leinwand präsentiert. Ganz unbefangen rückt Regisseur Lars Kraume dabei einen weißen Ethnologen in den Mittelpunkt der Erzählung. Kann der Film trotzdem was?

Vom Menschenzoo ins Konzentrationslager

Berlin, Ende des 19. Jahrhunderts: Alexander Hoffmann ist Doktorand im Fach Ethnologie bei Professor Josef Ritter von Waldstätten an der Friedrich-Wilhelms-Universität. Der ehrgeizige junge Mann, der dem Vorbild seines Vaters, einem berühmten Ethnologen, nachstrebt, macht auf der Deutschen Kolonial-Ausstellung Bekanntschaft mit einer Delegation von Herero und Nama aus Deutsch-Südwestafrika, die Kaiser Wilhelm um eine Audienz zum Schutz der lokalen Bevölkerung ersuchen will. Zur Gruppe gehört auch Kezia Kunouje Kambazembi, die als Dolmetscherin tätig ist.

Weil die Delegation die Audienz beim Kaiser nicht gefährden will, lässt sie sich zu einer Schädelvermessung durch die Kraniometrie-Seminargruppe Hoffmanns überreden – natürlich verguckt sich Hoffmann in die scheue junge Dolmetscherin, der die Schädelvermessung zuwider ist, und verbindet in den folgenden Wochen sein ethnologisches Interesse an der Gruppe mit Schwärmereien für die kluge Fremde.

In Gesprächen schnell davon überzeugt, dass auch die Ovaherero und Nama kognitive Fähigkeiten, Philosophie und Weltanschuungen haben, versucht er entgegen dem rassistischen Zeitgeist in einem autoritären Kaiserreich voller Herrenmenschen in seiner Vorlesung die These anzubringen, dass es keinen Unterschied zwischen den Rassen gebe. Da der Film kaum von historischen Fakten abweicht, gelingt ihm dies natürlich nicht.

Einige Jahre später schlägt die sogenannte Schutztruppe in Deutsch-Südwestafrika den Aufstand der Ovaherero und Nama gegen die deutsche Besatzung nieder und es kommt zum Krieg. Hoffmann reist in der Hoffnung, Kunouje wiederzusehen und bahnbrechende ethnologische Forschung zu betreiben, selbst ins südliche Afrika. Beschützt von der kaiserlichen Armee, sammelt er zurückgelassene Kunstgegenstände und Machtinsignien der Ovaherero und Nama und schändet Gräber und Leichen, um Schädel für die Rasseforschung in Deutschland zu gewinnen. Er wird Zeuge der Gräueltaten der deutschen Armee, der Ermordung und Vertreibung zehntausender Menschen und der Internierung von Kriegsgefangenen in Konzentrationslagern.

Der weiße Mann im Mittelpunkt

War die Entscheidung, den weißen Ethnologen Hoffmann, hier gespielt von Leonhard Scheicher, in den Mittelpunkt der Handlung zu stellen und dadurch die Perspektive der Betroffenen nur nebenher laufen zu lassen, geschickt? Es kommt darauf an, was der Film will.

Beim Special Preview des Historiendramas in Leipzig am 20. April, drei Tage vor Kinostart, waren Regisseur, Hauptdarstellerin Girley und der in Deutschland lebende Hereroaktivist Israel Kaunatjike anwesend.

Einmal abgesehen von der unsensiblen und unpräzisen Verdolmetschung und einer etwas holprigen Moderation war das an den Film anschließende Gespräch in vielerlei Hinsicht sehr aufschlussreich, da es dem Team Gelegenheit bot, auf einige der schon vorab angebrachten Kritikpunkte aus Presse und Publikum Stellung zu beziehen.

Lars Kraume ist dafür bekannt, unter anderem durch seine Filme „Der Staat gegen Fritz Bauer“ und „Das fliegende Klassenzimmer“, historische und politische Themen für die Kinoleinwand pragmatisch und realistisch anzugehen.

Kulturelle Aneignung bei Fokus auf Widerstand

Lars Kraume sprach davon, sich die Perspektive von Widerstandfiguren wie etwa Nama Anführer Henrik Wittboi nicht „kulturell aneignen“ zu wollen und deswegen einen weißen Kolonialisten in den Vordergrund gestellt zu haben, denn das sei eine Perspektive, die er von Deutschland aus gut erzählen könne. Bei den Überlegungen für das Skript sei dann die Wahl auf einen Ethnologen gefallen, der als Kippfigur sowohl das aufrichtige Interesse und die Bewunderung für die namibischen Völker, als auch den internalisierten Rassismus und den imperialistischen Geist in sich vereine. Um die Verbrechen der deutschen Schutztruppe darzustellen, ohne dabei Gewalt rein zu reproduzieren, sei die Wahl auf die fiktive Figur Hoffmann gefallen, da sie als einzige glaubhaft Zeuge des Genozids werden konnte, ohne daran beteiligt zu sein.

Die Frage, warum nicht trotzdem an manchen Stellen mehr von der Perspektive der Ovaherero eingeflossen sei, beantwortet Kraume mit der Kohärenz und Glaubhaftigkeit des Plots und damit, dass er die Handlung bewusst Jahre vor dem Genozid, nämlich auf der Kolonial-Ausstellung, habe beginnen lassen, um die Persepktiven der Betroffenen darzustellen. Ab dem Beginn des Genozids habe es nur noch Gewalt gegeben; da die Perspektive der Betroffenen einzunehmen, hätte also nur gewaltvolle Bilder reproduziert.

Hauptdarstellerin Girley Jazama tut die Frage nach der fehlenden Ovaherero-Perspektive ab: „It is our own responsibility to tell these stories“. Der Film, der in Wanderkinos in Namibia gezeigt wurde, habe bei den Zuschauer:innen sehr emotionale Reaktionen ausgelöst, da auch in Namibia über die traumatischen kollektiven Erlebnisse viel Schweigen gebreitet wird.

Preview von Der vermessene Mensch in Leipzig

Befinden wir uns wieder in einem Menschenzoo?

Bert Rebhandl schreibt in der FAZ, man befände sich trotz lokaler Kooperation am Set in „Der vermessene Mensch“ wieder in einem Menschenzoo:

Dabei stimmt gerade an den Rändern der Bilder überhaupt nichts, und wenn man sich die Mühe macht, ab und zu vom Plot ein wenig wegzuschauen auf das, was insgesamt zu sehen ist, ist man sofort wieder in einem Menschenzoo, nur in einem halb aufgeklärten.

Ich finde diese Aussage ziemlich fehl am Platz, denn erstens wird darin die Gewalt, die in tatsächlichen Menschenzoos im 19. und 20. Jahrhunderts verübt wurde, relativiert und verharmlost, zweitens liegt der Aussage ein Misstrauen gegenüber den Möglichkeiten von Darstellung zugrunde, ähnlich wie Adornos „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch.“ Gilt es, jegliche Form der Darstellung zu vermeiden? Kann sie nicht auch emanzipatorischen Charakter haben? Der Genozid an den Ovaherero und Name war auch das Auslöschen einer ganzen Kultur, und laut Aussage Kraumes und Jazamas gibt es nur wenige bildliche Zeugnisse von Kleidungsweisen etwa. Der Film ist der Kostümbildnerin Cynthia Schimming gewidmet, die sich in ihren Arbeiten mit dem kulturellen Erbe Namibias beschäftigte, zum Beispiel in der Modeserie „A United World for Future Generations; Beyond Time, Beyond Oceans“ oder in ihren Kostümdesigns für die Unabhängigkeitsfeier Namibias 2015. Repräsentation matters, und wenn Herr Kraume in seiner Filmproduktion die Ressourcen zur Verfügung hat, Herero-Kostüme gestalten zu lassen, dann ist das mit namibischer Beratung doch auch ein kleines Stück zurückgewonnenes Kulturerbe.

Es sei Herrn Rebhandl zugestanden, dass die eingesetzten filmischen Mittel weder sehr experimentell noch sehr kreativ sind, so ist der Sound nicht besonders, die Kameraführung klassisch, die Bildausschnitte konservativ. Das wäre aber auch nicht Kraumes Stil, und der Film behauptet auch nicht, mehr tun als die Geschichte eines deutschen Ethnologen zu erzählen, der im Dienst der europäischen rassistischen Wissenschaft Schädel sammelte. Die Thematik der zehntausenden menschlichen Gebeine, sogenannte Human Remains, die bis heute in europäischen Museen, Krankenhäusern und Sammlungen lagern zu beleuchten, ist so lange wichtig, bis es Repatriierungen im großen Stil gibt. Bei einem Großteil der Bevölkerung ist das Wissen darüber, und über die grauenhaften Hintergründe, nämlich noch nicht angekommen.

Allein die Tatsache, dass Kraume die Erzählung als (wenn auch einseitige) Liebesgeschichte zwischen Hoffmann und Kunouje anlegen wollte, bevor die Hauptdarstellerin, die auch Filmemacherin ist, ihn davon abbrachte, zeigt doch, dass er nicht mehr und nicht weniger machen wollte, als einen massentauglichen Kinofilm zu produzieren.

Immerhin hat sich mal einer der Thematik angenommen ...

Fazit: Der Verdienst des Filmes ist, dass er sich der Thematik des deutschen Genozids an den Ovaherero und Nama annimmt, was 119 Jahre nach dem Vernichtungsbefehl durch Lothar von Trotha in einem Land, das sonst auch viel von historischer Aufarbeitung hält, reichlich spät ist. Der Titel ist brillant, die Hauptdarstellerin ebenso. Die künstlerischen Mittel sind mit Sicherheit nicht erschöpft, aber „Der vermessene Mensch“ ist ein guter Ausgangspunkt einer hoffentlich multiperspektivischeren Aufarbeitung dieses weiteren dunklen Kapitels der deutschen Geschichte.

Es bleibt zu hoffen, dass im Rahmen der deutschen Restitutionszahlungen an Namibia auch viel Geld für künstlerische Produktionen ausgeschüttet werden wird, denn die strukturellen Ungleichheiten behindern natürlich leider noch die (ästhetische) Multiperspektivität, und gerade das Kino ist ein unglaublich kapitalintensives Medium, das im globalen Norden wesentlich besser ausgestattet ist mit Ressourcen.

Die Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW) zeichnet den Film mit dem Prädikat „besonders wertvoll“ aus. „Die Jury war der Ansicht, dass es Lars Kraume trotz der Schilderung aus weißer Perspektive […] gelungen ist, dem unfassbaren Grauen insbesondere des kolonialen Vernichtungskrieges gegen die Hereros und Nama in Bildern Ausdruck zu verleihen.“ Dem kann man schon zustimmen.

Historischer Hintergrund:

Zwischen 1904 und 1908 verübte die sogenannte Schutztruppe des Deutschen Kaiserreiches in der ehemaligen Kolonie “Deutsch-Südwestafrika”, dem heutige Namibia, einen Genozid an den OvaHerero und Nama, dem schätzungsweise 50.000 bis 70.000 Menschen zum Opfer fielen. Dieser auf Befehl des deutschen Generals Lotha von Trotha ausgeführte Vernichtungskrieg ist gemessen an den Kriterien der UN-Völkermordkonvention von 1948 als Genozid einzuordnen.

Die Nachfahren der Opfer des Genozids forden seit Jahrzehnten eine Anerkennung und Aufarbeitung dieser Verbechen. Seit 1990 sucht auch die namibische Regierung einen entsprechenden Dialog. Dabei geht es auch um die Forderung nach symbolischer und materieller Entschädigung (“restorative justice”).

Während der Kolonialzeit wurden Kulturgüter, zum Beispiel Gegenstände des täglichen Gebrauchs, Kunstgegenstände oder religiöse Gegenstände, sowie Körperteile von verstorbenen Menschen oft unter Anwendung von Gewalt geraubt und nach Europa verschickt. Dort wurden sie hauptsächlich zur Beschreibung der kolonial unterdrückten Gesellschaften genutzt, da die Europäer*innen deren kulturellen Traditionen durch die Kolonisierung gefährdet wussten. Geraubte menschliche Überreste wurden objektiviert und vor allem für die sogenannte ‘Rassenforschung’ genutzt, die eine vermeintlich biologische Überlegenheit von Europäer*innen belegen sollte.

Restitution und Restituierung beschreiben Rückgabeprozesse. Schon lange fordern Herkunftsgesellschaften geraubte Gegenstände und Gebeine zurück, vor allem in der jüngeren Vergangenheit wurden zunehmend Rückgabeforderungen gestellt. Da ehemalige Kolonialmächte und Institutionen im Besitz von sogenannten kolonialen Sammlungsgütern bis vor wenigen Jahren kaum Bereitschaft zur Restitution zeigten, wurden Herkunftsgesellschaften im Restitutionsprozess vor erhebliche Schwierigkeiten gestellt. Fehlende internationale rechtliche Vorgaben und Streitigkeiten über die rechtmäßigen juristischen und moralischen Besitzansprüche, sowie mangelnde Kenntnisse zur Provenienz (Identifizierung, Herkunft, Weg des ‘Erwerbs’) von Kulturgütern sind hierbei einige Beispiele.

Weitere Infos zur Deutschen Kolonialgeschichte gibt es zum Beispiel bei Leipzig Postkolonial.

Jona Krützfeld wohnt in Leipzig und ist studierte Kulturwissenschaftlerin, dekoloniale Aktivistin und Gründerin von akono. Im Bereich der Literaturen Afrikas interessiert sie sich besonders für Orature, historische Fiktion, Weiblichkeit und Feminismus und Erzählungen mit politischer und philosophischer Botschaft.

Bildheader: „Der vermessene Mensch“ | Boell Calendar

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Kleines Land

Kleines Land
von Mathijs Cazemier

Am 7. April 2022 war es 28 Jahre her, dass der Völkermord in Ruanda begann. In Petit Pays (Kleines Land) bietet Gaël Faye einen neuen Blick auf die Ereignisse, mit besonderem Schwerpunkt darauf, wie der ethnische Konflikt in den burundischen Bürgerkrieg überging. Das Buch, das aus der Perspektive eines in Burundi lebenden ruandisch-französischen Jungen geschrieben wurde, hinterfragt falsche Vorstellungen über die Zeit, die zu der Tragödie führte, und beleuchtet die komplexen psychologischen Dimensionen des Völkermords. Zwischen Melancholie, Terror und Desillusionierung bietet Petit Pays einen bahnbrechenden und aufschlussreichen Blick auf eine der dunkelsten Seiten der afrikanischen Geschichte, die im Westen oft missverstanden wird.

In der frankophonen Welt ist Faye als Plattenkünstler bekannt. Sein gleichnamiger Song „Petit Pays“ aus dem Jahr 2011 wurde von einem farbenfrohen Musikvideo begleitet, das in den üppigen Hügeln von Burundi gedreht wurde. Der Song ist eine Fortsetzung von Protagonist Gabys Geschichte und beschreibt seinen Kampf, sich von seinen traumatischen Erlebnissen in Burundi zu erholen, wobei das Schreiben seine einzige Flucht vor der Vergangenheit darstellt. In dem Lied beschreibt Faye, wie Völkermorde eine komplexe Kombination aus Wut und Schuld bei Überlebenden wie Gaby hervorrufen, die sich oft zwischen „Selbstmord und Mord“ befinden. Das Schreiben ist ein sicherer und neutraler Weg, sich diesem Trauma zu stellen und die psychologischen Verwicklungen des Völkermordes in einer Welt, in der eine nach gut und böse aufgeteilte Interpretation der historischen Ereignisse die Norm ist, nach außen zu tragen.

Eine filmische Interpretation des Romans kam 2020 in die Kinos. Der Film, bei dem Eric Barbier Regie führte, wurde von der Kritik gelobt und bildet die letzte Facette von Fayes multimodalem Werk Petit Pays.

 

Der Roman ist das Herzstück dieses Projekts. Trotz seines fiktionalen Charakters ist die Hauptfigur, ein 11-jähriger Junge mit dem Spitznamen Gaby (kurz für Gabriel), unverhohlen von Fayes eigener Kindheit inspiriert. Gaby lebt in Kinanira, einem wohlhabenden Expat-Viertel in Bujumbura, mit seinem Vater, dem Familienkoch Prothé, dem Fahrer Innocent und seinen Freunden, mit denen er in einem verlassenen Volkswagen Kombi gerne Mangos isst. Die ersten Kapitel des Buches sind von Freude und Melancholie durchdrungen, während der Leser die Emotionen und Empfindungen dieses Kindes kennenlernt, das sich nur mit Entdeckungen und Schatzsuche beschäftigt. Von der Entdeckung der Wunder des Tanganjikasees bis hin zum Besuch verlassener Palmölfabriken wird Gabys Kindheit im Kontrast zu den alltäglichen Nöten der Burunder als bunte Anomalie inmitten der grassierenden Armut des Landes geschildert. Gabys Blase hat jedoch nicht dauerhaft Bestand; sie zerplatzt schließlich nach der Trennung seiner Eltern und dem Staatsstreich, der den neu gewählten Präsidenten Melchior Ndadaye am 21. Oktober 1993 stürzte.

Africa is a Country

Dieser Artikel erschien im Original auf englisch unter dem Titel “the missing pieces” bei Africa is a Country.

Im burundische Bürgerkrieg, der oft von den Ereignissen in Ruanda überschattet wird, standen sich ebenfalls eine Hutu-Mehrheit und eine Tutsi-Minderheit (zu der Gabys Mutter gehört) gegenüber. In der zweiten Hälfte des Romans wird Gaby mit neuen Realitäten konfrontiert. In einem politischen Kontext, in dem er als ethnischer Tutsi gezwungen ist, Partei zu ergreifen, wird Gaby von Desillusionierung, Misstrauen und Zweifeln geplagt. In dem Maße, in dem ethnischer Hass den öffentlichen Diskurs zu durchdringen beginnt, ändert sich Gabys Haltung gegenüber seinen Verwandten, Freunden und Bekannten. Indem sich Gaby im Laufe des Romans allmählich politisiert, wendet sich Faye gegen das Missverständnis, der Konflikt zwischen Hutus und Tutsis sei einfach aus heiterem Himmel entstanden. Stattdessen beleuchtet der Autor die umfangreiche Propaganda zur Spaltung der Bevölkerung und die komplexen psychologischen Manipulationen, die von den verschiedenen Akteuren des Völkermords – von den Regierungen bis zur Zivilgesellschaft – durchgeführt wurden. Westliche Historiker, Politikwissenschaftler und Organisationen wie Human Rights Watch haben oft behauptet, dass der Völkermord hätte verhindert werden können, wenn die internationalen Akteure härter durchgegriffen hätten. Dies ist sicherlich richtig, aber der Völkermord fand nicht im luftleeren Raum statt, und das Ausmaß der Ereignisse zu begreifen, war laut Faye damals eine komplexe Aufgabe.

Petit Pays Filmplakat

Der Roman hilft den Leser:innen, diese Komplexität zu begreifen: Sein Ich-Erzählstil ermöglicht es, in Gabys physische und psychologische Umgebung einzutauchen. Als Leser:in können wir uns in alle Bemühungen Gabys einfühlen – als wären wir selbst indirekt davon betroffen – selbst wenn er auf den letzten Seiten des Romans gezwungen wird, einen Hutu-Mann zu ermorden. Dennoch vermeidet Faye eine übermäßige Verwendung melodramatischer Sprache und entscheidet sich bewusst dafür, einen realistischen Roman zu schreiben. Seiner Meinung nach ist der Völkermord ein Ereignis, das die Literatur nicht in seiner Gesamtheit beschreiben kann. Gabys Verständnis des Völkermords ist daher sehr begrenzt und beschränkt sich auf seine persönlichen Erfahrungen – und damit auch auf das der Lesesenden.

Afrikanische historische Ereignisse wie der Völkermord in Ruanda und der Bürgerkrieg in Burundi werden allzu oft durch die Brille der westlichen Welt betrachtet. Die Erinnerung an diese Ereignisse ist daher von einer europäischen Voreingenommenheit geprägt, während neue Stimmen und Interpretationen es schwer haben, an die Oberfläche zu gelangen. Geschichte ist viel mehr als nur eine lineare, einseitige Zeitachse, und neue Erzählungen wie die von Gaby wurden oft aufgrund von Ethnie, Geschlecht oder Nationalität ausgeklammert. Das ist ein Fehler, denn Werke wie Petit Pays ermöglichen es uns, Geschichte neu zu denken und die gängige Art des Erinnerns zu hinterfragen. Es müssen gemeinsame Anstrengungen unternommen werden, um diesen neuen Erzählungen mehr Gewicht zu verleihen, denn sie sind entscheidende fehlende Teile des Puzzles, das wir Geschichte nennen.

Mathijs Cazemier ist Student an der Universität Leiden (Niederlande) und Mitbegründer des Kunst- und Medienblogs BetweenUs.

Gefördert durch die Kulturstiftung des Freistaates Sachsen. Diese Maßnahme wird mitfinanziert durch Steuermittel auf der Grundlage des vom Sächsischen Landtag beschlossenen Haushaltes.

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Verfluchte Erbstücke

Verfluchte Erbstücke
von Tsogo Kuba

Vor zwei Jahren schrieb ich einen Artikel über die afrikanische Netflix-Serie Queen Sono, in dem ich meine Bedenken über die Zukunft von Netflix in Südafrika äußerte. Meine Einschätzung war, dass Queen Sono tapfer versuchte, das eindeutig amerikanische Genre des Spionagethrillers in ein südafrikanisches Umfeld zu übertragen, das, so gut es auch gemeint war, die erwarteten Ungereimtheiten bei der Adaption des Genres in einem Kontext, der räumlich und zeitlich weit von seinem Ursprung entfernt ist, nicht überwinden konnte. Die Schwächen von Queen Sono scheinen einen breiteren Trend widergespiegelt zu haben, der vor allem in Film und Fernsehen auftritt, aber auch in anderen Kulturindustrien zu beobachten ist, wo die südafrikanische Kunst unter dem Einfluss der amerikanischen kulturellen Hegemonie mit ihrer eigenen Identität ringt. Die südafrikanischen Netflix-Originals der nachfolgenden Jahre haben meine Befürchtungen nicht widerlegt. Vielmehr noch haben sie einen Elefanten im Raum beleuchtet, den ich bei der Bewertung von Netflix‘ Eindringen übersehen hatte – nämlich die Dominanz von Seifenopern in der südafrikanischen Fernsehindustrie.

Südafrikas erste Seifenoper der demokratischen Ära, eGoli: City of Gold, wurde 1992 erstmals ausgestrahlt und bald darauf von der berühmteren Generations abgelöst, die von der South African Broadcasting Corporation (SABC), der öffentlichen Rundfunkanstalt des Landes, in Auftrag gegeben wurde. Während des demokratischen Übergangs bemühten sich die SABC und der Privatsender M-Net um die Förderung und Darstellung eines positiven und multi-ethnischen Südafrikas, indem sie die Schwarzen Südafrikaner:innen als wohlhabend und aufstrebend darstellten und sie beruflich und gesellschaftlich mit anderen Rassen zusammenführten. Die „Soapies“ dieser Zeit stellten ein neues Südafrika dar und zeigten, wie die neuen Südafrikaner:innen darin aussehen könnten. Obwohl Seifenopern oft keine gesellschaftspolitische Bedeutung beigemessen wurde, fungierten sie für viele Südafrikaner:innen als soziokulturelle Barometer. Neuere Interpreten lokaler Soaps erforschen die Lebenserfahrungen und brisanten Themen, die den Durchschnitts-Südafrikaner betreffen, und erzielen dabei hohe Einschaltquoten bei öffentlichen und privaten Sendern. Soaps sind im gesellschaftlichen Leben allgegenwärtig, und das Publikum entwickelt folglich parasoziale Beziehungen zu den Figuren und Handlungssträngen einer Soap. Die Episoden des Vorabends sind in vielen Bereichen des südafrikanischen Lebens Gesprächsthema – vom Taxistand über den Schulhof bis zur Kantine am Arbeitsplatz. Diese eingefleischte Zuschauerschaft ermöglicht es den Sendern, teure Werbung zur Hauptsendezeit zu verkaufen, was enorme Gewinne einbringt.

Es überrascht nicht, dass die Zahl der Soaps in Südafrika im Laufe der Jahre exponentiell gestiegen ist. Heute haben vier der fünf frei empfangbaren SABC-Kanäle eine Reihe von Soaps im Programm, die zur Hauptsendezeit ausgestrahlt werden. Seifenopern belegen derzeit die ersten zehn Plätze der meistgesehenen Fernsehprogramme des Landes. Der Großteil der Zuschaueranteile im südafrikanischen Fernsehen beruht auf dem Modell der Seifenoper. Es ist schwer zu glauben, dass diese Situation rein zufällig ist. Da die SABC exponentiell Geld verliert – aufgrund der Misswirtschaft von Führungskräften des Senders bis hin zu unabhängigen Produktionsfirmen -, bleiben die Seifenopern eine der beständigsten Einnahmequellen für den angeschlagenen Sender und immer noch ein Grundpfeiler der südafrikanischen Industrie.

Wenn es um Gewinnmaximierung durch Inhalte geht, ist Netflix nicht unerfahren. Nachdem sich das Unternehmen mit seinen relativ gewagten und von der Kritik gefeierten Serien (darunter House of Cards, Orange is the New Black, Stranger Things und Black Mirror) einen Namen gemacht hat, scheint es in letzter Zeit vor allem darum zu gehen, eine Flut von Inhalten zu produzieren, um seine Plattform zu unterstützen. Da sich immer mehr Sender von Netflix abspalten, um ihre eigenen Streaming-Plattformen zu starten (Disney+, Peacock, HBO Max), und neue konkurrierende Anbieter auf den Markt drängen (Apple TV, Amazon Prime), werden die Regeln des Wettbewerbs weniger durch den Kampf „echte Kunst gegen Inhalte zur Unterstützung einer Plattform“ bestimmt. Vielmehr geht es darum, so viele Inhalte wie möglich anzubieten – eine Veränderung, die durch die COVID-19-Pandemie und die Aufholjagd von Netflix gegenüber einer zunehmenden Zahl größerer und etablierterer Sender wie NBC und Disney, die über eingebaute Kataloge mit beliebten Serien und Filmen zur Unterstützung ihrer Streaming-Plattformen verfügen, vorangetrieben wurde. Angesichts der Tatsache, dass das Publikum viel mehr verfügbare Zeit und weniger verfügbares Einkommen zur Verfügung hat, sowie der zunehmenden Konkurrenz auf einem Markt, den Netflix einst monopolisiert hat, scheint Netflix davon auszugehen, dass sich die Zuschauer weniger um die Qualität dessen sorgen, was sie sehen, als vielmehr um die Quantität des Angebots.

Africa is a Country

Dieser Artikel erschien im Original auf englisch unter dem Titel “Cursed heirlooms” bei Africa is a Country.

Südafrikanische Filmemacher:innen haben eine vertrauensvolle Beziehung zu Netflix aufgebaut, indem sie mit dem von lokalen Trends unabhängigen Unternehmen Serien entwickeln und produzieren. Für Netflix dient die Partnerschaft nicht nur der Ergänzung seines globalen Content-Streams, sondern Südafrika scheint ein perfekter Weg zu sein, da seine eigene Industrie der effizienten Maximierung von Inhalten Priorität eingeräumt hat – ein offensichtlicher Übergang zur Streaming-Industrie. In den späten 2000er und frühen 2010er Jahren entwickelte sich das Fernsehen zu einem immer stärker von Autoren geprägten und dramaturgisch fesselnden Format. Das amerikanische Fernsehen zog Hollywood-Schauspieler, Autoren und Regisseure an, die Budgets wuchsen, die Laufzeiten wurden länger und die Erzählweise reifte. Der kleine Bildschirm begann, nuancierte, moralisch zweideutige und psychologisch reichhaltige Charaktere zu zeigen, die in komplexe und sorgfältig ausgearbeitete Geschichten eingebunden waren. Prestige-Dramen und anspruchsvolle Komödien wie Breaking Bad, Atlanta, Girls, The Sopranos und viele andere zeigten Zuschauer:innen, Kritiker:innen und Produzent:innen gleichermaßen, dass der kleine Bildschirm seinem großen Pendant in künstlerischer Hinsicht ebenbürtig sein konnte. Zwar spricht vieles dafür, dass einige der Elemente dessen, was umgangssprachlich als „Peak TV“ bezeichnet wird, ihren Ursprung in der Seifenoper haben, doch findet sich das Genre heute unter den TV-Relikten neben 30-minütigen Sitcoms mit mehreren Kameras und Familienspielshows wieder.

Letztlich geht es bei allen Seifenopern weniger um eine sinnvolle, durchdachte und geschickte Handlung, sondern vielmehr um das Bemühen, die Sendeanforderungen des Genres zu erfüllen. Dies sind Zugeständnisse, die die meisten Zuschauer:innen für die Bequemlichkeit täglicher Episoden bis ins Unendliche passiv hinnehmen.

Die Dominanz jeder Form von Fernsehen kann problematisch sein. Das Spitzenfernsehen, so sehr es auch geschätzt wurde, hatte eine begrenzte Lebensdauer und seine eigenen schädlichen Eigenschaften und Folgen. Im Gegensatz zu Peak TV hat das Genre der Seifenoper einen besonders schädlichen Einfluss, da seine erzählerischen Konventionen auf eigentümliche Weise mit seinen einzigartigen Sendeanforderungen verbunden sind. Wenn es darum geht, die Tradition der Seifenoper an andere Fernsehformen, insbesondere an die Serienform, anzupassen, ist es unklug, ja sogar destruktiv, das Kind mit dem Bade auszuschütten und das Baby zu behalten. Dieser Kampf hat die südafrikanischen Netflix-Shows geprägt. Die Omnipräsenz von Soaps führt dazu, dass die meisten, wenn nicht sogar alle Filmemacher, die im Fernsehen arbeiten, einen großen Teil ihrer Karriere diesem Genre verdanken, und so fällt es ihnen schwer, aus seinen sehr speziellen Parametern auszubrechen.

Abgesehen vom Budget besteht der unmittelbarste Unterschied zwischen einer Serie und einer Soap darin, dass Serien ein Ende haben. Für Soaps ist es charakteristisch, dass sie kein Ende haben. Daher ist es unmöglich, außerhalb der jeweiligen Prämisse einer Soap die konzeptionelle Gesamtheit einer Soap wirklich zu erfassen. Das Problem, einen überzeugenden Weg zu finden, Geschichten zu beenden, Handlungsstränge entlang eines Bogens auszurichten und ein ausgewogenes Tempo zu finden, ist ein wiederkehrendes Problem bei südafrikanischen Netflix-Originalen.

Jiva! ist trotz seiner vielen Reize ein deutliches Beispiel dafür. Die Serie ist ein Tanzdrama (à la Step-Up), das die Geschichte einer jungen Frau, Ntombi (Noxolo Dlamini), erzählt, die einen aussichtslosen Job als Fremdenführerin im örtlichen Wasserpark hat, aber alles riskiert, um ihren Traum zu verfolgen, professionelle Tänzerin zu werden. Jiva! bietet in seiner acht Episoden umfassenden ersten Staffel eine Vielzahl von Handlungssträngen, von denen jedoch nur eine Handvoll fesselnd wirkt, weil die meisten nicht mit dem zentralen Thema der Serie zusammenhängen. Alles andere verfällt in eine vorhersehbare Liebesgeschichte, sobald es den Raum des zentralen Tanzwettbewerbs verlässt.

Thematische Widersprüche tauchen in ähnlicher Weise in Blood and Water auf, der zweiten südafrikanischen Koproduktion, die nach Queen Sono auf Netflix debütiert und bei ihrem Start weltweit auf Platz 1 landete. Über die beiden Staffeln hinweg leidet die Serie an einer akuten Identitätskrise. Manchmal sehnt sie sich danach, ein düsterer und spannender Thriller zu sein, was der Autor Nosipho Dumisa-Ngoasheng, der bereits eine Adaption von Alfred Hitchcocks Rear Window geschrieben hat, mehr als gut beherrscht. Aber es will auch die sorglose Ernüchterung eines Gossip Girl, in dem die Teenager so fantastisch von den Eltern oder jedem Anzeichen von Adoleszenz oder Verantwortung entfernt sind.

Blood and Water folgt Puleng Khumalo (Ama Qamata), einem Mädchen im Teenageralter, das sich an einer angesehenen Privatschule in Kapstadt einschreibt, weil es vermutet, dass eine der Schülerinnen, Fikile Bele (Khosi Ngema), ihre ältere Schwester ist, die kurz nach ihrer Geburt von ihren Eltern entführt wurde. Im Laufe der ersten Staffel, in der Pulengs Versuche, zu beweisen, dass Fikile ihre Schwester ist, immer gefährlicher und oft auch hirnrissiger werden, wird der/die Zuschauer:in an die Leere erinnert, die ihre zerrüttete Familiendynamik darstellt, und daran, warum sie verzweifelt versucht, das Geheimnis zu lösen. Der zweiten Staffel fehlt die thematische Grundlage, die der ersten Staffel den Fokus gegeben hat, und wie Jiva! kämpft sie damit, eine fesselnde Geschichte oder Handlung außerhalb der Haupthandlung aufrechtzuerhalten. Die Handlung wird in der zweiten Staffel unbeholfen vorangetrieben, ihre ergänzenden Nebenhandlungen werden routinemäßig aufgegriffen, vergessen, abgehackt und verändert, ohne dass es eine Auflösung gibt. Das Hinzufügen neuer Charaktere fühlt sich aufregend an, ist aber gegen Ende der Staffel unerheblich.

Fairerweise muss man sagen, dass schlechtes Schreiben schlechtes Schreiben ist, unabhängig davon, ob dieses schlechte Schreiben in einer Branche angesiedelt ist, die von einer speziellen Art des Geschichtenerzählens geprägt ist. Der Austausch von Handlungssträngen in dieser Art und Weise erinnert an die Traditionen des Geschichtenerzählens in Soap-Serien, in denen eine Vielzahl von tangentialen und ungelösten Handlungssträngen üblich ist, um das wochentägliche Sendeprogramm zu unterstützen. Die Handlungsstränge haben keine saubere Auflösung, und Nebenhandlungen, Wendungen und Charaktere werden in einem schwindelerregenden Tempo entwickelt, fallen gelassen und wieder aufgegriffen. Diese Merkmale wären in einer Seifenoper zu Hause, aber in einer Staffel mit einer Laufzeit von acht bis zehn Episoden führt dies zu einem Mangel an Fokus und Kohäsion.

Der nagende und ausufernde Einfluss von Soaps hindert südafrikanische Serien daran, jemals die Art von charakteristischer und nuancierter Erzählung zu erreichen, die zum Beispiel Squid Game zu einem durchschlagenden Erfolg machte. Außerdem ist die Produktion von 260 Episoden in einem einzigen Jahr eine gigantische Aufgabe für jede Produktionsfirma. Die enorme Arbeitsbelastung hat dazu geführt, dass sich viele Beschäftigte in der südafrikanischen Filmindustrie über Überlastung und Unterbezahlung beklagen. Angesichts von mehr als einem Dutzend Soaps, die derzeit in einer relativ kleinen Branche produziert werden, fragt man sich, ob die Rahmenbedingungen tragfähig sind. Was wir brauchen, ist eine rigorosere Hinterfragung des Stands der Dinge, anstatt eine passive Akzeptanz der Industrie als den aktuellen Stand der Dinge. Wenn Hit-Shows wie Is’thunzi, Tjovitjo, Hopeville oder Yizo Yizo uns etwas gezeigt haben, dann dass die Südafrikaner:innen in der Lage sind, sich für das Serienfernsehen zu interessieren und es zu unterstützen. Die südafrikanischen Netflix-Serien des letzten Jahres sind ein Zeichen dafür, dass die Hegemonie der Seifenopern bei weitem kein Einzelphänomen ist; ihr Einfluss engt offensichtlich die kreative Vorstellungskraft ein, wie lokales Fernsehen aussehen und sich anfühlen kann.

Dabei geht es nicht darum, die lange Geschichte der Seifenopern und die wichtige Rolle, die sie im Leben von Millionen von Südafrikaner:innen spielen, zu verharmlosen, sondern darum, als Produzierende und Konsumierende von Inhalten zu fordern, dass die Soap nicht das einzige Genre ist, von dem die Fernsehindustrie lebt.

Tsogo Kupa ist Schriftsteller und Filmemacher aus Johannesburg.

Gefördert durch die Kulturstiftung des Freistaates Sachsen. Diese Maßnahme wird mitfinanziert durch Steuermittel auf der Grundlage des vom Sächsischen Landtag beschlossenen Haushaltes.

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Film

Ein Kind der ruandischen Diaspora und das Heimweh

Ein Kind aus der ruandischen Diaspora und das Heimweh
von Kathryn Mara

Das Lied „Sabizeze“ erzählt eine Geschichte, in der ein ruandischer König, der sich einen Sohn als Erben wünscht, seine unwissentlich schwangere Frau verbannt. Im Exil bringt sie einen Sohn zur Welt, Sabizeze. Als der König davon erfährt, macht er sich auf die Suche nach seinem inzwischen erwachsenen Sohn und heißt ihn zu Hause willkommen.

Das Lied spielt eine wichtige Rolle in dem Film Ndagukunda Déjà (Ich liebe dich bereits), einem kurzen Dokumentarfilm unter der Regie von Sébastien Desrosiers und David Findlay. Der Film erzählt die Geschichte des Co-Regisseurs und quebecer Journalisten Desrosiers, der seinen ruandischen Vater (der damals in Montreal lebte) kennenlernt und nach Ruanda reist, um sich selbst zu finden.

Die Wahl des Liedes ist aufgrund seiner Parallelen zur Erfahrung von Desrosiers sehr passend: Er wurde von einer weißen kanadischen Mutter in Abwesenheit seines unbekannten Vaters aufgezogen, traf seinen Vater erst im Alter von 28 Jahren und wurde anschließend von der Familie seines Vaters in Ruanda aufgenommen.

Im Mittelpunkt des 21-minütigen Films stehen Desrosiers‘ Diskussionen über Identität und Zugehörigkeit. Zu Beginn des Films erinnert er sich daran, dass er nicht bereit war, über seinen Vater zu sprechen, weil dies bedeuten würde, „sein Anderssein zu akzeptieren“. Später spricht Desrosiers darüber, wie er „die Rolle des Schwarzen Freundes“ spielte, sich aber wie ein Hochstapler fühlte, weil er von seinen „afrikanischen Wurzeln“ weit entfernt war. Er erklärt, dass es bei seiner Reise nach Ruanda darum ging, Akzeptanz zu finden, doch wenn er über seine Erfahrungen nachdenkt, sagt er „Wenn ich dachte, dass ich in Québec ein Schwarzer war und dass ich … nach Ruanda zurückkehren würde … lag ich völlig falsch, denn dort war ich für sie nur ein Weißer, den sie ‚umuzungu‘ nennen.“ Gegen Ende des Films scheint Desrosiers die Anerkennung zu bekommen, die er sucht. In seinen Gesprächen mit anderen Ruandern sagt Desrosiers‘ Onkel: „Seht ihn nicht als Fremden. Er ist unser Bruder. Das ist unser Sohn und unser Bruder … Ich sagte: ‚Er – das ist unser Sohn. Ein Ruander wie wir.‘ Sie sagten: ‚Nein. Nein. Er ist umuzungu.'“ Sein Onkel erwiderte: „Nein, nein. Er sieht nicht aus wie wir, aber er ist Ruander.“

Dieser Kommentar zeigt Desrosiers‘ Auseinandersetzung mit seiner eigenen Identifikation und der Identifikation anderer mit ihm. Der Film nähert sich der Identität zwar gelegentlich in einer essentialistischen Weise, aber er fängt auch Desrosiers‘ Gefühle der Enttäuschung darüber ein, dass er auf eine Weise identifiziert wird, die er nicht wünscht; seine Unsicherheit, sich als Afrikaner, Ruander und/oder Schwarzer zu identifizieren; und sein Bestreben, dazuzugehören und seine Identität von anderen anerkannt und akzeptiert zu bekommen.

Die Akzeptanz von Desrosiers‘ Vater und Onkel sorgt für ein glückliches, wenn auch nicht triviales Ende. Allerdings werden solche Erkenntnisse im Film für das Publikum in einer weitgehend präskriptiven Weise dargelegt, anstatt durch Dialoge und Interaktion demonstriert zu werden. So erfährt der Zuschauer beispielsweise nur wenig von der Unterhaltung zwischen Vater und Sohn. Wenn ein natürlicherer Diskurs gezeigt wird, kann er etwas unbeholfen wirken. Als Desrosiers beispielsweise seine Mutter aus Ruanda anruft, teilt er ihr mit, dass er „den Onkel“ getroffen hat, bevor er sich zu „meinen Onkel“ korrigiert. Während der Film die Identifikation von Desrosiers mit seiner ruandischen Familie und seine Zugehörigkeit zu ihr aufgrund des gemeinsamen Erbes als ausgemachte Sache darstellt, zeigt dieser kleine Fehler, dass die Identifikation ein viel komplexerer Prozess ist. Mit anderen Worten, Desrosiers‘ anfängliche Identifizierung seines Onkels als „der Onkel“ zeigt, dass rassische, nationale oder sogar familiäre Identifikationen niemals vorausgesetzt werden können, sondern vielmehr Produkte der sozialen Praxis sind. Ich werfe Desrosiers diesen Ausrutscher nicht vor, aber ich hätte es begrüßt, wenn auch andere Fälle der gegenseitigen Entdeckung und Identifizierung untersucht worden wären.

Der Film spielt auch während des fünfundzwanzigsten Jahrestages des Völkermordes in Ruanda 1994. Obwohl nicht klar ist, an wen sich der Film richtet, wird nur sehr wenig über den Völkermord selbst erzählt. Desrosiers offenbart, dass sein Vater nicht darüber sprechen konnte oder wollte, was seiner Familie vor oder während des Völkermords von 1994 widerfuhr. Als sein Onkel Desrosiers zu einer Gedenkstätte für den Völkermord begleitet, erklärt dieser ruhig, dass Desrosiers‘ Großvater 1963, also zu Beginn des Völkermords, getötet wurde, während seine Großmutter, seine Tanten und Onkel 1994 getötet wurden. Desrosiers räumt ein, dass er diese Familienmitglieder zwar nicht kannte, ihnen aber das „Gedenken“ schuldig ist. Er gibt jedoch keine Erklärung dafür ab, warum. Tatsächlich scheint der Völkermord von 1994 selbst des Gedenkens würdig zu sein, doch wird er auch ohne Kontext dargestellt.

Solche Szenen zeigen nicht nur mögliche Unterschiede zwischen dem Reden über den Völkermord von 1994 in Ruanda und in der Diaspora, sondern auch die verschiedenen Prozesse, durch die die Erinnerung an den Völkermord gefördert wird und von denen erwartet wird, dass sie von der ruandischen Jugend aufgegriffen werden. In einer Szene bezeichnet Desrosiers‘ Vater die Reise seines Sohnes als „eine Binde auf [seinem] Herzen“.

Ndagukunda Déjà ist reich an Symbolik; doch wenn Desrosiers nach Ruanda reiste, um Fragen zu beantworten, die er sich sein ganzes Leben lang gestellt hatte, wirft der Film auch mehr Fragen auf, als er beantwortet, insbesondere über Identifikation, Zugehörigkeit und Erinnerung.

Africa is a Country

Dieser Artikel erschien im Original auf englisch bei Africa is a Country.

Gefördert durch die Kulturstiftung des Freistaates Sachsen. Diese Maßnahme wird mitfinanziert durch Steuermittel auf der Grundlage des vom Sächsischen Landtag beschlossenen Haushaltes.

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Film

Borga

Borga
Interview mit Filmemacher York-Fabian Raabe. Von Hans Hofele.

Seit Ende Oktober läuft er in den deutschen Kinos: BORGA, der Film über die Geschichte zweier Brüder aus Ghana, Kojo und Kofi. Einer wird sich später nach Deutschland auf den Weg machen, denn ein Borga, so heißen die vermeintlich reichen Onkel, die es in der Ferne zu etwas gebracht haben, hat ihn elektrisiert.
Es knistert von der ersten Sekunde an. Das Feuer wird gleich zu Beginn entzündet. Und es wird uns in den Film ziehen und mit seiner emotionale Wucht mitnehmen. Zuerst Ghana, später Deutschland und wieder zurück. Am Anfang brennt das Feuer: Wir sind an einem unheimlichen und doch sehr realen Ort in Afrika. Ein Ort, der schon mehrfach in Reportagen thematisiert wurde: Agbogbloshie oder auch Sodom und Gomorrah genannt, ist ein Teil Accras, der Hauptstadt von Ghana. Es ist dieser ganz reale Unort, ein manchmal apokalyptischer Ort, an dem die Menschen aus dem Elektroschrott des globalen Nordens die Rohstoffe herausbrennen. Es ist aber aber auch ein zutiefst menschlicher Ort, das dürfen wir in Borga so hautnah miterleben, wie es bisher noch nicht gezeigt wurde. Dabei ist Borga kein Dokumentarfilm. York-Fabian Raabe hat als Regisseur ein bildstarkes Spielfilmdebut abgeliefert, das mitreißend inszeniert ist. Für die Kamera ist Tobias von dem Bornes verantwortlich. Das Schauspielensemble ist großartig besetzt, vor allem mit Eugene Boateng in der Hauptrolle. Aber auch die anderen Schauspieler:innen, zum Teil Stars aus Ghana (Adjetey Anang und Lydia Forson), aber auch eine Neuentdeckung des Films, der junge Emmanuel Affadzi, und aus Deutschland Christiane Paul, sind großartig.

Es steckt viel drin in diesem Film über Familie, über Heimat, Migration, Rollenbilder, afrikanische Realitäten und Klischees. Die Herstellung, die Produktion auf Augenhöhe mit den Schauspieler:innen, der wahrhaftige Ansatz dieser Produktion geben genügend Stoff für ein Gespräch, das ich mit Filmemacher York-Fabian Raabe gehalten habe.

Seit 2011 habt ihr an der Produktion gearbeitet. Erzähl doch mal, wie der Film zustande kam.

Man sollte bei dieser Geschichte zwiebeln: Der Kern der Geschichte ist ein familiärer Kern. Da geht es darum, der jüngere Bruder zu sein. Die Anerkennung der Familie zu finden. Das verbindet sowohl Eugene als auch mich, wenn auch in unterschiedlicher Form. Eugene als Teil einer großen Familie, ich bin der Jüngste und hab zwei größere Brüder, die 7 und 10 Jahre älter sind als ich. Wenn man jung ist, dann möchte man die Anerkennung, möchte mithalten, aber man ist aufgrund seiner Entwicklung ja noch gar nicht imstande. Als ich sieben war, ist mein großer Bruder 18 geworden. Das ist der familiäre Kern, der ja witzigerweise überall auf der Welt vorkommt. Das ist auch die Geschichte von unserem Produzenten Alexander Wadouh, dessen Vater und seinem Bruder. Diese Geschichte ist auf der ganzen Welt verteilt.

Da steckt also ganz viel Universelles drin. Letztendlich auch die Gründe, weshalb Kojo nach Deutschland kommt, auswandert beziehungsweise sein Glück woanders sucht.

Ich muss dich jetzt mal richtig loben, weil du auswandern sagst. Die meisten sagen flüchten. Es ist unpräzise, zu sagen „flüchten“; es gibt ein falsches Bild. Flucht und Auswanderung ist ein großer Unterschied.

Im Film habe ich das universelle Motiv des Auswanderns erkannt: Der Vater bevorzugt den ältesten Sohn, für den oder die Zurückgebliebenen reicht es nicht zu einem guten Leben. Ein Motiv, dass ja auch in Deutschland, z.B. meiner Heimat Württemberg im 19. Jahrhundert das zentrale Motiv des Auswanderns war. War es auch im Film so angelegt?

Ich war fasziniert, als ich von Edgar Reitz (Deutscher Regisseur, u.a. „Heimat“, Anmerkung d. Autors) vor kurzem zum ersten Mal die „Andere Heimat“ gesehen habe, wie viele Motive sich mit Borga decken. Damals, im 19. Jahrhundert, sind viele Hunsrücker nach Brasilien ausgewandert. So gibt es in unserem Film die Szene mit Kojo (dem jüngeren Bruder), der den Borga trifft, ihn glorifiziert und der den Wunsch in ihm erweckt, auszuwandern. In der „Anderen Heimat“ gibt der Adelige dem Jakob (auch der jüngere Bruder) ein Reisebuch, was seine Sehnsucht nach der Ferne weiter entflammt. Ich glaube, dass uns Menschen viel mehr verbindet, als wir denken. Ich habe eine reiseverrückte Mutter, die mich ab dem 5. Lebensjahr in alle möglichen Länder mitgenommen hat. Was ich vor allem gesehen habe: Gesellschaften sind anders, Wertekonzepte sind anders aber das Menschliche im Kern, das ist in funktionierenden Gesellschaften das Verbindende. Und deshalb ist es vollkommen egal, welcher Kontinent, welche Hautfarbe. Borga kommt von dem Wort Hamburg, das sind ja diejenigen, die in den Westen gegangen und zu Wohlstand gekommen sind – und dann zurückkehren. Ein albanischer Zuschauer, meinte zu mir, “bei uns heißen die Schatzis”.

Wie ging es dann weiter. Von der Idee zur Produktion?

Die Aktivierungsenergie kam von Stefanie Groß vom SWR. Ich hatte 2011 den Max Ophüls Preis mit meinem Kurzfilm gewonnen. Den hat Stefanie gesehen und gesagt, „ich fände es schön, wenn wir einen Film machen würden“. Dann habe ich gesagt „OK. Dann mache ich mir mal Gedanken.“ Ich hatte vorab schon Ideen, Fragmente, aber sie hat den
Film initiiert.

Du hast doch dann auch noch über Agbogbloshie einen Dokumentarfilm gemacht, war das davor?

Während der Recherche. Früher war ich Student der DFFB. Reinhard Hauff war damals unser Direktor. Er hat zu uns Studierenden immer gesagt: Wenn ihr eine Geschichte seht und ihr habt eine Kamera dabei, halte kurz inne, überlegt Euch ein Konzept und dann fangt an zu drehen. Genau das haben wir gemacht.

Wie war dann der Dreh vor Ort in Accra, an diesem speziellen Ort, waren die Menschen argwöhnisch, als ihr dort aufgetaucht seid? Wart ihr willkommen oder war das schwierig?

Was heißt schwierig? Rein physisch ist da schon eine Herausforderung. Das ist an Giftigkeit schon ne heftige
Nummer. Du hast diese Kombination aus Verbrennungsgiften, dann hast du chemischen Gifte, dann aber auch ganz viel biologische Gifte. Schicht für Schicht kleben sich dann biologische und chemische Hazards zusammen. So krass, dass man auch kilometerweit entfernt in der Luft die Verschmutzung wahrnimmt. Die Umstände waren hart. Was das Menschliche angeht: Was ich bisher von den Menschen in Ghana wahrgenommen habe ist, sie empfangen einen sehr höflich; und wenn man selbst mit Respekt kommt, wird man auch mit Respekt behandelt. Das gleiche gilt für diesen Ort. Wir hatten Partner vor Ort, die wiederum kannten die Chiefs. Agbogbloshie ist in mehrere Bereiche aufgeteilt, man geht dann zu den jeweiligen Chiefs, zollt ihnen Respekt und gibt ihnen auch Geld. Das halte ich übrigens nicht für verwerflich, in Deutschland zahlt man ja auch für Drehgenehmigungen. Wenn der Deal getan ist, geht alles schnell: Es ist krass, wie schnell alle Bescheid wissen. Alle wussten, dass es okay ist, wenn wir drehen.

Wie kam der Cast zustande, es sind ja auch Laienschauspieler:innen dabei?

Der Cast hat mich so überrascht, ich bin immer noch happy, obwohl er so heterogen ist: Adjetey Anang und Lydia
Forson sind Superstars, Adjetey ist in Ghana wie George Clooney. Im Gegenzug der kleine Junge mit der gelben Mütze im
Film ist ein echtes Straßenkind. Wir haben mit einer Organisation zusammengearbeitet, die sich um Straßenkinder
kümmert. Die hat uns die Kinder vermittelt. Es gab Betreuer für die Kinder am Set, das war uns wichtig. Und auch Gagen wurden für die Kinder hinterlegt. Der junge Hauptdarsteller, der junge Kojo (Emmanuel Affadzi) wiederum, ist ein absoluter Profi! Der kam zu mir und fragte: „Director, has something changed this day? No?! Okay then I am going to concentrate on these lines.“ Diese Arbeitsethik habe ich bei kaum einem deutschen Schauspieler gesehen. Und wo hat er das gelernt? Er hat bei „Beasts of No Nation“ mitgespielt. Regisseur war Cary Joji Fukunaga, der den letzten James Bond gedreht hat. Die haben die Kinder schauspielerisch intensiv vorbereitet.

Das, was ihr im Film in den Szenen in Accra zeigt, ist ein sehr ambivalentes Bild von dort. Dort ist sehr viel Menschlichkeit zu sehen. War dir das wichtig zu zeigen, dass es nicht nur schlecht und kaputt, sondern es differenziert zugeht? Dass selbst an üblen Orten wie Agbogbloshie Menschen Mensch sein dürfen?

Ich glaube, es ist sogar mehr als das. Ich habe viel Slums schon gesehen in meinem Leben. Wir haben hier im Westen
oftmals ein verzerrtes Bild. Die Menschen werden meist auf ihr Elend reduziert. Aber gerade wenn Menschen in schwierigen Situationen leben, dann ist die Familie und das soziale Untereinander ja besonders wichtig. Viele vergessen, im Nachkriegsdeutschland sah es auch nicht viel anders aus: Die Städte waren zerstört, es herrschte Anarchie was die Lebensumstände angeht aber keine Anarchie was die familiären Umstände angeht. Die Menschen waren aufeinander angewiesen. Kinder sind losgezogen und haben von der Ernte übrig gebliebene Kartoffeln organisiert. Die
wurden nach Hause gebracht und geteilt. Wenn nicht, gab es Ärger. Es gibt also viele Parallelen. Und das ist es, was viele grundsätzlich falsch verstehen in der westlichen Welt: Sie denken, Menschen in schrecklichen Situationen sind in einem anarchischen Zustand, der apokalyptisch ist. Es ist aber nicht der Fall, Menschen rücken näher zusammen in solchen Situationen. Eigentlich haben wir in Mitteleuropa, in Deutschland, eher das Problem. Wir haben immer weniger Drei-Generationen-Haushalte. Heute leben die Menschen oft komplett entfernt von ihren Familien. Deswegen ist es eigentlich genau umgekehrt von dem, was erwartet wird.

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Culture Africa

Dieser Artikel erschien erstmals auf dem Blog Culture Africa unter dem Titel „Borga – Much more than a Movie.Interview mit/with Director York-Fabian Raabe“ Culture Africa ist ein nicht-kommerzieller Kulturblog und Kooperationspartner der Heroe Book Fair in Mombasa.

Du bist nicht der Versuchung erlegen, aus dem Film heraus eine White Savior Botschaft zu senden: Diese Apokalypse dort in Accra mit ihren Menschen unwürdigen Verhältnissen muss ein Ende haben ?

Der Film ist so gebaut, dass er im Kern eine Message erzählt, die auf das westafrikanische Adinkra Symbol Sankofa aufbaut: Dreht Euch um, guckt in Eure Vergangenheit, lernt daraus und nehmt das Gute aus der Vergangenheit und tragt es nach vorne. Aber wenn du Agbogbloshie als Ort meinst, ich bin Filmemacher und kein Entwicklungshelfer und ich bin auch kein Prediger. Agbogbloshie ist ein sehr komplexer Ort. Für viele Menschen ist es auch ein Zuhause. Wenn du dort hingehst und mit den Menschen drehst, redest, arbeitest, dann ist es erst mal deren zuhause. Und ich habe auch nicht das Recht darüber zu urteilen, nur weil ich denke, hmm, die Tür schließt vielleicht nicht ganz luftdicht wie in Deutschland (ironisch). Dann heißt das noch lange nicht, dass ich das Recht dazu habe zu sagen: Das ist schlecht. Ich versuche mich mit Bewertungen zurückzuhalten, was Umstände angeht. BORGA ist eine Herzensgeschichte und eine Familiengeschichte. Eugene und ich haben diesen Film gemeinsam auf Augenhöhe erschaffen. Wenn es um den Cause geht, den wir wollen, dass alle Menschen gleich angesehen werden, dass die Black Communities erstarken, ihre eigenen Sachen machen können, nicht mehr benachteiligt werden, was diesen Cause angeht, da stehe ich nicht vorne. Ich find es nicht in Ordnung, wenn diese Themen von Nicht-Betroffenen vereinnahmt werden, ich nenn es auch Hijacking. In Amerika passiert es ganz häufig, dass Themen gerne gehijackt werden. Weiße Männer und Frauen hijacken die Themen von Schwarzen Männern und Frauen. Der Cause ist Eugenes Thema, da hat Eugene eine ganz andere Position als ich. Also bildlich gesprochen, ich helfe mit, den Karren zu schieben, ich supporte. Aber ich stehe nicht vorne als Gallionsfigur, ich sitze auch nicht am Steuer. Ich schiebe den halt. Und wenn er in eine komische Richtung fährt, würde ich vielleicht sagen: “Eh, das find` ich nicht gut.” Aber alles andere steht mir nicht zu.

Zur Sprache im Film: Hat es viel Überzeugungsarbeit gekostet, dass der Film auch in Originalsprache mit UT ins Kino kommt? In Deutschland wird ja gerne synchronisiert.

Wir haben Twi, Ga, Fanti und ein bisschen Hausa. Dass es Deutsch synchronisiert würde, war nie ein Thema. Was wir überlegt hatten war, Pigeon English sprechen zu lassen. Wegen der größeren Zugänglichkeit. Eugene hat darauf bestanden, es auf Twi zu drehen. Bei den Castings haben wir gemerkt, dass wenn die Darsteller Twi sprechen, sie auf einem anderen Level spielen. Wir haben uns dann dafür entschieden. Im Nachhinein war es die richtige Entscheidung gewesen.

Wie war denn die Zusammenarbeit mit Eugene Boateng? Er fungiert ja nicht nur als Schauspieler, sondern war auch für die kulturelle Beratung zuständig.

Wenn z. B, Eugene gesagt hat, die Skulptur in dem Afro-Shop in Mannheim, das passt nicht. Dann war diese Figur danach weg. Wenn es ums Schauspiel geht, spüre ich aber meistens instinktiv vorher, wenn etwas nicht stimmt. Falls ich des Rätsels Lösung nicht selber gefunden haben, bin ich zu Eugene und dann haben wir gemeinsam versucht, das zu erforschen. Wir haben, glaube ich, ein Problem in Deutschland mit der Definition von Regie. Da gilt immer noch: Der Regisseur hat als einziger die Vision im Kopf und muss es schaffen, diese Vision genau wie in seinem Kopf auf die Leinwand zu bringen. Aber es gibt viele Arten, Regie zu führen: Bei Michael Haneke gibt es Probleme, wenn die Satzkonstruktion nicht genau wie im Drehbuch ist; Ron Howard dagegen hat die Methode „Directing by Contribution“. Und diese Art von Regieführung (von Ron Howard) ist für einen Film wie BORGA unerlässlich. Weil der Erfahrungshorizont von Eugene, aber auch von den anderen Schauspielern total wichtig ist. Und mit Eugene gab es eine Person, bei dem die ganzen kulturellen Faktoren zusammenlaufen. Zusammen haben wir dann wiederum mit den jeweiligen Schauspielern die Feinheiten herausgearbeitet. Ich habe den Gesamtüberblick und den Blick für die Inszenierung, Eugene den kulturellen Blick und die Schauspieler noch mal ihren eigenen. Aus allem zusammen entstand diese besondere Authentizität des Films.

Es gibt eine schöne Szene im Film, wie Eugene im strahlend blauen Anzug mit teuren Schuhen durch Agbogbloshie läuft. Er scheint wie entrückt. Kannst du etwas zu der Bedeutung des Films für Eugene sagen?

Das kann nur Eugene selbst sagen. Ich kann aber einen kleinen Einblick geben, was ich beobachtet habe. Für Eugene ist der Film eine ganz besondere Erfahrung. Er trägt zwei Heimaten in sich, die Ghanaische und die Deutsche. Wenn man z.B gesehen hat, wie stolz er über seine Heimat in der Kiefernstraße in Düsseldorf spricht und dann wiederum genauso über seine Heimat in Ghana, dann versteht man das. Für den Film musste, wollte und konnte er in beiden Heimaten aufgehen und auch in beiden bestehen. Deswegen ist es für ihn ein ganz besonderer Prozess gewesen. Er hat beide Seiten dabei auch neu kennengelernt. Zu der Szene mit dem Anzug gibt es eine Anekdote: Eugene steht im Anzug auf der Brücke, wir drehen gerade, da kommt ein Einheimischer und beschwert sich, dass wir wieder nur das Klischee (die Armut auf der Müllhalde und nicht das wirkliche Leben der Menschen) zeigen. Eugene hat dann mit ihm gesprochen und die Idee des Films erklärt. Danach war er begeistert.
An den Ort kommen nämlich viele Journalisten und machen einen “Leidenstourismus”. Das ist ein großes Problem. Sie
schaffen ein Mitleidsbild, von oben herab. Diese Mitleidsperspektive nimmt Respekt und Stolz.

Du hast viel Kontakt zur Ghana Community in Deutschland. Wie nimmst du das Verhältnis der Menschen in der Diaspora war?

Ich kann hier nur meine Beobachtungen schildern, die weder allgemeingültig sind, noch in irgendeiner Weise wertend sein sollen. Das ist ein komplexes Feld. Allein das Wort Diaspora setzt ja schon ein Perspektive. Für viele ist aber Deutschland ihre Heimat und das Wort Diaspora macht in diesem Zusammenhang weniger Sinn. Für mich unterscheiden sich die Menschen mit afrikanischen Wurzeln in Deutschland deutlich. Sind sie im Ursprungsland geboren oder nicht? Haben sie dort gelebt? Wie sind sie damit umgegangen, in einem “neuen” Land zu leben bzw. wie gehen ihre Kinder damit um, wenn das neue Land die Heimat ist, oder auch nicht? Gerade in Deutschland sehe ich es bei den Ghanaen, bei unseren Vorstellungen: Die eine Hälfte kann Twi (oder eine andere ghanaische Sprache) und ist noch sehr verbunden mit der ghanaischen Kultur und die anderen können es nicht. Da hat jeder so seinen Blick und seinen Konflikt. Ich würde das aber immer positiv konnotieren. Es ist Bewegung da, es wird sich auseinandergesetzt, ein Bewusstsein geformt und das ist das Tolle.

In einem anderen Interview habe ich gelesen, dass Eugene die Rolle gar nicht erst spielen wollte, wegen der vermeintlichen Klischeerolle, stimmt das?

Das ist eine große Fehlinformation! Er wollte das Drehbuch nicht lesen! Ein Jahr hat es gebraucht, dass ich ihn
überzeugen konnte, das Drehbuch zu lesen. Man muss das verstehen. Da kommt ein weißer Regisseur und sagt: Ich hab hier eine afrikanische Geschichte für Dich. – Bis dato hat er so viele schlechte Erfahrungen damit gemacht, er hatte einfach keinen Bock mehr auf die Mitleidsgeschichten.
Wir dagegen haben ihn belagert, haben ihm Mails geschrieben… Dann haben wir ihn getroffen. Da hab ich zu ihm gesagt: “Eugene, das ist ne Hauptrolle, eine super Geschichte. Lies‘ doch die ersten 15 Seiten. Wenn sie dir nicht gefallen, hau es in den Müll!” Und er hat es gelesen und war hin und weg. „Wir müssen das machen. Sofort! York! Und das… und das…“ war seine Reaktion.

Mit deinem Film BORGA stellst du schon noch immer eine Ausnahme, was die Authentizität von Geschichten und Rollenbildern aus Afrika betrifft, oder?

Das stimmt leider schon. Aber auf den ersten Blick könnte man BORGA auch vorwerfen, auch dort macht die Hauptfigur ja nicht nur coole Sachen. Aber er macht diese aus gutem Grund. Das ist alles an realen Personen recherchiert. Es wird also verstanden, warum Personen etwas tun. Und damit wird die Oberflächlichkeit genommen: “der Schwarze Mann ist der Drogendealer, nimmt die weißen Frauen weg”. Das wird bei Borga ausgehebelt, weil das Leben viel komplexer ist. Ich finde es prinzipiell gut, wenn Schwarze Schauspieler:innen alles spielen – alles! Vom Richter bis zum Gangster. Warum denn nicht? Warum soll Scarface nur ein Weißer spielen dürfen? Man muss immer ein bisschen unterscheiden zwischen dem Cause, also dass man machen möchte, dass sich das Bild von Schwarzen Menschen ändert und was einzelne Genres und Personen sind, mit denen man sich emotional verbindet. Wenn da zum Beispiel ein Mensch ist, der aus Liebe zu seiner Familie ganz viele Dinge über sich ergehen lässt, die dann partiell auch noch nicht ganz legal sind, dann steht da vorne, dass das jemand aus Liebe macht. Da steht dann ein Held, der alles über sich ergehen lässt, weil er es aus Liebe zu seiner Familie und den Glaube an seinen Traum macht. Das ist doch ein anderes Bild, als wenn du einen Schwarzen Verbrecher plakativ in einer deutschen Vorabendserie siehst. Menschen reden gerne über das „Was“ und nicht so sehr über das „Wie“. Ich kann dir beispielsweise eine Anwaltsrolle schreiben, da bekommst du das Kotzen. Ich könnte dir wahrscheinlich aber einen Mörder schreiben, der ein so emotional naher Mensch ist, dass er ganz positiv rüberkommen würde. Also das „Wie“ ist viel entscheidender, als das „Was“. Und so gelangen wir zur Authentizität.

Müsste noch viel mehr passieren im deutschen Film, was Diversität angeht? An deutschen Bühnen ändert sich langsam etwas, bekannte Ensembles wie das Berliner, Bochumer Schauspielhaus, Frankfurt haben Schwarze Schauspieler:innen…

BORGA tut hier ein kleinen Beitrag, denn es tut sich was seit 2020/2021. Aber ich möchte hier in den Blick kurz in die Zukunft richten. Auf der einen Seite habe wir als Filmemacher eine gesellschaftliche Verantwortung. Auf der anderen
Seite auch eine Verantwortung gegenüber dem Publikum, es zu unterhalten, abzuholen und interessante, authentische
Geschichten zu erzählen. Hier liegt aber das Problem im deutschen Film bzgl. mehr Diversität. Wir brauchen auch gute Stories für unsere diversen Schauspieler. Denn so richtig ans Herz geht es nur, wenn es tief in die Figuren geht. Dafür müssen die Rollen geschrieben werden. Das ist nicht einfach. Es gibt also zu wenig gute Drehbücher. Die Rückmeldung, die wir mit unserem Film von den Black Communities bekommen haben ist: “Ihr zeigt mit dem Film,
dass es ein Junge wie der Eugene schaffen kann, den Deutschen Schauspielpreis zu erhalten.”
Dieser Glaube, es schaffen zu können, war bisher dort nicht immer da. Und das ist etwas, was Eugene mit ausgelöst hat. Dass da Bewegung und mehr Confidence in das eigene Tun kommt. Auf einmal kommen da Nachrichten aus den Communities:
„Wir wollen das auch machen, kannst du sagen, wie das geht?“
Und hier gibt es viele gute Stories! Was jetzt noch fehlt, sind handwerklich gut gemachte Drehbücher. Denn Drehbuchschreiben ist ein zeitintensives Handwerk. Und die Confidence in den Communities erwacht ja gerade erst. Es wird also ein bisschen Zeit brauchen, bis wir eine große Menge an guten Stoffen in guten Drehbücher bekommen. Dieser Bewegungsprozess insgesamt braucht noch etwas Zeit. Und wir sollten hier supporten, gerade weil Schwarzen Autor:innen bisher oftmals die Türen verschlossen geblieben sind.

Eine wichtige Rolle spielen hier die öffentlich-rechtlichen Sender, für die ich eine Lanze brechen möchte. Ohne sie gäbe es in Deutschland ein kulturelles Massaker. Aber so wichtig in diesem Prozess die öffentlich-rechtlichen Sender auch
sind, ich wünsche ihnen eines: Dass sie besser ihre Zielgruppen kennenlernen. BORGA zeigt das ganz gut. Es sind eben nicht nur die Jungen, die den Film gut finden. Bei den Vorführungen gibt es auch eine große 60+ Zielgruppe, die auch auf den Film steht. Das Publikum kann manchmal viel mehr ertragen als ihm zugetraut wird. Deshalb wünsche ich mir mehr diverse, authentische Geschichten mit Tiefgang, ohne dabei die Unterhaltung zu verlieren; sowohl als TV -Format, als auch als Kino-Koproduktion.

Hans Hofele ist Gründer und Autor bei cultureafrica.net, einem nicht-kommerziellen Blog zur modernen Kultur Afrikas.

York-Fabian Raabe (* 1979 in Kassel) ist ein deutscher Filmregisseur, Drehbuchautor und Filmproduzent. Bekanntheit erlangte er vor allem durch seine im afrikanischen Kontext angesiedelten Regiearbeiten Zwischen Himmel und Erde (2010) und Borga (2021).

https://borga-themovie.com/

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Lagos Street Boys

Lagos Street Boys
Interview mit Filmemacher Tolulope Itegboje
von Dika Ofoma

Der schlimmste Albtraum für Nigerianer:innen ist eine Begegnung mit den Area Boys, auch bekannt als Agbero. Area Boys sind locker organisierte Banden von jugendlichen und jungen erwachsenen Männern, die in den südnigerianischen Städten Aba, Onitsha, Port Harcourt, Benin, Ibadan und Lagos agieren, wo sie besonders berüchtigt sind. Sie erpressen Geld von Passanten, Händlern, Autofahrern und Fahrgästen, stehlen, gehen mit Drogen hausieren und werden bei Wahlen zu Erpressungsinstrumenten für betrügerische Politiker, die dafür eine finanzielle Entschädigung erhalten. Aber was wissen wir sonst noch über Area Boys?

Der Begriff „Area Boy“ bezeichnete ursprünglich jeden, der sich mit der Straße, dem Ort oder der Gegend, in der er wohnt, identifizierte. Diese jungen Männer (und manchmal auch Frauen) schlossen sich in einer Art soziokultureller Organisation zusammen und erfüllten Aufgaben in ihren Gemeinden, die unter anderem darin bestanden, de facto als Sicherheitspersonal zu fungieren und lokale Feste zu organisieren.

Das war in den 70er und Anfang der 80er Jahre. In den späteren 80ern kam es zu einer repressiven Militärführung, die nicht nur die Bildung vernachlässigte, sondern auch eine Politik einführte, die wirtschaftliche Härten mit sich brachte und viele Familien in die Armut stürzte. Die Eltern konnten ihre Kinder nicht mehr zur Schule schicken. Die Jugendarbeitslosigkeit nahm überhand. Eine weitere Folge war, dass einige dieser jungen Männer, die sich in den Dienst ihrer Gemeinden gestellt hatten, zu terrorisierenden Ganoven mutierten. Heute werden sie wegen ihrer Kriminalität verleumdet und stigmatisiert.

Tolulope Itegbojes ergreifender und zu Herzen gehender Film Awon Boyz, der derzeit auf Netflix zu sehen ist, ist ein Dokumentarfilm, der sich mit der anderen Seite der Lagoser Straßenjungen beschäftigt. Ohne ihre ruchlosen Aktivitäten zu billigen, bietet er ihnen die Gelegenheit, ihre Geschichten zu erzählen. Und was sie bieten, ist eine ausgewogene Erzählung über ihr Leben, die es uns ermöglicht zu verstehen, wer sie sind und warum sie so sind. Ich sprach mit Itegboje über den Film, die Inspiration dahinter, seine Entstehung und die Notwendigkeit, die Straßenjungen von Lagos zu vermenschlichen.

Area Boys, vor allem die in Lagos, sind berüchtigt. Und das nicht ohne Grund; fast jeder Nigerianer wurde von ihnen schonmal bestohlen oder erpresst. Warum hielten Sie es für wichtig, sie zu vermenschlichen, indem Sie ihre Geschichten erzählen?

Das ist eine ziemlich gute Frage. Sie haben Recht, wenn Sie sagen, dass die Jungs aus der Gegend nur für ihre Berühmtheit bekannt sind, insbesondere als Werkzeuge für Gewalt. Auch wenn einige Aspekte davon wahr sind, so ist es doch ein einseitiges Narrativ. Der Grund, warum es wichtig war, sie zu vermenschlichen, war, dies in Frage zu stellen und ihre Menschlichkeit anzuerkennen, indem wir ihre ganze Geschichte erzählen. Denn zu ignorieren, dass sie Menschen sind wie wir, bedeutet, sie als weniger wert zu behandeln. Denn wenn wir so tun, als hätten sie keine gemeinsamen Werte, keine gemeinsamen Erfahrungen mit uns, wird es zu einem Fall von wir gegen sie. Oder sie gegen uns. Und um ehrlich zu sein, sind wir in gewisser Weise gleich. Wir haben ähnliche Hoffnungen und Träume. Ich glaube nicht, dass irgendjemand aufwacht und beschließt, dass er ein Junge aus der Gegend sein will. Viele von uns in privilegierten Positionen müssen erkennen, dass wir uns in einer ähnlichen Situation befinden könnten, wenn das Schicksal und die Umstände es nicht so wollten.

Das stimmt. Ich war erstaunt, wie bereitwillig sie auch das kleinste Detail aus ihrem Leben erzählten. Ich schätze es auch, dass es keine Off-Stimme gab, die ihr Leben erzählte und uns sagte, wer sie waren. Was auch immer wir über die Jungen aus der Gegend herausfinden, wir haben es aus ihren Erzählungen gewonnen. War das eine bewusste Entscheidung?

Ja, genau. Ganz genau. Und wissen Sie, dieses Projekt ist etwas Besonderes für mich, denn es ist eines der wenigen Male, dass ich als Filmemacher mit einer einzigen Absicht an die Sache herangegangen bin und genau diese Absicht auch erreichen konnte. Ich denke, ich sollte etwas zum Hintergrund dieses Dokumentarfilms sagen. Ich habe sechs Jahre lang als Produzent in einer Werbeagentur gearbeitet. Zu meinem Job gehörte die Produktion von TV-Werbespots, und dabei hatten wir natürlich auch mit Jungen aus der Gegend zu tun. Ich habe einmal ein Musikvideo in Ajah gedreht, und wir haben die Polizei und den Sicherheitsdienst angeheuert und nicht damit gerechnet, dass die Jungs aus der Gegend auftauchen würden, aber sie kamen. Und zu unserer Überraschung haben die Polizisten nichts getan. Sie waren sogar diejenigen, die uns baten, die Jungs aus der Gegend zu bezahlen. Von da an gab es bei jedem Dreh, bei dem ich eine Außenszene drehte, einen Teil von mir, der darauf vorbereitet war, die Jungs auszusortieren. Als ich sie dann sah und mit ihnen zu tun hatte, wurde mir klar, dass ich etwas über sie machen musste. Ursprünglich wollte ich einen musikalischen Kurzfilm über Area Boys machen und sie als diese coolen Typen darstellen, die niemandem Rechenschaft ablegen müssen. Aber dann wurde mir klar, dass das ohne eine Geschichte unvollständig wäre, und die kannte ich nicht. Also habe ich angefangen zu recherchieren, was mit den Area Boys passiert ist, und was mir dabei aufgefallen ist, war das, was du erwähnt hast, dass es nur eine einzige Geschichte über sie gibt.

Je mehr ich recherchierte, desto klarer wurde mir auch, dass es kein wirkliches Beispiel für einen Fall gab, in dem Jungen aus der Gegend ihre Geschichte erzählen durften. Die Medienberichterstattung konzentrierte sich auf diese eine Erzählung. Als ich den Film drehte, dachte ich daran, Interviews mit Menschen aus dem Alltag zu machen, die ihre Erfahrungen mit Jungen aus der Gegend erzählen. In diesem Fall erzählt ein Junge aus der Gegend seine Geschichte, und dann schneidet man zu jemandem, der erzählt, wie die Jungs aus der Gegend ihn ausgeraubt haben. In gewisser Weise fühlt es sich fast so an, als würden Sie ein Urteil fällen. Deshalb haben wir uns entschlossen, die Jungen aus der Gegend einfach ihre Geschichten erzählen zu lassen. Und das bedeutet nicht, dass wir alles, was sie tun, gutheißen, indem wir sie menschlich machen. Es war auch wichtig, dass sie sich mit der Gewalt, die sie verursachen, auseinandersetzen und die Verantwortung dafür übernehmen, wenn wir diese Geschichte erzählen. Deshalb gibt es einen ganzen Abschnitt, in dem wir mit den Jungs ein Gespräch über Gewalt führen und darüber, ob sie erkennen, wie zerstörerisch sie manchmal ist.

Ja, ich denke, es ist gut durchdacht. Du hast ihre Geschichten nicht verurteilt, und sie haben auch nicht versucht, sich von ihren Missetaten freizusprechen. Mir hat gefallen, dass sie zu ihren Taten gestanden haben und nur daran interessiert waren, uns zu erzählen, wie sie zu dem wurden, was sie sind.

Ja, das ist uns auch extrem aufgefallen: Wie unglaublich bewusst diesen Jungs die Art von Leben, das sie führen, ist.

Ich denke, was wir von Awon Boyz lernen, ist, dass diese Straßenjungen unterschiedlich sind, ihre individuellen Geschichten sind verschieden; was sie eint, ist die soziale Benachteiligung, die sie alle erlebt haben. Ich bin neugierig zu erfahren, wessen Geschichte Sie am faszinierendsten fanden und warum?

Um ehrlich zu sein, fällt es mir schwer zu sagen, wer besonders hervorsticht. Ich fand sie alle gleichermaßen faszinierend. Wenn man sich mit ihnen beschäftigt, kann man aus all ihren Geschichten Erkenntnisse und Lehren ziehen.

Also gut. Für mich war es Volume, der nach Lagos gekommen war, um seine Musikträume zu verfolgen, in einer Nacht all seine Wertsachen verlor und zum Zuhälter werden musste, um zu überleben. Sein zerplatzter Traum rührte mich fast zu Tränen. Ich wurde daran erinnert, wie unsicher das Leben ist.

Das ist interessant. Mir gefällt, dass er die Straße als Schlüssel zu seiner Geschichte sieht, aber dennoch das Bewusstsein hat zu sagen, dass er sie nicht für seine Kinder will.

Wie verlief der Schreib-/Schöpfungsprozess?

Der Prozess war sehr interessant. Ich habe etwa ein Jahr lang zu diesem Thema recherchiert, was im Nachhinein betrachtet eine wahnsinnige Zeitspanne war. Aber es brachte einige interessante Erkenntnisse darüber, wie ich die Gespräche mit den Jungs angegangen bin. Wir haben die Interviews gedreht, die am Ende sehr lang waren, und sie dann transkribiert. Ich habe eng mit einem wunderbaren Skript-Editor namens Omotayo Adeola zusammengearbeitet, um ein Skript bzw. einen Schnittleitfaden für die Redakteure zu erstellen. Aber ich finde, dass die Geschichte, wie wir sie jetzt haben, erst mit dem Schnitt zusammenkam. Wir begannen mit diesem schwierigen Prozess des Verschiebens von Material – wir nahmen Material heraus, fügten neues Material hinzu, um einen größeren emotionalen Kontext zu schaffen, drehten neues Material, um das, was die Jungs sagten, zu kontextualisieren; wir untersuchten die Beziehung zwischen bestimmten visuellen und erzählerischen Teilen, um die bestmögliche Geschichte zu erzählen. Dieser ganze Prozess hat ungefähr ein Jahr gedauert, und wenn ich Haare gehabt hätte, hätte ich sie mir in jeder Sekunde ausgerissen, bis wir zum Ende gekommen sind und alles wunderbar zusammengepasst hat.

Ich frage mich, ob die Darsteller von Awon Boyz den Dokumentarfilm schon gesehen haben? Was haben sie davon gehalten?

Sie haben ihn schon zweimal gesehen. Sie sahen ihn bei einer Vorführung auf dem iREP Film Festival, das jedes Jahr in Lagos stattfindet. Ich denke, es war uns wichtig, dass sie ihn auch bei dieser Vorführung gesehen haben. Es war allerdings auch eine Art Vertrauensvorschuss, denn es war das erste Mal, dass jemand außerhalb des internen Kernteams den Dokumentarfilm sah, und so wussten wir nicht, wie darauf reagiert werden würde. Aber es war erstaunlich, denn wir hatten Leute im Publikum, die geweint haben. Die Reaktion war überwältigend. Zu sehen, wie all diese Menschen sich mit ihren Geschichten identifizieren und sie in dieser Umgebung so willkommen heißen und umarmen, war für sie sehr beeindruckend. Sogar meine Eltern waren bei der Vorführung dabei. Im Anschluss daran lud mein Vater eine Gruppe von Geschäftsleuten aus seiner Kirche ein, den Dokumentarfilm noch einmal zu sehen. Das war etwas ganz Besonderes für sie, denn damit haben wir unser Ziel für den Dokumentarfilm erreicht, als wir das erste Mal mit ihnen sprachen. Wir wollten, dass die Leute sie in einem anderen Licht sehen. Für sie war das eine Art erfüllter Auftrag und ein wahr gewordener Traum.

Wir haben jetzt eine ausgewogenere Geschichte über die Area Boys. Wir sehen sie jetzt als mehrdimensional, nicht nur als Bedrohung für die Gesellschaft. Ja, sie erpressen Geld von Autofahrern, aber sie sind auch liebevolle Väter und wunderbare Freunde. Es hat etwas von sozialem Aktivismus, diese ganze Geschichte zu erzählen. Aber ich frage mich, ob Ihr Aktivismus darüber hinausgeht. Haben Sie Pläne, das Gespräch über die Jungen aus der Region zu vertiefen und dazu beizutragen, ihre Situation zu lindern? Fühlen Sie sich dafür verantwortlich?

Ja, das stimmt, wir fühlen uns sehr verantwortlich. Ich dachte, ich würde nur ein Jahr an diesem Film arbeiten, aber jetzt, drei Jahre nach den Dreharbeiten, spreche ich immer noch darüber. Ich unterhalte mich ständig mit den Jungs darüber, wie wir sie über die finanzielle Hilfe hinaus unterstützen können, was natürlich ein Aspekt ist, den wir nicht ignorieren können, wie Sie zu Recht betont haben. So haben wir unter anderem einen Teil der Einnahmen aus dem Film beiseite gelegt und jedem der Jungs zukommen lassen. Wir bringen sie auch in Kontakt mit Leuten, die sich gemeldet haben und helfen wollen. Und die Jungs wissen, dass sie mich anrufen können, um sie auf jede erdenkliche Weise persönlich zu unterstützen.

Aber wie ich schon sagte, geht das Gespräch darüber hinaus. Ich glaube, dass wir alle eine Verantwortung für diese Jungs haben. Wir alle haben eine Rolle zu spielen. Es reicht nicht aus, zu sagen, dass die Regierung dafür verantwortlich ist. Die Regierung kann es nicht allein tun. Private Organisationen müssen eine Rolle spielen, Einzelpersonen müssen eine Rolle spielen, gemeinnützige Organisationen müssen eine Rolle spielen. Als #EndSars passierte, waren wir diejenigen, die den Druck der kriminellen Elemente in der Folgezeit zu spüren bekamen. Wir müssen die Sache also ernst nehmen. Und ich glaube, das Wichtigste, was ich als Filmemacher hätte tun können, war, meine Stimme und meine Fähigkeiten einzusetzen, um darauf aufmerksam zu machen und Raum für Gespräche darüber zu schaffen, warum es wichtig ist, diese Leute zu verstehen, damit wir besser mit ihnen interagieren und zusammenleben können. Dabei geht es nicht nur um Geld, sondern auch um die Frage, wie wir gleiche Chancen für sie schaffen können. Wie verhindern wir, dass sie weiterhin ausgegrenzt und entrechtet werden? Wie können wir sie von den Rändern der Gesellschaft wegholen und wieder integrieren?

Dika Ofoma ist ein Kultur- und Unterhaltungskritiker aus Enugu, Nigeria.

Gefördert durch die Kulturstiftung des Freistaates Sachsen. Diese Maßnahme wird mitfinanziert durch Steuermittel auf der Grundlage des vom Sächsischen Landtag beschlossenen Haushaltes.

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Wie wir Geschichten erzählen

Wie wir Geschichten erzählen
von Marius Kothor

Raoul Pecks vielgefeierte Filmreihe "Exterminates all the Brutes" verfehlt sein eigenes Ziel, die Wirkungsweisen weißer Vorherrschaft und Gewalt in Frage zu stellen. Ein Kommentar.

Die vierteilige HBO-Filmreihe Exterminate All the Brutes des haitianischen Regisseurs Raoul Peck beginnt mit einer starken Prämisse. Die Serie verspricht, die Geschichte der weißen Vorherrschaft in den Konzepten von Zivilisation, Kolonisierung und Ausrottung zu verorten, die das ideologische und materielle Rückgrat für die Konstruktion des Weißseins bildeten. In Anlehnung an eine Aussage seines Freundes, des Schriftstellers Sven Lindqvist, versichert Peck den Zuschauer:innen, dass wir diese Geschichte bereits kennen, und besteht darauf, dass „es nicht das Wissen ist, das uns fehlt … was fehlt, ist der Mut, zu verstehen, was wir wissen.“ Leider gibt Peck dem Publikum nicht den Mut, die Geschichte des Kolonialismus zu verstehen, sondern stellt stattdessen den weißen Mann als Macher der Geschichte in den Mittelpunkt, und zwar auf eine Art und Weise, die die Vorstellung von weißer Überlegenheit erneut festschreibt. Die dekontextualisierten Fotografien, Illustrationen und Reenactments, die die Serie füllen, reduzieren die Opfer der Kolonialisierung weiter auf die Rolle passiver Zuschauer:innen der Geschichte. Die schmerzhafte Ironie ist, dass Peck in seinen Versuchen, die Gewalt des Kolonialismus zu benennen und darzustellen, am Ende selbst diese Gewalt verewigt.

Peck präsentiert die Serie im Stil eines persönlichen Essays, in dem er sein Verständnis der Geschichte, die er erzählt, detailliert darlegt. Doch für eine Serie, die die weiße Vorherrschaft herausfordern soll, stellt Peck seltsamerweise einen weißen männlichen Archetyp, gespielt von Josh Harnett, als Protagonisten in den Mittelpunkt der Geschichte. Episode 1 zeigt eine Dramatisierung eines Kampfes aus dem Jahr 1836, in dem sich eine indianische Frau der Seminole-Nation gegen die Bemühungen der US-Regierung, ihr Land zu stehlen und ihre Schwarzen Freund:innen zu versklaven, wehrt. In den darauf folgenden Szenen schießt Pecks weißer männlicher Archetyp, der in der ersten Episode als Militärgeneral auftritt, der Frau aus nächster Nähe in den Kopf. Ein paar Bilder später greift der General ihren leblosen Körper aus den versehrten Körpern der Seminolen, die auf dem Schlachtfeld verstreut liegen, und skalpiert sie, wobei er ihr abgetrenntes Fleisch und Haar in die Kamera hält. Es ist nicht klar, welche Funktion diese grausamen Szenen haben, abgesehen von ihrem Schockfaktor. In dieser Darstellung des US-Kolonialismus stellt Peck die Seminolen-Frau und ihre Schwarzen Kameraden als nicht ebenbürtig gegenüber der ungeheuren Macht des weißen Mannes dar, der aus der Schlacht triumphierend hervorgeht, unbeschadet von der kleinen vorherigen Niederlage.

Pecks Darstellung indigener Gemeinschaften, die der Gewalt des weißen Mannes leicht erliegen, wiederholt sich in der Serie immer wieder. In einer Dramatisierung der Ereignisse im kolonialen Kongo taucht derselbe weiße männliche Archetyp wieder auf, immer noch gespielt von Harnett, und schießt einem Kongolesen in den Kopf, weil er ihm nicht genug Gummi liefert. In Anspielung auf die Gräueltaten, die belgische Kolonialherren zur Befriedigung von König Leopolds Gier verübten, befiehlt der Weiße einem jungen Kongolesen, dem Toten die Hände abzuschneiden, während im Hintergrund des Bildes eine Masse unbeteiligter Kongolesen steht, die die ihnen zugewiesene Rolle als handlungslose Opfer in der Geschichte, die der Weiße inszeniert, spielen.

Es gibt sicherlich Gründe dafür, den weißen Mann in den Mittelpunkt der Geschichte der Gewalt zu stellen, die mit der Kolonisierung und einer Reihe anderer Verbrechen gegen die Menschlichkeit einherging. Die historischen Aufzeichnungen sind voll von den Geschichten, die die Serie dramatisiert. Vielleicht ist das der Grund, warum viele Kritiken zu dieser Serie so großzügig ausgefallen sind. Die Leute schätzen vielleicht einfach die Tatsache, dass diese Verbrechen filmisch dargestellt werden. Aber indem Peck indigene Gemeinschaften als völlig hilflos gegenüber der Macht des weißen Mannes darstellt, verstärkt er die Idee, dass weiße Männer die einzigen historischen Akteure sind, die eine nennenswerte Handlungsmacht haben. Darüber hinaus stellt Peck die weiße Gewalt als so mächtig dar, dass jeder Versuch, sich ihr zu widersetzen, zum Tod führt. Beim Zuschauen fand ich diese Szenen so entsetzlich, dass ich am liebsten ganz aufgehört hätte, über diese Geschichte nachzudenken. Und genau das ist die Gefahr. Die Serie überschwemmt das Publikum mit Bildern, die so überwältigend sind, dass es außerstande ist, sich eine Welt ohne die Gewalt der weißen Vorherrschaft vorzustellen.

Africa is a Country

Dieser Artikel erschien im Original auf englisch bei Africa is a Country.

Bei allen Problemen mit dem, was Peck in „Exterminate All the Brutes“ darstellt, so ist das, was er nicht sagt, ebenso beunruhigend. Während der gesamten Serie ist Pecks freche, autoritative Stimme in den Bildern zu hören, die die Gewalt in einer schwindelerregenden Auswahl von Fotos, Videos, Animationen, Illustrationen und Reenactments schildert. Doch wenn es um Bilder von sexueller Gewalt geht, ist Peck seltsam still. In einem Teil der Serie wird zum Beispiel ein beunruhigendes Gemälde mit dem Titel „The Rape of the Negro Girl“ gezeigt, aber es wird kein Kontext angegeben. In einem anderen Teil wird dem Betrachter eine Sammlung von Fotografien weißer Männer gezeigt, die Frauen an verschiedenen Orten der Welt sexuell ausbeuten, aber Peck unternimmt keinen Versuch zu erklären, wie sexuelle Übergriffe als Waffe der Kolonialisierung eingesetzt wurden.

Was aus Pecks Ausstellung dieser Bilder hervorgeht, ist im Wesentlichen ein Gespräch zwischen Männern. Peck reduziert die Frauen und Mädchen auf diesen Bildern auf die vielleicht erniedrigendsten Erfahrungen ihres Lebens, um ihre Unterwerfung als Beweis für die Grausamkeiten des weißen Mannes zu verwenden. Diese Darstellung von sexueller Gewalt verstärkt das, was die Medienwissenschaftlerin Ariella Azoulay als die Tendenz beschrieben hat, sexuelle Gewalt als zufällig in der Geschichte des Kolonialismus zu betrachten. Das heißt, sexuelle Gewalt wird als etwas dargestellt, das einfach während des Kolonialismus passiert ist, anstatt als integraler Bestandteil der Mechanismen der Kolonisierung gesehen zu werden. Nicht nur, dass die Europäer sexuelle Übergriffe als Instrument der Unterwerfung benutzten, die Illustrationen und Fotografien, die Peck zeigt, wurden oft als Postkarten in den europäischen Metropolen verbreitet, um weiße Männer zu ermutigen, in die Kolonien zu gehen und dort ihre sexuellen Fantasien auszuleben. Weiße Frauen ihrerseits nutzten diese Bilder, um ihre Frömmigkeit gegenüber der sexuellen Ausbeutung von Frauen in den Kolonien zu definieren.

Raoul Peck und Josh Hartnett bei den Dreharbeiten zu "Exterminate all the Brutes"

Die Art und Weise, wie wir Geschichten erzählen, ist genauso wichtig wie die Geschichten, die wir erzählen. Das Ziel, das Peck mit dieser Serie verbindet, ist ein ehrgeiziges und lobenswertes. Sicher, die Gewalt, die mit der kolonialen Eroberung einherging, muss filmisch dargestellt werden. Aber es reicht nicht aus, einfach nur grausame Bilder dieser Gräueltaten zu zeigen. Um nuancierte Geschichten über den Kolonialismus zu erzählen, geht es nicht nur darum, eine Geschichte der weißen Gewalt zu erzählen. Es geht darum, die Logik des Weißseins komplett zu dezentrieren, die uns dazu bringt, Geschichte aus der Perspektive weißer Männer zu sehen und darzustellen und sexuelle Gewalt gegen Frauen of Color zu ignorieren.

Was wir brauchen, sind gut kontextualisierte filmische Darstellungen dieser Ereignisse, die über die Ausstellung von Gewalt hinausgehen und neue Möglichkeiten eröffnen, Rechenschaft und Wiedergutmachung zu fordern.

Der Weg zu einer geeigneteren Darstellung der Geschichte des Kolonialismus findet sich in den reichen Traditionen des Widerstands in Gemeinschaften überall auf der Welt. Von der Geschichte des Widerstands der amerikanischen Ureinwohner:innen gegen die westliche Expansion über die Revolutionen gegen Sklaverei und Kolonialismus in Afrika bis hin zu der Art und Weise, wie Frauen auf der ganzen Welt weiterhin Gespräche in den Vordergrund stellen, die die Geschichte des Kolonialismus mit dem Verschwinden, dem Handel und der Ermordung von Frauen in ihren Gemeinschaften in Verbindung bringen – die historischen Aufzeichnungen und der zeitgenössische Aktivismus machen deutlich, dass die weiße Vorherrschaft immer von den Menschen angefochten wurde, die sie zu vernichten sucht. Durch die Marginalisierung dieser Perspektiven und die Fokussierung auf weiße Männer in der Serie hat Peck die Gelegenheit verpasst, sich mit der Geschichte des Kolonialismus auf eine Art und Weise auseinanderzusetzen, die die Zuschauer befähigt, sich eine Zukunft vorzustellen, in der das Weißsein nicht im Zentrum von Macht und Autorität steht.

Marius Kothor ist Doktorandin am Fachbereich Geschichte in Yale mit einem breiten Forschungsinteresse an afrikanischer Geschichte des 20. Jahrhunderts, Gender und Black Internationalism. Ihre Dissertation befasst sich mit den politischen und wirtschaftlichen Beiträgen von Händlerinnen zur Unabhängigkeitsbewegung Togos und wie der antikoloniale Kampf Togos afroamerikanische Diskurse zur Dekolonisierung in Afrika beeinflusste.

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Gefangen in der Geschichte

Gefangen in der Geschichte
Interview mit Filmemacher John Gutierrez - von Dylan Valley

Der neue in Kapstadt spielende Film des Regisseurs John Gutierrez handelt von Kolonialismus, Vertreibung und der komplizierten Beziehung des Menschen zur Natur.

Die Meeresschnecke Abalone ist eine heiße Ware auf dem Schwarzmarkt. Sie ist ein Luxuslebensmittel, besonders im Fernen Osten und in Europa begehrt. Es ist daher nicht verwunderlich, dass sie auch das Lebenselixier von Fischerfamilien der Arbeiterklasse ist, die die Meeresmolluske aus geschützten Gewässern wildern. Große Syndikate, die oft mit dem Drogenhandel oder Revierbanden verbunden sind, agieren als Zwischenhändler mit dem Markt. Südafrika, insbesondere die Küste um Kapstadt, ist ein wichtiger Knotenpunkt in diesem illegalen Handel. Erst Anfang dieses Monats hat die Polizei in Kapstadt an einem Tag 65 mutmaßliche Abalone-Wilderer festgenommen.

Sons of the Sea heißt der neue Spielfilm des mexikanisch-amerikanischen Regisseurs John Gutierrez. Der Film hatte seine Premiere bei Cinequest im März 2021 und wird erneut beim Durban International Film Festival in Südafrika zu sehen sein, das vom 22. Juli bis 1. August 2021 stattfindet. Der Film spielt an der Küste der False Bay in Kapstadt. Die Handlung folgt zwei Brüdern aus den „council flats“ von der armen Seite des malerischen Fischerdorfes und Touristenortes Kalk Bay. Einer der Brüder stolpert über eine Ladung gewilderter Abalonen, oder Perlemoen, wie sie vor Ort genannt werden. Der ältere Bruder Mikhail (Marlon Swartz) sieht darin eine Möglichkeit, dem Ghetto zu entfliehen, während der Fund für den jüngeren Bruder Gabe (Roberto Kyle) eher das Ende einer vielversprechenden Zukunft bedeuten könnte. Während sie einen Plan ausarbeiten, um die Abalone auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen, beginnt ein abtrünniger Stadtrat (Brendon Daniels), der seine eigene persönliche Tragödie zu bewältigen hat, sie zu jagen.

Ohne jemals didaktisch zu sein, berührt der Film die Themen Kolonialismus, Vertreibung und die komplizierte Beziehung des Menschen zur Natur. Es ist ein wunderschön gedrehter, authentisch gespielter Thriller, der gut auf Festivals laufen wird. Gutierrez lebt in Kapstadt (seine Lebensgefährtin ist die gefeierte südafrikanische Autorin und Regisseurin Nadia Davids, die Sons of the Sea mitproduziert hat), und wir trafen uns, um über den Film und seine Themen zu sprechen, über seine dokumentarische Herangehensweise an die Fiktion und die Ähnlichkeiten zwischen seiner Heimat Kalifornien und seinem derzeitigen Zuhause an der Spitze Afrikas.

DV: Dieses Projekt ist eindeutig ein Herzensprojekt. Wie hat das begonnen?

JG: Es begann 2013, als ein befreundeter Produzent und ich nach Kapstadt kamen, um eine Geschichte für einen Spielfilm zu suchen. Ich sagte ihm: „Alter, wir müssen den Zug nehmen, nach Kalk Bay fahren und du musst dir die Küste ansehen.“ Das taten wir und nahmen ein paar Kleinbildkameras mit, hingen im Hafen herum, machten Fotos und sprachen mit den Leuten … wir wussten, dass es dort etwas gab. Wir wussten nur nicht, was die Geschichte war, die ergab sich dann einfach im Hintergrund.

2018 hatte ich ein Drehbuch geschrieben, ich wurde (dem Produzenten) Khosie Dali durch Imran Hamdulay vorgestellt, der den Film auch produzierte und das Produktionsdesign übernahm. Ich schrieb ein Drehbuch mit dem Titel „Lie of the Land“ über eine weiße Familie, die in ein Haus in Protea Village einzieht, und die Leute, deren Haus es war, versuchen, es zurückzubekommen. Es war ein bisschen ehrgeizig für einen ersten Spielfilm, und Khosi meinte: „Ich glaube nicht, dass wir das mit 5.000 Dollar machen können!“ Ich habe niedrig angefangen. Ich wusste, wir könnten mehr Geld auftreiben, aber mir war klar, dass wir es mit wenig Geld machen mussten.
Also verwarf ich die Idee und beschloss, etwas im Dokumentarstil zu machen – mit ein paar Schauspielern und einer sehr einfachen Geschichte. Ich begann, über meine eigene Heimat in Kalifornien nachzudenken und über die Themen, die ich erforschen wollte, und ich wollte die Brüderlichkeit erforschen. Ich griff auf diese alte Geschichte aus der mexikanisch-amerikanischen Gemeinschaft zurück, in der es um einen Taucher namens Mechudo geht, der im Rahmen eines Wettbewerbs taucht. Er wird gierig und holt sich die größte Perle und stirbt im Wasser. Es gibt viele Adaptionen dieser Geschichte. Er war übrigens auch ein Yaqui-Indianer, das ist eine unglaubliche Volksgruppe, von der meine Familie abstammt. Diese Geschichte wurde von John Steinbeck in der Novelle Die Perle aufgegriffen und das wurden die beiden Inspirationen, von denen ich dachte, dass sie etwas sein könnten, das ich nach Kapstadt verpflanzen könnte. Von da an fing ich an, nach Kapstadt zurückzukehren und mit den jungen Leuten zu sprechen, die in den Fischerhütten leben, mit ihnen abzuhängen, sie beim Surfen zu beobachten und so weiter. Mich also der Geschichte aus einem dokumentarischen Blickwinkel zu nähern, ohne wirklich sicher zu sein, wohin sie führen würde. Ich hörte kleine Stücke von dem, womit sie täglich zu tun hatten. Etwa zur gleichen Zeit stieß ich auf das Buch The Poacher von [dem südafrikanischen Journalisten] Kimon de Greef, mit dem ich mich anfreundete. Und dann habe ich angefangen, tief in die Abalone-Szene einzutauchen, die echt unglaublich ist. Mir wurde klar, dass es hier nicht nur um Leute geht, die versuchen, das schnelle Geld zu machen, sondern um alles. Das ist eine globale Geschichte. Es geht um Menschen, die versuchen, von ihrem Meer zu leben, von dem sie nicht mehr leben können.

Bild aus Sons of the Sea

DV: Warum ist der Handel mit Abalone so eine große Sache auf dem Schwarzmarkt?

JG: Man kann in die Kriminalgeschichte einsteigen, wo es um Gangster geht, um die chinesische Triade, und es geht um Drogen, die in die Cape Flats gepumpt werden im Austausch für Abalone, die in China für Hunderte und Aberhunderte von Dollar verkauft wird. Für mich ist die Abalone, die Gabe und Mikhail finden, die Schatztruhe, der „McGuffin“, der einen durch die Geschichte führt. Im Kern der Geschichte geht es um eine Gruppe von Männern, die von einem Ort in der Welt kommen, die von diesem Ort gelebt haben, und sie wurden vertrieben. Aufgrund des systemischen Rassismus und der Geschichte des Kolonialismus kämpfen sie darum, an dem Ort zu überleben, von dem sie kommen. Und das ist eine universelle Geschichte, die sich mit meinen Leuten zu Hause verbindet; der Schwarzen Gemeinschaft, der Gemeinschaft der amerikanischen Ureinwohner:innen und der hispanischen Gemeinschaft. Wenn sie diesen Film sehen, sehen sie sich selbst darin reflektiert. Während ich also eine sehr spezifische südafrikanische Geschichte erzählte, erzählte ich in dieser Besonderheit eine globale Geschichte über das Braun- und Schwarzsein in einer Welt, die kolonisiert wurde.

DV: Es gibt definitiv viele historische und kulturelle Gemeinsamkeiten zwischen Kalifornien und Kapstadt. Haben Sie das bei Ihrer Arbeit auch bemerkt?

JG: Es gibt tiefgreifende Ähnlichkeiten in der Landschaft, besonders in der San Francisco Bay Area, wo ich herkomme, und in Kapstadt, diesem unglaublichen, atemberaubenden Zusammentreffen von Bergen und Meer. Dann gibt es die radikalen Unterschiede zwischen den Wohlhabenden und den Verarmten – obwohl diese Unterschiede in Kapstadt natürlich noch viel intensiver sind. Auf einer intimen Ebene spüre ich eine Vertrautheit zwischen dem farbigen Kapstadt und dem mestizischen Kalifornien – dieselbe Geschichte des kulturellen Zusammenstoßes, der Mischung aus Ureinwohner:innen, gewaltsam herbeigeholten Menschen und Siedlern. Auch andere Dinge sind vertraut: das Zusammenkommen der Familie in großer Zahl zum Essen, die Formung des Einzelnen als Teil eines Kollektivs, einer Gemeinschaft. Es gibt also sowohl schmerzhafte als auch schöne Markierungen der Gleichheit.

Africa is a Country

Dieser Artikel erschien im original auf englisch unter dem Titel „Trapped by history“ bei Africa is a country.

DV: Mit Blick auf die Themen Kolonialismus und Vertreibung fiel mir auf, dass es in diesem Film keine weißen Charaktere gibt, obwohl Kapstadt eine relativ große weiße Bevölkerung hat. Kapstadt wird oft so beschrieben, dass es sich sehr kolonial anfühlt, obwohl es schon Jahrzehnte in der Demokratie ist. War das eine bewusste Entscheidung und was war die Motivation dahinter?

JG: Die ursprünglichen Geldgeber empfahlen drei weiße männliche Schauspieler für die Rolle des Regierungsbeamten Peterson, aber wir (die Produzenten) trafen uns als Gruppe und beschlossen, das Angebot abzulehnen. Aus zwei Gründen: Ich wollte das Weißsein im Film dezentralisieren, obwohl es natürlich ein durchgängiges Merkmal ist. Die koloniale Prägung ist überall, in der Landschaft, in den Bildern, im gesamten sozialen Kontext/Konstrukt der Welt der Jungen. Aber es war auch wichtig, weil der Beamte aus der gleichen Welt kommen musste wie die Jungen, und in gewisser Weise sind alle vier männlichen Charaktere (vom kleinen Jungen bis zum erwachsenen Mann) repräsentativ für ein einziges Leben und wie gefangen wir in der Geschichte sein können. Außerdem tut es immer mehr weh, wenn die eigenen Leute einem Gewalt antun, das wissen wir, und es gibt immer eine schwierige, komplizierte Geschichte dahinter.

Sons of the Sea wurde im März 2020 auf dem Cinequest Film Festival in San Jose, Kalifornien (der Heimatstadt von John Gutierrez) uraufgeführt.
John Gutierrez ist ein Latinx-Autor/Regisseur, geboren und aufgewachsen in San Jose, Kalifornien.
Dylan Valley ist Mitglied der Redaktion von Africa is a Country. Er ist Filmemacher und gehört der Fakultät für Fernsehstudien der Wits University an.

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Film Verschiedenes

Wie eine starke Kreativindustrie Volkswirtschaften auf die Sprünge hilft

Wie eine starke Kreativindustrie Volkswirtschaften auf die Sprünge hilft
von Dr. Mehret Mandefro

Die Filmemacherin Mehret Mandefro spricht für TED über die wichtige Rolle der Kreativindustrie in Äthiopien und weltweit.

Wenn Staats- und Regierungschefs darüber nachdenken, welche Branchen das Wirtschaftswachstum ankurbeln können, wird die Kunst oft übersehen. Doch die Filmemacherin Mehret Mandefro ist der Meinung, dass der Kreativsektor tatsächlich die Kraft hat, die Wirtschaft wachsen zu lassen – und gleichzeitig die Demokratie zu stabilisieren. In diesem spannenden Vortrag gewährt sie einen Blick hinter die Kulissen, wie sie die Kultur in Äthiopien wieder auf die wirtschaftliche Agenda setzt, und erklärt, warum andere Länder davon profitieren würden, das Gleiche zu tun.

Stellen Sie sich vor, wie viel effektiver Musik, Filme und Kunst wären, wenn Künstler gut bezahlte Jobs hätten und die Regierung sie unterstützen würde. In diesem Fall gehen Wirtschaftswachstum und demokratisches Wachstum Hand in Hand. Ich denke, jede Regierung, die Kunst als ein "nice to have" und nicht als ein "must-have" ansieht, macht sich etwas vor. Kunst und Kultur in all ihren Formen sind unverzichtbar für das wirtschaftliche und demokratische Wachstum eines Landes. Gerade Länder wie Äthiopien können es sich nicht leisten, genau den Sektor zu ignorieren, der das Potenzial hat, den größten zivilen Einfluss auszuüben.

Der ganze Talk auf deutsch

Ich habe vor 15 Jahren angefangen, Filme zu machen, während meiner Facharztausbildung für Innere Medizin, wie man das eben so macht. Ich forschte zu HIV-Disparitäten bei schwarzen Frauen, und aus dieser Arbeit wurde ein Dokumentarfilm, und seitdem mache ich Filme. Ich betrachte die Filme und Serien, die ich mache, als eine Art visuelle Medizin. Damit meine ich, dass ich versuche, Geschichten auf die Leinwand zu bringen, die große soziale Barrieren ansprechen, wie Rassismus in Amerika, Geschlechterungleichheit in Äthiopien und globale gesundheitliche Ungleichheiten. Und es ist immer meine Hoffnung, dass die Zuschauer inspiriert werden, etwas zu unternehmen, um den Menschen zu helfen, diese Barrieren zu überwinden. Visuelle Medizin.
Die meiste Zeit lebe und arbeite ich in Äthiopien, dem Land, in dem ich geboren wurde, und derzeit sitze ich im Beirat der Kommission der äthiopischen Regierung zur Schaffung von Arbeitsplätzen. Jetzt fragen Sie sich sicher, was eine Ärztin, die zur Filmemacherin und nicht zur Wirtschaftswissenschaftlerin geworden ist, in der Arbeitsbeschaffungskommission zu suchen hat. Nun, ich glaube, dass die kreative Industrie, wie Film und Theater, Design und sogar Mode, das Wirtschaftswachstum und die demokratischen Ideale in jedem Land fördern kann. Ich habe es gesehen, ich habe dabei geholfen, und ich bin hier, um Ihnen ein wenig mehr darüber zu erzählen.
Aber zuerst etwas Kontext. In den letzten 15 Jahren war Äthiopien eine der am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften der Welt. Dieses Wachstum hat zu einer Verringerung der Armut geführt. Aber laut Zahlen aus dem Jahr 2018 liegt die Arbeitslosenquote in den städtischen Gebieten bei etwa 19 Prozent, mit einer höheren Arbeitslosenquote unter Jugendlichen zwischen 15 und 29 Jahren. Es ist keine Überraschung, dass diese Zahlen unter jungen Frauen noch höher sind. Wie der Rest Afrikas ist Äthiopiens Bevölkerung jung, was bedeutet, dass der städtische Arbeitsmarkt weiter wächst, die Menschen in die Arbeitswelt hineinwachsen und es nicht genug Jobs gibt.
Versetzen Sie sich also in die Lage einer Regierung, die darum kämpft, genügend gut bezahlte Arbeitsplätze für eine wachsende Bevölkerung zu schaffen. Was würden Sie tun? Ich vermute, Ihr erster Gedanke ist nicht: „Hey, lasst uns den kreativen Sektor ausbauen.“ Wir sind darauf konditioniert worden, die Kunst als eine nette Sache zu betrachten, die man gerne hat, aber nicht wirklich als einen Platz am Tisch für Wirtschaftswachstum und Sicherheit. Ich bin da anderer Meinung.

Das Motto von Dr. Mehret Mandefro, eigene Seite

Als ich vor vier Jahren nach Äthiopien zog, dachte ich nicht über diese Probleme der Arbeitslosigkeit nach. Ich dachte vielmehr darüber nach, wie ich die Aktivitäten eines Medienunternehmens, das ich mitbegründet hatte, Truth Aid, in den USA ausbauen könnte. Äthiopien schien ein aufregender neuer Markt für unser Unternehmen zu sein. Am Ende meines ersten Jahres in Äthiopien schloss ich mich einem jungen Fernsehsender an, der auf die Medienszene stürmte, Kana TV, als dessen erste ausführende Produzentin und Direktorin für soziale Auswirkungen. Meine Aufgabe war es, herauszufinden, wie man erstklassige Originalinhalte in Amharisch, der offiziellen Sprache, in einem Arbeitsmarkt produzieren konnte, in dem die Fähigkeiten und die Ausbildung für Film und Fernsehen begrenzt waren. Es gab eigentlich nur eine Möglichkeit, wie wir das machen konnten. Wir mussten stark in die Ausbildung investieren.
Ich war damit beauftragt, das Drehbuchteam auszubilden, und es gab wirklich nur einen Weg, wie wir das tun konnten: on the job, indem ich meine Mitarbeiter dafür bezahlte, Fernsehen zu machen, während sie lernten, wie man Fernsehen macht. Ihr Durchschnittsalter lag bei 24 Jahren, es war ihr erster Job nach der Universität, und sie waren begierig, zu lernen. Wir bauten ein Weltklasse-Studio und begannen.

Die erste Show, die wir als Produkt unserer Ausbildung produzierten, war eine Scripted-Serie mit einer mächtigen Familie im Zentrum namens „Inheritance“. Die zweite Show war Äthiopiens erstes Teenager-Drama namens „Yegna“ und wurde in Zusammenarbeit mit der gemeinnützigen Organisation Girl Effect produziert. Diese Shows machten die Darsteller über Nacht zu Stars und gewannen das Publikum für sich, und der beste Teil meines Jobs wurde schnell zur Leitung dessen, was im Wesentlichen eine Talentschmiede für die Produktion von Inhalten war. Kana produzierte daraufhin mehrere eigene Sendungen, darunter eine Gesundheits-Talkshow namens „Hiyiweti“, was übersetzt „mein Leben“ bedeutet.
Das ist natürlich toll für Kana, aber wir haben etwas Größeres gemacht. Wir haben ein Modell dafür geschaffen, wie Ausbildung zu Beschäftigung wird, und das in einem Markt, in dem die Schaffung neuer Arbeitsplätze, insbesondere für junge Menschen, eine der größten demografischen Herausforderungen ist.
Nun kann man nicht sagen, dass man ein großes soziales Problem wie die Arbeitslosigkeit beseitigt hat, wenn die Arbeitsplätze, die man schafft, nur den Interessen eines einzigen Unternehmens des privaten Sektors dienen. Ich wollte, dass die Crews, die ich ausgebildet hatte, internationale Produktionsstandards kennenlernen und war so begeistert, als eine kanadisch-irische Koproduktion, die ich als Executive Producer betreute, nach Äthiopien kam, um den Spielfilm „Sweetness in the Belly“ zu drehen.

Ich kontaktierte den CEO der staatlichen Führungen in Äthiopien, um zu sehen, ob wir diesen Film als Lernfallstudie verwenden könnten, wie die Regierung das Filmemachen und die Filmemacher unterstützen kann. Das Argument war, dass Filme das Wirtschaftswachstum fördern und Tourismusdollars auf zwei wichtige Arten anziehen können: indem sie Produktionsarbeit nach Äthiopien bringen und, was noch wichtiger ist, indem sie Äthiopien und seine einzigartigen kulturellen Werte in der Welt bekannt machen. Letzteres zapft die Ausdruckskraft einer Nation an.
Aber die Geschichte wird noch besser. Das war genau zu der Zeit, als die Kommission für die Schaffung von Arbeitsplätzen mich beauftragte, eine diagnostische Studie durchzuführen, um die ungedeckten Bedürfnisse von Subsektoren wie Film, bildende Kunst und Design zu bewerten und zu sehen, was die Regierung tun könnte, um auf diese Bedürfnisse zu reagieren. Nachdem wir die Studie abgeschlossen hatten, gaben wir politische Empfehlungen ab, um die Kreativwirtschaft als eine Dienstleistungsbranche mit hohem Potenzial in den National Jobs Action Plan aufzunehmen. Dies führte zu einer größeren Anstrengung namens Ethiopia Creates, die gerade damit beginnt, die Unternehmer der Kreativwirtschaft zu organisieren, damit der Sektor florieren kann. Ethiopia Creates organisierte kürzlich eine Filmexport-Mission zum europäischen Filmmarkt, wo ein Team äthiopischer Filmemacher ihre Projekte für potenzielle Finanzierungsmöglichkeiten vorstellen konnte.
Nun ist es ein unglaublich wichtiger Meilenstein, Kultur auf die wirtschaftliche Agenda zu setzen. Aber in Wahrheit geht es um weit mehr als nur um Arbeitsplätze. Äthiopien befindet sich an einem kritischen Punkt, nicht nur wirtschaftlich, sondern auch demokratisch. Es scheint, als ob der Rest der Welt an einem ähnlichen „Make-or-Break“-Moment steht. Aus meiner Perspektive vor Ort in Äthiopien kann das Land einen von zwei Wegen einschlagen: entweder einen Weg der inklusiven, demokratischen Teilhabe oder einen eher spaltenden Weg der ethnischen Spaltung. Wenn wir uns alle einig sind, dass der Weg der Inklusion der richtige ist, stellt sich die Frage: Wie kommen wir dorthin?

Dr. Mehret Mandefro

Ich würde behaupten, dass einer der besten Wege, die Demokratie zu sichern, darin besteht, jeden mit den Geschichten, der Musik, den Kulturen und der Geschichte der anderen in Kontakt zu bringen, und natürlich ist es die Kreativwirtschaft, die das am besten kann. Es ist der Sektor, der der Zivilgesellschaft beibringt, wie man Zugang zu neuen Ideen findet, die frei von Vorurteilen sind. Künstler haben seit langem Wege gefunden, Inklusion zu inspirieren, Geschichten zu erzählen und Musik zu machen, um eine nachhaltige politische Wirkung zu erzielen. Der verstorbene, große amerikanische Held, der Kongressabgeordnete John Lewis, verstand dies, als er sagte: „Ohne Tanz, ohne Schauspiel, ohne Fotografie wäre die Bürgerrechtsbewegung wie ein Vogel ohne Flügel gewesen.“
Jetzt stellen Sie sich vor, wie viel effektiver Musik, Filme und Kunst wären, wenn Künstler gut bezahlte Jobs hätten und die Regierung sie unterstützen würde. In diesem Fall gehen Wirtschaftswachstum und demokratisches Wachstum Hand in Hand. Ich denke, jede Regierung, die Kunst als ein „nice to have“ und nicht als ein „must-have“ ansieht, macht sich etwas vor. Kunst und Kultur in all ihren Formen sind unverzichtbar für das wirtschaftliche und demokratische Wachstum eines Landes. Gerade Länder wie Äthiopien können es sich nicht leisten, genau den Sektor zu ignorieren, der das Potenzial hat, den größten zivilen Einfluss auszuüben. So wie John Lewis verstand, dass die Bürgerrechtsbewegung ohne die Künste nicht flügge werden konnte, so kann auch die Zukunft Äthiopiens oder eines anderen Landes, das sich in einer schwierigen Phase befindet, ohne einen florierenden Kreativsektor, der wie eine Industrie organisiert ist, nicht flügge werden. Die wirtschaftlichen und demokratischen Vorteile, die diese Branchen bieten, machen die Kreativwirtschaft zu einem wesentlichen Faktor für Entwicklung und Fortschritt.

Filmdatenblatt Berlinale: DIFRET

Anwältin Meaza Ashenafi hat in Addis Abeba ein Netzwerk gegründet, das mittellosen Frauen und Kindern kostenlosen Rechtsbeistand gewährt. Mutig setzt sie sich gegen alle Schikanen von Polizei und männlichen Regierungsvertretern zur Wehr.
Mandefro wurde 1977 in Addis Abeba geboren und wuchs in den USA auf. Ihr Vater, Ayalew Mandefro, war äthiopischer Verteidigungsminister. Ihre Familie flüchtete in die USA, nachdem das kommunistische Regime in Äthiopien versucht hatte, ihren Vater zu ermorden. Nach einem erfolgreichen Medizinstudium in den USA promovierte sie in Kulturanthropologie an der Temple University, wo sie eine Dissertation über die Gestaltung der amerikanischen Gesundheitspolitik in der Bundesregierung verfasste. Anschließend absolvierte sie eine Ausbildung in internistischer Grundversorgung, wo sie Forschungen über HIV-Disparitäten bei Schwarzen Frauen betrieb.
Mandefro war a White House Fellow in der Obama-Administration. Heute ist sie Filmemacherin, Gruppenleiterin bei Indaba Africa, Mitbegründerin des Realness Institute und Mitbegründerin von Truth Aid Media und ist Mitglied des Beirats des Shared Harvest Fund.

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