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Kleines Land

Kleines Land
von Mathijs Cazemier

Am 7. April 2022 war es 28 Jahre her, dass der Völkermord in Ruanda begann. In Petit Pays (Kleines Land) bietet Gaël Faye einen neuen Blick auf die Ereignisse, mit besonderem Schwerpunkt darauf, wie der ethnische Konflikt in den burundischen Bürgerkrieg überging. Das Buch, das aus der Perspektive eines in Burundi lebenden ruandisch-französischen Jungen geschrieben wurde, hinterfragt falsche Vorstellungen über die Zeit, die zu der Tragödie führte, und beleuchtet die komplexen psychologischen Dimensionen des Völkermords. Zwischen Melancholie, Terror und Desillusionierung bietet Petit Pays einen bahnbrechenden und aufschlussreichen Blick auf eine der dunkelsten Seiten der afrikanischen Geschichte, die im Westen oft missverstanden wird.

In der frankophonen Welt ist Faye als Plattenkünstler bekannt. Sein gleichnamiger Song „Petit Pays“ aus dem Jahr 2011 wurde von einem farbenfrohen Musikvideo begleitet, das in den üppigen Hügeln von Burundi gedreht wurde. Der Song ist eine Fortsetzung von Protagonist Gabys Geschichte und beschreibt seinen Kampf, sich von seinen traumatischen Erlebnissen in Burundi zu erholen, wobei das Schreiben seine einzige Flucht vor der Vergangenheit darstellt. In dem Lied beschreibt Faye, wie Völkermorde eine komplexe Kombination aus Wut und Schuld bei Überlebenden wie Gaby hervorrufen, die sich oft zwischen „Selbstmord und Mord“ befinden. Das Schreiben ist ein sicherer und neutraler Weg, sich diesem Trauma zu stellen und die psychologischen Verwicklungen des Völkermordes in einer Welt, in der eine nach gut und böse aufgeteilte Interpretation der historischen Ereignisse die Norm ist, nach außen zu tragen.

Eine filmische Interpretation des Romans kam 2020 in die Kinos. Der Film, bei dem Eric Barbier Regie führte, wurde von der Kritik gelobt und bildet die letzte Facette von Fayes multimodalem Werk Petit Pays.

 

Der Roman ist das Herzstück dieses Projekts. Trotz seines fiktionalen Charakters ist die Hauptfigur, ein 11-jähriger Junge mit dem Spitznamen Gaby (kurz für Gabriel), unverhohlen von Fayes eigener Kindheit inspiriert. Gaby lebt in Kinanira, einem wohlhabenden Expat-Viertel in Bujumbura, mit seinem Vater, dem Familienkoch Prothé, dem Fahrer Innocent und seinen Freunden, mit denen er in einem verlassenen Volkswagen Kombi gerne Mangos isst. Die ersten Kapitel des Buches sind von Freude und Melancholie durchdrungen, während der Leser die Emotionen und Empfindungen dieses Kindes kennenlernt, das sich nur mit Entdeckungen und Schatzsuche beschäftigt. Von der Entdeckung der Wunder des Tanganjikasees bis hin zum Besuch verlassener Palmölfabriken wird Gabys Kindheit im Kontrast zu den alltäglichen Nöten der Burunder als bunte Anomalie inmitten der grassierenden Armut des Landes geschildert. Gabys Blase hat jedoch nicht dauerhaft Bestand; sie zerplatzt schließlich nach der Trennung seiner Eltern und dem Staatsstreich, der den neu gewählten Präsidenten Melchior Ndadaye am 21. Oktober 1993 stürzte.

Africa is a Country

Dieser Artikel erschien im Original auf englisch unter dem Titel “the missing pieces” bei Africa is a Country.

Im burundische Bürgerkrieg, der oft von den Ereignissen in Ruanda überschattet wird, standen sich ebenfalls eine Hutu-Mehrheit und eine Tutsi-Minderheit (zu der Gabys Mutter gehört) gegenüber. In der zweiten Hälfte des Romans wird Gaby mit neuen Realitäten konfrontiert. In einem politischen Kontext, in dem er als ethnischer Tutsi gezwungen ist, Partei zu ergreifen, wird Gaby von Desillusionierung, Misstrauen und Zweifeln geplagt. In dem Maße, in dem ethnischer Hass den öffentlichen Diskurs zu durchdringen beginnt, ändert sich Gabys Haltung gegenüber seinen Verwandten, Freunden und Bekannten. Indem sich Gaby im Laufe des Romans allmählich politisiert, wendet sich Faye gegen das Missverständnis, der Konflikt zwischen Hutus und Tutsis sei einfach aus heiterem Himmel entstanden. Stattdessen beleuchtet der Autor die umfangreiche Propaganda zur Spaltung der Bevölkerung und die komplexen psychologischen Manipulationen, die von den verschiedenen Akteuren des Völkermords – von den Regierungen bis zur Zivilgesellschaft – durchgeführt wurden. Westliche Historiker, Politikwissenschaftler und Organisationen wie Human Rights Watch haben oft behauptet, dass der Völkermord hätte verhindert werden können, wenn die internationalen Akteure härter durchgegriffen hätten. Dies ist sicherlich richtig, aber der Völkermord fand nicht im luftleeren Raum statt, und das Ausmaß der Ereignisse zu begreifen, war laut Faye damals eine komplexe Aufgabe.

Petit Pays Filmplakat

Der Roman hilft den Leser:innen, diese Komplexität zu begreifen: Sein Ich-Erzählstil ermöglicht es, in Gabys physische und psychologische Umgebung einzutauchen. Als Leser:in können wir uns in alle Bemühungen Gabys einfühlen – als wären wir selbst indirekt davon betroffen – selbst wenn er auf den letzten Seiten des Romans gezwungen wird, einen Hutu-Mann zu ermorden. Dennoch vermeidet Faye eine übermäßige Verwendung melodramatischer Sprache und entscheidet sich bewusst dafür, einen realistischen Roman zu schreiben. Seiner Meinung nach ist der Völkermord ein Ereignis, das die Literatur nicht in seiner Gesamtheit beschreiben kann. Gabys Verständnis des Völkermords ist daher sehr begrenzt und beschränkt sich auf seine persönlichen Erfahrungen – und damit auch auf das der Lesesenden.

Afrikanische historische Ereignisse wie der Völkermord in Ruanda und der Bürgerkrieg in Burundi werden allzu oft durch die Brille der westlichen Welt betrachtet. Die Erinnerung an diese Ereignisse ist daher von einer europäischen Voreingenommenheit geprägt, während neue Stimmen und Interpretationen es schwer haben, an die Oberfläche zu gelangen. Geschichte ist viel mehr als nur eine lineare, einseitige Zeitachse, und neue Erzählungen wie die von Gaby wurden oft aufgrund von Ethnie, Geschlecht oder Nationalität ausgeklammert. Das ist ein Fehler, denn Werke wie Petit Pays ermöglichen es uns, Geschichte neu zu denken und die gängige Art des Erinnerns zu hinterfragen. Es müssen gemeinsame Anstrengungen unternommen werden, um diesen neuen Erzählungen mehr Gewicht zu verleihen, denn sie sind entscheidende fehlende Teile des Puzzles, das wir Geschichte nennen.

Mathijs Cazemier ist Student an der Universität Leiden (Niederlande) und Mitbegründer des Kunst- und Medienblogs BetweenUs.

Gefördert durch die Kulturstiftung des Freistaates Sachsen. Diese Maßnahme wird mitfinanziert durch Steuermittel auf der Grundlage des vom Sächsischen Landtag beschlossenen Haushaltes.

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