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Wenn nur die Wüste sprechen könnte
Eine Rezension von Romeo Orioguns Lyrikband NOMAD. Von Samuel Osaze

Ich habe mich immer gefragt, was passiert, wenn die Natur eines Tages alle Geheimnisse enthüllen würde, die sie je anvertraut bekommen hat. Was würde nicht alles bekannt werden über die Unzulänglichkeit des Menschen?

NOMAD, geschrieben von Romeo Oriogun, ist reich an Personifikationen. Der Sahara-Wüste werden menschliche Qualitäten zugeschrieben, da sie sich der Aktivitäten innerhalb ihrer Grenzen bewusst zu sein scheint. Es heißt, die Wüste sei die wahre ‚Historikerin‘ der Menschen. Dem stimme ich zu. Zumindest führt sie genaue Aufzeichnungen über diejenigen, die mit ihr in Berührung kommen. Der Wüstensand „birgt alles, was wir zum Sprechen brauchen“, heißt es in einem der Gedichte.

Es stimmt, wer sonst könnte so genau die Geschichten von Migrant:innen erzählen, die in der Hitze der Sahara Wüste alle Kraft verlieren, bevor sie in der brütenden Hitze den Staub küssen, außer die Sahara Wüste selbst? Das Mittelmeer kennt mit Sicherheit ebenso die Zahl derjenigen, deren Leben geopfert wurde, damit andere Migrant:innen in das Land ihrer Träume gelangen konnten. Diese Vermutung ist nicht abwegig!

Romeo Oriogun

Die Migration ist eines der großen Themen von Nomad, wie der Titel schon andeutet. Ein Nomade ist jemand, der ständig in Bewegung ist. Jemand, der ein Leben auf der Wanderschaft führt. Im Oxford-Wörterbuch (2022) heißt es: „Ein Nomade ist ein Angehöriger eines Volkes, der von Ort zu Ort reist, um frisches Weideland für seine Tiere zu finden und der keinen festen Wohnsitz hat.“

Im Laufe der Jahre sind Nigerianer:innen auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen in anderen Ländern und sogar innerhalb unseres Mutterlandes, zu Landstreichern par excellence geworden. Deswegen sind sie anfällig für alle Formen von Ausbeutung, von Libyen (beliebt für Menschenhandelslager) bis zu Maghreb, der Heimat des Tuareg-Volkes, wo die letzte Etappe auf dem Weg nach Europa beginnt. Orioguns Reisegedichte sprechen jeden vertriebenen Nigerianer an. Unaufhörlich begeben sich junge Nigerianier:innen auf den Weg zum Beispiel von benin City nach Italien, wahrscheinlich auch, während du das hier liest.

Das Gedicht mit dem Titel „Someday the Desert will Sing“ (91) legt die Gebeine der Geflohenen offen. Vor der Wüste seien Hirte und Herde gleich, sie sei Archivar der Völker von alters her, behauptet das Gedicht. Es wurde nach Tade Ipadeolas „Sahara Testament“ geschrieben, einer Gedichtsammlung, die 2013 mit dem nigerianischen Literaturpreis ausgezeichnet wurde, und die die die Unermesslichkeit und Weite der Sahara-Wüste als Metonymie erforscht. Die ersten paar Zeilen von „Someday the Desert will Sing“ lauten:

On the day of equinox, the camels walk slowly,

neither responding to the voice of their herders

or to the dunes slowly shifting through an endless arena

of sand. In the Sahara where water is an old tale

 and the herders and the animals are one, united in life

as well as in an ongoing battle toward death,

there is a beginning in every grain of sand,

there is an origin in the night wind and the caves with their many moments of history

hold all that we need to speak from…

Ein anderes Gedicht in der Sammlung, „A Train Stop in the Sahara“ (93), beschreibt einen staunenden Reisenden, der die Weite und Leere der Wüste bewundert.

Who would have thought that man’s hunger

 for movement would lead him here? Perhaps

the ancient ones knew, they saw the journey,

the endless desire for conquest; Alexander’s

sword coming down on history’s knot.

Die letzte Strophe des Gedichts bringt mehr Licht ins Dunkeln:

I, nomad, who walked through cities,

soundless like a bone thrown into a pit/

I have no language for belong…

Bei der Behandlung der Themen Migration und Wanderschaft malt Oriogun gekonnt pittoreske Szenen, wie verrückt sie auch sein mögen, von den harten Realitäten auf einer Reise in die westliche Welt. Auf dem Weg dorthin gibt es viele Hürden zu überwinden. Die Sahara Wüste und das Mittelmeer sind beide zur ewigen Ruhestätte für viele geworden. Die Wanderschaft ist nicht neu. Die Umstände von Romeo Orioguns Flucht aus Nigeria im Jahr 2016 waren sehr unerfreulich. Man könnte meinen, dass der Dichter alle Spuren davon hinter sich lassen will. Doch nach weniger als einem Jahrzehnt im Exil in einem anderen Land, scheint Oriogun immer noch von Nigeria besessen zu sein, oder von Afrika besser gesagt. Er bleibt ein afrikanischer Dichter und nutzt sein Werk, um den gesellschaftlichen Kontext, der ihn zur Ausreise bewegt hatte, zu beleuchten. Es handelt sich um die Art von Migrant:innenliteratur, die aus dem Exil heraus die gesellschaftlichen Entwicklungen des Heimatlandes kommentiert, damit daraus ein besseres Land werde. Diese Anliegen sind Themen in NOMAD, der jüngsten Sammlung des Dichters, welches auf der 3-man Shortlist mit dem Nigeria Prize for Literature 2022 ausgezeichnet wurde.

NOMAD

NOMAD ist ein Sammelsurium von Themen. Zum Teil ist es die Summe der Erfahrungen und Erinnerungen des Dichters und die Art und Weise, wie sich dieser soziale Hintergrund mit der neuen Welt vermischt. Von Wanderschaft, Tod, Desillusionierung von Jugendlichen, deren Heimat die größte Bedrohung für ihre Lebensziele ist, und schließlich von der Unvermeidlichkeit des Zusammenstoßes zweier Kulturen in der neuen Heimat.

„Migrant at the Sahara“ nimmt die Lesenden an den Anfang der Reise mit, zu den Vorbereitungen des schwierigen Weges. In diesem Fall gibt der Dichter, nachdem er vom Geruch des Todes in der Sahara und andere blutige Details auf dem Weg nach Europa erfährt, seinen Traum von der Durchquerung der furchtbaren Wüste und ihrer endlosen Dünen auf. Kurz davor allerdings macht das erste Gedicht “ The Beginning“ (S. 1) deutlich, dass ein Mensch, wenn er vertrieben wird, die Last des Neuanfangs nicht alleine tragen muss.

Das Titelgedicht NOMAD (S. 99) scheint der Höhepunkt der transitorischen Phasen zu sein. Darin spricht ein „erfolgreicher“ Migrant, der es sich irgendwo in Brooklyn gemütlich gemacht hat und über seine Vergangenheit nachdenkt. Die erste Strophe des Gedichtes ist der Erguss eines dankbaren Herzens. Sie lautet: In Brooklyn, we drink to a toast/ in Samar’s asylum, wondering how to quiet/the countries speaking in our mouths. Das endgültige Ziel ist erreicht. Das Asyl wird gewährt. Mit relativem Komfort können die Migranten nur lobend zurückblicken.

Der Dichter scheint eine gute Erinnerung an Benin City zu haben. In vielerlei Hinsicht ist das Lebensgefühl der Stadt in einer Handvoll Gedichte spürbar. Wo es um koloniale Invasion und den Identitätsdiebstahl geht, werden Relikte der Kolonialgeschichte in der alten Stadt hervorgeholt, um diese Botschaft zu vermitteln. Zum Beispiel spricht das Gedicht „Waiting for Rain“ (Seite 23) von den gemeißelten Bildern der Edo-Krieger, die dem kolonialen Schießpulver erlagen, als 1897 die Schatzkammer der Stadt geplündert wurde.

Obwohl er in dem Gedicht, das den Edo-Märtyrern gewidmet ist, nicht ausdrücklich erwähnt wird, kommt einem der Name eines Kriegers, der unter den tapferen Frauen und Männern hervorsticht, sofort in den Sinn. Es ist Asoro n’Iyokuo – ein Soldat von außergewöhnlicher Größe und mit militärischem Einfallsreichtum, von dem gesagt wird, dass er eine Gruppe von Soldaten in einen Hinterhalt gegen die britischen Invasoren führte. Seine Statue, die auf dem Oba Ovonramwen Square in Benin City steht, zeigt, wie er zahlreiche Soldaten des Empire in die Flucht schlug, bevor er schließlich seinen Wunden erlag.

Orioguns Gedichte erinnern an Christopher Okigbo und Gabriel Okara, wenn es um den Kampf der Kulturen beziehungsweise die Verehrung der Wassergöttin des Reichtums und der Fruchtbarkeit (Olokun) geht. Was Oriogun jedoch vielleicht von diesen Vorfahren unterscheidet, ist der Mangel an Musikalität in seinem gut geschliffenen und schwer beladenen dichterischen Arsenal. Ich vermute, dass es das ist, was der Poesie beim Lesen und Rezitieren mehr Farbe verleiht.

Irgendwann im Laufe der Lektüre von NOMAD fühlte ich mich auch einmal verloren angesichts der eigentümlichen Banalität der Prosa, die mich belächelte. Dennoch, was Oriogun an rhythmischem Fluss fehlt, macht er durch seinen erfrischenden Stil reichlich wett: eine einfache, aber tiefgründige Diktion, umhüllt von reichhaltigen literarischen Mitteln. So widersprüchlich das erscheinen mag, so glaube ich doch, dass es genau das ist, was Orioguns Poesie zu der die Art von Anerkennung, die sie heute unter Kritiker:innen genießt, verleitet und warum er als neue „prägende Stimme der afrikanischen Poesie“ bezeichnet wird.

Es ist nicht auszuschließen, dass der Dichter angesichts der Umstände seiner Flucht aus Nigeria aus einer persönlichen Erfahrung heraus geschrieben haben könnte. Nach einem äußerst barbarischen Akt – der Dichter hatte während eines offiziellen Dienstes in Akure beobachtet, wie ein Mob einen anderen Homosexuellen lynchte. Aus Angst, dass ihm ein solches Schicksal widerfahren könnte, brauchte Oriogun keinen Kristallgucker, um ihn zum Verlassen des Tatorts und der Stadt zu bewegen.

Heute schreibt er aus den Vereinigten Staaten von Amerika. Trotzdem könnte dieser Bericht  aber genauso gut in der Phantasie oder durch gründliches Nachforschen zum Leben erweckt werden. Aus welchem Pool die Muse des Autors auch immer geschöpft hat, die Schilderungen sind lebendig gemalt. Dank des Engagements des Dichters für Figuren und einer gelungenen Sprache.

Samuel Osaze ist der Autor von „Der falsche Mond von Yenagoa“ (Gedichte). Übersetzt wurde es aus dem Englischen von Andrea Jeska.

Genre: Lyrik

Autor/in: Romeo Oriogun

Verlag: Griots Lounge Verlag Nigeria (2021)

Anzahl der Seiten: 116

Samuel Osaze ist der Autor von „Der falsche Mond von Yenagoa“ (Gedichte).

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