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Afrotopia

Afrotopia

Der senegalesische Ökonom Felwine Sarr formuliert neue Zukunftsmetaphern für Afrika

Heute mal etwas aus der Reihe tanzend, denn hierbei handelt es sich nicht um Belletristik, möchten wir euch ein großartiges Sachbuch vorstellen: Afrotopia von Felwine Sarr. Sarr ist Musiker, Schriftsteller und Ökonomieprofessor an der Uni Gaston Berger in Saint-Louis im Senegal, und gilt als einer der aktuell meistdiskutierten Denker:innen Afrikas. Spätestens, seit er im Jahr 2018 mit der französischen Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy im Auftrag des französischen Präsidenten Emmanuel Macron einen Bericht zur Rückgabe afrikanischer Kulturgüter verfasste, hat er sich auch als wichtiger Impulsgeber in hiesigen Debatten um Dekolonisierung, Erinnerungspolitik und das Verhältnis zwischen europäischen und afrikanischen Ländern etabliert.

Da „Afrika“ noch immer mit Stereotypen behaftet ist, die Unterentwicklung und Armut hervorheben und an westlichen Fortschrittsmaßstäben gemessen werden, selbst wenn diese sich selbst längst als zerstörerisch erwiesen haben, arbeitet sich das Buch zunächst an dem europäischen Fortschrittsmythos ab, dessen Ausdruck „Entwicklungpolitik“ afrikanische Gesellschaften für ein uneinlösbares Wohlstandsversprechen zerstört habe.

Durch eine afrikanische Stadt wie Lagos, Abidjan, Kairo oder Dakar zu gehen, ist in erster Linie ein sinnliches und kognitives Erlebnis. Der Rhythmus der Stadt erfasst einen augenblicklich. Vitalität, Kreativität und Energie tosen durch die Straßen, Chaos und Ordnung machen einander den Raum streitig; Vergangenheit, Gegenwart und die Umrisse der Zukunft existieren nebeneinander. Man spürt instinktiv, wie nutzlos, abstrakt und begrenzt die auf der jährlich erzeugten Wertschöpfung (dem Bruttosozialprodukt) beruhenden Indikatoren und Wohlstandsrankings sind. Das Leben, der Puls der Gesellschaft, die Intensität des sozialen Austausches, Beziehung zum eigenen Umfeld, Zufriedenheit oder Unzufriedenheit, das Gefühl der Ganzheit, nichts davon lässt sich in solchen Statistiken fassen. Das Leben in diesen Räumen, die dortige Anwesenheit lässt einen jede Vorstellung von vergleichender Bewertung verlieren: Was sagt es schon aus, dass es in New York mehr Brücken oder Schnellstraßen gibt als in Abidjan?

Die Aufgabe, Afrika neu zu denken besteht daher für Sarr darin, den Kontinent so anzunehmen, wie er ist, und nicht wie er zu sein hat. Sarr hinterfragt den Westen als vermeintlichen Urheber der Moderne wehrt sich gegen die Bagatellisierung afrikanischer Wirtschaftsgeschichte. Für ihn steckt Afrika in dem Versuch fest, Europa anhand von fremden Maßstäben und Werten zu kopieren und kehrt sich dabei von allem ab, was Afrikaner:innen ausmacht. Die westliche Mainstream Ökonomie rechne nicht mit dem Menschenbild des Homo Africanus, dessen „Logiken der Ehre“, „Umverteilung“, „Subsistenz und Gabe“ ihn vom Homo Oeconomicus abgrenzten.

Dieses Afrika, das ist und das wird, ist vielgestaltig. Seine Vernunft hat viele Gesichter. Es hat seine Welten nicht entzaubert, das spirituelle Leben ist noch lebendig und reich. Seine Religionen, seine Musiken, seine Künste, seine Städte, die Beziehung zu sich selbst, zum eigenen Körper, seine Gegenwart in der Zeit bezeugen diese alltägliche Selbstfindung.

Süddeutsche Zeitung

Vor rund 50 Jahren wurden die letzten europäischen Kolonien in Afrika in die Unabhängigkeit entlassen. Doch obwohl sie seit Jahrzehnten politisch und wirtschaftlich autonom sind, stecken viele der Länder in einer Dauerkrise. Diese Krise wiederum, so Sarr, bestätigt und aktualisiert laufend die uralten Stereotypen von Afrika als einem finsteren, katastrophischen Ort und vom Afrikaner als minderwertigem Menschen, der sich selbst nicht zu helfen weiß – das Bild also, das bei den Europäern maßgeblich dazu beitrug, Sklavenhandel und Kolonialismus zu legitimieren.

Afrotopia von Felwine Sarr ist im Matthes und Seitz Verlag erschienen.

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Literatur

Süsswasser

Süßwasser
Über die Metaphysik von Identität und Sein

Als sie (unser Körper) sich in die Welt hinaus gekämpft hatte, glitschig und lauter als ein Dorf aus Stürmen, blieben die Tore offen. Wir hätten inzwischen in ihr verankert sein müssen, schlafend in ihren Membranen, mit ihrem Bewusstsein verbunden. Das wäre der sicherste Weg gewesen. Aber weil die Tore offen standen und nicht verschlossen waren gegen die Erinnerung, waren wir verwirrt. Wir waren beides gleichzeitig, alt und neugeboren. Wir waren sie, und doch nicht. Wir waren nicht bei Bewusstsein, aber wir waren am Leben – genau genommen bestand das Hauptproblem darin, dass wir ein deutlich unterscheidbares WIR waren, statt ganz und ausschließlich SIE zu sein.

Sie – das ist Ada. Ada wächst im Süden Nigerias aus und bereitet schon als Kind ihrer Familie Sorgen mit ihrer Unruhe, mit Wutausbrüchen und depressiven Phasen. Doch es soll sich herausstellen, dass sie nicht einfach nur launisch ist. Im College in den USA löst eine traumatische Erfahrung die Ausprägung multipler Persönlichkeiten in ihrem Kopf aus. Von nun an leben und sprechen in ihrem Inneren die Brüderschwestern, St. Vincent und Asughara. Ada gerät in den Hintergrund ihres eigenen Verstandes, während die anderen, mal maliziös, mal fromm, männlich und weiblich, hedonistisch, auto-aggressiv oder beschützerisch, die Kontrolle über ihr Leben übernehmen.

Doch der Roman verharrt keineswegs in dem altbekannten Narrativ der „verrückten Frau“, es geht auch nicht um die pathologische Ausschlachtung der Persönlichkeitsstörung.
Ada geht schließlich nicht an den Stimmen in ihrem Kopf zugrunde, sondern für sie sind sie auch Inspiration und Kraft. Emezi erforscht das singuläre Kollektiv oder das plurale Individuum in Adas Kopf mit Mitteln der Igbo-Kultur und bringt das Konzept des Ogbanje ins Spiel – Ada ist geboren „mit einem Fuß auf der anderen Seite“.

"Ogbanje" zu sein bedeutet jedoch, als "anders" kategorisiert zu werden und Alterität auf eine Art und Weise nach Hause zu bringen, die über das gewöhnliche, zweigeteilte "Anderssein" des Geschlechts hinausgeht. Wir könnten sogar spekulieren, dass Ogbanje-Kinder unter eine dritte Kategorie von Geschlecht fallen, die des menschlich aussehenden Geistes. Dieses Geschlecht ist von Geburt an markiert - wie der männliche und weibliche Status - durch besondere Verhaltensweisen gegenüber dem Kind und seine körperliche Ausschmückung. Die sexuelle Erscheinung des Ogbanje kann in der Tat als eine Täuschung angesehen werden - ein weiteres Versprechen, das der Ogbanje in seiner Weigerung, nach menschlichen Normen zu handeln, wahrscheinlich bricht."

Adas verschiedene Persönlichkeiten, die Emezi mit distinkten Stimmen zum Leben erweckt, geben dem Buch Tiefe und Komplexität, die es in Kombination mit Emezis anmutiger Sprache und wilder Kraft zu einem äußerst intensiven und herzzerreißenden Leseerlebnis werden lassen.

Mit Süsswasser hat Akwaeki Emezi einen extrem kraftvollen und anrührenden, aber auch anspruchsvollen Debütroman geliefert, der Fragen von Identität und Sein auf erfrischende Weise erforscht.

© Akwaeke Emezi

Akwaeke Emezi ist Igbo- und tamilische Schriftsteller_in und Künstler_in. Geboren und aufgewachsen in Nigeria, erhielt Emezi einen MPA von der New York University und wurde 2015 mit einem Miles Morland Writing Scholarship ausgezeichnet. 2017 gewann Emezi den Commonwealth Short Story Prize für Afrika. Emezis Arbeiten wurden in verschiedenen Literaturmagazinen veröffentlicht, darunter Granta.

The Cut

Transition My surgeries were a bridge across realities, a spirit customizing its vessel to reflect its nature. By Akwaeke Emezi The robot was called a da Vinci. It was delicate, precise, inserted through my navel to slice my uterus and fallopian tubes into small unimportant pieces, which were then suctioned out of my body.

Wenn man die Idee eines essenziellen Selbst loslässt, sie nackt in die Brandung wirft und vom Meer forttragen lässt, dann verändert sich alles. Ohne sie nehmen Masken eine neue Dimension von Möglichkeiten an. Sie können verbergen, ja, aber wie der Zauberer sagt, können sie auch verdeutlichen, was wahr ist, genau so, wie eine Geschichte dir etwas besser erzählen kann, als es nackte Fakten jemals könnten. Sie können dich zusammenhalten wie eine straffe Zellophanbinde über gebogenem Metall, wie ein Blick über zwei Körper, ein gestärkter, in Gold gewickelter Knoten. Sie können Schmuck sein, Kleider als Kostüme, die den Körper verdecken, hell genug, um die Blicke darauf zu lenken.

Süsswasser ist im Eichborn Verlag erschienen.

Dazed Magazine: A visual and literary journey through Nigeria. Text by Akwaeke Emezi

Instagram: azemezi

Website: akwaeke.com

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Literatur

Literaturtipps für Weihnachten

Literaturtipps zu Weihnachten
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Verschenken oder selber Schmökern?

Für das Buchfest Weihnachten ist dieses Jahr einiges anders: das Coronajahr belastet nicht nur die Buchbranche, sondern wirft uns Leserinnen und Leser immer wieder auf uns selbst und in unsere eigenen vier Wände zurück. Nicht verzagen, denn glücklicherweise gibt es da ein Heilmittel: den Bücherkauf! Egal, ob ihr noch einen Roman zum Verschenken sucht oder euch selbst mit einer guten Lektüre verwöhnen wollt – es gibt mit Sicherheit das eine oder andere Werk von afrikanischen Autor:innen, das ihr noch nicht kennt. Hier empfehlen wir euch fünf tolle Bücher für die Festtagslektüre.

1. Wo wir stolpern und wo wir fallen

Abubakar Adam Ibrahim
Residenz Verlag
360 Seiten

Für den Drogendealer Reza ist der Einbruch in das Vorstadthäuschen der Witwe Binta Zubairu bloß die Routine eines heißen Vormittags. Einen Herzschlag später wissen beide: Das, was hier geschieht, dürfte nicht sein. Die Anziehungskraft, die sie erfasst, das Begehren, das ihnen selbst ein Rätsel bleibt, verstößt gegen alle Regeln der traditionellen muslimischen Gesellschaft der Stadt Jos. Und doch: Vor dem Hintergrund der politischen und religiösen Gewalt in Nigeria entfaltet sich die sinnliche, kämpferische und verzweifelt unmögliche Liebesgeschichte zwischen einer alternden Frau, die ihren Sohn verloren hat, und dem um 30 Jahre jüngeren Anführer der Gang des Viertels. Ein üppig erzählter Roman, das lebendige Porträt einer zwischen Tradition und Moderne zerrissenen Gesellschaft.

Diese Geschichte über eine Amour fou ist nicht zuletzt dadurch so besonders, dass Ibrahim mit einem gesellschaftlichen Tabu bricht. Über Sexualität einer muslimischen Frau zu schreiben, ist in den Literaturen Afrikas, insbesondere in muslimisch geprägten Ländern, selten.

Ibrahims Roman ist zugleich ein Abbild der nigerianischen Gesellschaft. Zwei Welten prallen aufeinander: die im Islam verankerte Tradition eines Patriachats mit Polygamie und die afrikanische Moderne mit Smartphone, Telenovela, Sex, Drogen und Kriminalität. Für Letztere steht Reza, ein so skrupelloser wie sympathischer Gangleader, der mit Haschisch dealt, Polizisten besticht, geheime Aufträge für einen korrupten und machtgierigen Senator übernimmt.
Überschrieben hat Ibrahim die einzelnen Kapitel mit amüsanten nigerianischen Sprichwörtern: „Wer einen alten Mann verspeist, darf sich nicht beschweren, wenn er anschließend graue Haare spuckt.“
In kräftigen Farben und zarten Tönen erzählt Ibrahim von dieser schönen, verbotenen Liebe.

2. First Woman

Jennifer Nansubuga Makumbi
Oneworld Publications
448 Seiten, englisch

Kirabo ist ein wissbegieriges Kind. Sie hat noch mehr unbeantwortete Fragen als andere Mädchen in der Pubertät, von denen die größte und geheimnisvollste ist: „Wer ist meine Mutter?“ In dem kleinen ugandischen Dorf Nattetta scheint ihr das niemand sagen zu wollen, am wenigsten die Großeltern, die sie ihr Leben lang geliebt und beschützt haben. Auch die flüchtigen Besuche ihres Vaters Tom, der in Kampala sein Unwesen treibt, bringen keine weiteren Erkenntnisse. So beschließt Kirabo, bereits tief verunsichert durch ihre Fähigkeit, ihren Körper zu verlassen und über ihre Nachbarschaft zu schweben, die Dorfhexe Nsuuta zu konsultieren.

Kirabo ist von starken Frauen umgeben. Ihre Großmutter, Tanten, Freund:innen und Cousins und Cousinen wollen alle, dass sie sich an die sozialen Normen anpasst, aber Kirabo ist neugierig, eigensinnig und entschlossen. The First Woman folgt Kirabo auf ihrem Weg, eine junge Frau zu werden und ihren Platz in der Welt zu finden, während ihr Land durch die Herrschaft von Idi Amin verändert wird.

Jennifer Makumbi hat eine mitreißende Geschichte von Sehnsucht und Rebellion geschrieben, zugleich episch und zutiefst persönlich, durchdrungen von einer berauschenden Mischung aus alter ugandischer Folklore und modernem Feminismus. Eine Lektüre, die nachklingt.

3. The Shadow-King

Maaza Mengiste
Canongate Books
428 Seiten

The Shadow-King stand dieses Jahr auf der Shortlist für den Booker Preis, existiert aber leider noch nicht auf deutsch. Die Geschichte spielt im Kontext des italienischen Einmarsches in Äthiopien in den 1930er Jahren, hat also einen historischen Hintergrund, von dem man hierzulande noch nicht allzu viel weiß.
Mengiste erzählt hier die Geschichte von Hirut, einem verwaisten jungen Mädchen, das von denen, die sich um sie kümmern sollten, im Stich gelassen wurde. Hirut wird von dem Freund ihrer Mutter, Kidane, aufgenommen und ist eine Dienerin in seinem Haushalt, wo sie von den unberechenbaren Eifersüchteleien und Launen seiner Frau Aster gequält wird.

Aber ihr Leben wird nicht dasselbe sein, das Generationen vor ihr gelebt haben. Der Krieg steht vor der Tür, und Hirut beobachtet, wie Kidane Waffen sammelt und eine lokale Miliz aufbaut, um der italienischen Invasion zu begegnen. Mengiste folgt diesen Ereignissen, während die Italiener immer näher an ihre Gemeinde herankommen und sich zuhause die Spannungen zwischen Aster und Kidane verschärfen. Mit der Zeit spielen sie alle eine Rolle, wobei Aster eine überraschende Führungsrolle übernimmt und Hirut sich als geschickte Kämpferin erweist. Die Miliz, mit Frauen und Kindern in unterstützenden Rollen, bereitet sich auf den Kampf vor, versteckt sich in Höhlen, versucht, den Verwundeten zu helfen und kommt der endgültigen Begegnung mit den Italienern immer näher.
Der Oman ist eine großartig gestaltete und unaufdringliche Erkundung weiblicher Macht, mit Hirut als grimmiger, origineller und brillanter Stimme im Zentrum. Maaza Mengiste haucht den komplizierten Charakteren auf beiden Seiten der Kampflinie Leben ein und formt eine herzzerreißende, unauslöschliche Erkundung dessen, was es bedeutet, eine Frau im Krieg zu sein.

4. Mädchen, Frau, etc.

Bernardine Evaristo
Klett-Cotta Verlag
512 Seiten

Leider erscheint die deutsche Übersetzung erst im Januar 2021, aber die englische Ausgabe ist ja auch im deutschen Buchhandel zu erhalten. Evaristos Roman wurde 2019 mit dem Booker Preis ausgezeichnet. In Girl, Woman, Other werden die Geschichten 12 verschiedener Frauen erzählt, deren Lebenswege sich auf unterschiedlichste Weise kreuzen. Da sind zum Beispiel Amma, eine junge Dramatikerin, deren Werke häufig ihre eigene Identität als schwarze, lesbische Frau thematisieren; Shirley, Ammas gute Freundin, deren Arbeit als Lehrerin an Londoner „Problemschulen“ sie völlig ausgelaugt hat; Carole, eine ehemalige Schülerin von Shirley, aus der eine erfolgreiche Investmentbankerin geworden ist, sowie deren Mutter Bummi, die einst vor der großen Armut in ihrem Heimatland Nigeria floh. Bei allem, was diese Figuren voneinander unterscheidet, gibt es aber doch etwas, das sie miteinander verbindet … Evaristo erzählt humorvoll, warmherzig und schlagfertig von Themen wie Klassenunterschiede, Rassismus, Identität und Frausein. Ein must-read!

5. Das Weinen der Vögel

Chigozie Obioma
Piper Verlag
512 Seiten

Das Chi, also der Schutzgeist des jungen Geflügelbauern Chinonso ruft die Götter an. Hat sein Schützling nicht alles für seine große Liebe Ndali getan? Hat er ihr auf der Brücke nicht das Leben gerettet? War es nicht ihre Familie, die Chinonso, den ungebildeten Farmer, mit Verachtung reizte? Erst diese Verachtung trieb ihn doch nach Zypern, fort von der Heimat, in der Hoffnung auf Bildung, Aufstieg und eine Zukunft mit Ndali. Und wurde nicht erst während dieser Reise Hoffnung zu Wut und Liebe zu Schuld?
Fest in der nigerianischen oralen Tradition verwurzelt, erzählt Chigozie Obioma eine universelle Geschichte, von einem, der sich gegen sein Schicksal stemmt – und gegen die gesellschaftlichen Barrieren, die seiner Liebe im Weg stehen. Das Weinen der Vögel erzählt eine so klug konzipierte und komponierte wie mitreißende und zu Herzen gehende Liebesgeschichte, die einerseits zugleich auch von nigerianischer Zeitgeschichte gesättigt ist, wie sie andererseits die Kultur und die Kosmologie des Volks der Igbo in der Struktur des Romans verankert.
Mit seinem eindrucksstarken und spannungsvollen Roman bekräftigt Chigozie Obioma seinen Ruf als eine der wichtigsten literarischen Stimmen aus der afrikanischen Diaspora.

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Literatur

Der Ort, an dem die Reise endet

Der Ort, an dem die Reise endet
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Ein mutiger, brutaler und schöner Roman über eine versehrte Familie

Wenn wir uns nicht gemeinsam den Geistern unserer unbewältigten Vergangenheit, unseren von der Politik genährten Gewaltnarrativen und dem vorsätzlichen Schweigen stellten, waren wir als Volk und als Land in existenzieller Gefahr.

Immer wieder hören wir, dass Menschen den Debütroman von Yvonne Adhiambo Owuor noch nicht gelesen haben, deswegen müssen wir ihn hier einfach noch einmal vorstellen!
So viel verrät uns der Klappentext:

Kenia, 2007. Odidi Oganda, ein hochtalentierter Student, wird in den Straßen Nairobis erschossen. Seine Schwester Ajany kehrt aus Brasilien zurück, um mit ihrem Vater seinen Leichnam nach Hause zu überführen. Doch die Heimkehr auf die verfallene Farm im Norden des Landes hält keinen Trost für sie bereit. Zu schmerzhaft sind die Erinnerungen, die der Mord heraufbeschworen hat und die Familie im Griff halten: an die koloniale Gewaltherrschaft und die blutigen Auseinandersetzungen nach der Unabhängigkeit. Ajanys Mutter flieht von Wut und Trauer erfüllt in die Wildnis. Und ihr Vater muss sich einer brutalen Wahrheit stellen. Doch im Moment größter Verzweiflung entsteht auch etwas Neues: Eine Liebe – oder zumindest eine Verbindung – nimmt ihren Anfang. ›Der Ort, an dem die Reise endet‹ ist ein großer Roman über eine versehrte Familie und ein zerrissenes Land. Mit einer Sprache, die einem den Atem raubt, voller Kraft und Intensität, erzählt Yvonne Adhiambo Owuor eine Geschichte von universeller Dringlichkeit – eine Geschichte von Macht und Täuschung, von unerwiderter Liebe und dem bedingungslosen Willen zum Überleben.

Buch Cover

Wie Razak Gurnah im Guardian feststellt, steht im Mittelpunkt des Romanes die Frage danach, was es braucht, um vergangenes Unrecht zu verzeihen. Dabei verfällt Owuor aber nicht in Pathos oder oberflächlichen Emotionalismus, sondern schreibt in einfühlsamer, manchmal auch karger und spröder Sprache (wie die Wüste, in dem ein Großteil der Handlung spielt) einen moralischen Kompass für ihre Landsleute, die in einem von Kolonialismus und einer gewaltvollen jüngeren Geschichte zerrissen Kenia leben. Der Ort an dem die Reise endet, ist ein feiner, mitfühlender Roman, der die Komplexität menschlicher Beziehungen ergründet.
Hier eine kleine Leseprobe:


Später, an der Universität, stieß er auf Fela Kutis Lieder - ihren kompakten Zorn: Aye, aye, aye ... I no go agree make my brother hungry, make I no talk...
Er ernannte sich selbst zum Erben Thomas Sankaras und trug eine unnötige Brille, die an Patrice Lumumbas erinnerte.
Drei Semester später fuhr Odidi heim nach Wuoth Ogik. An seinem dritten Abend in der Familie holte Odidi Oganda die Kalaschnikow, die sein Vater ihm fünf Jahre zuvor geschenkt hatte, nahm sie auseinander, warf Nyipir die Teile vor die Füße und sang: Aye, aye, aye... I no go agree make my brother hungry, make I no talk...
Schweigen.
Nyipir beugte sich über die Teile.
Schweigen.
Später, zwischen den Hieben der Nilpferdlederpeitsche, die an Odidis Körper leckte, beschwor ihn Nyipir: "Der einzige... Krieg, den du kämpfst... ist der für das, was dir gehört. Du kannst nicht die Lieder von Menschen leben, die deinen Namen nicht kennen."
Odidi versuchte, seinen Körper zu schützen, wartete auf eine Gelegenheit, Baba seitlich zu tackeln, und vergaß dabei, dass der ein erfahrener Soldat war. Sie wälzten sich über den Boden. Knack. Odidis linker Arm, sein Wurf-Arm, brach. In Odidis ersticktem Schmerz, der Tod der hochfliegenden Rugby Träume, die er, wie ihm erst jetzt klar wurde, gehegt hatte. Er erinnert sich, wie Ajanyi mit den Armen wedelte und in dem vergeblichen Bemühen, "Stopp!" zu schreien, wieder und wieder Sttttttttttttt stammelte. Akai-ma fluchte auf Turkana und flehte Gott und sämtliche katholische Heilige an, diesen Wahnsinn zu bezeugen. Sie erbot sich, ihnen ihr nacktes Hinterteil zu zeigen. Ein Fluch. Doch dann schlug Galgalu mit dem langen, dicken Hirtenstab zwischen Vater und Sohn. Zack!
Danach war Ruhe.
Viel, viel später.
Ein Vater flehte flüsternd seinen fliehenden Sohn an: Bleib. Bitte, bleib.
Der Sohn ging.
Ohne eine Antwort und einen Blick zurück.

Anfang Oktober fiel Yvonne Owuor durch eine ehrliche, wütende und für Europäer:innen sehr unbequeme Rede zur Eröffnung der Konferenz „Colonialism as Shared History. Past, Present, Future„, die vom Auswärtigen AMt mitorganisiert wurde, auf:

Yvonne Owuor

Ein vergessener Scherbenhaufen: die Streifzüge kolonialer Phantome

Das ging ordentlich nach hinten los: In ihrer Eröffnungsrede für die internationale Konferenz „Colonialism as Shared History. Past, Present, Future“ wehrt sich Yvonne A. Owuor heftig gegen die Idee einer gemeinsamen Vergangenheitsbewältigung. Mit den Geistern der eigenen kolonialen Schuld müsse Europa selbst einmal fertig werden, und seine Schuldigkeit durch Reparationen und eine gerechtere Wirtschaftsweise begleichen.

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Literatur

Wir brauchen neue Namen

Wir brauchen neue Namen
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Von einer Kindheit im simbabwischen "Paradise"

Der Roman „Wir brauchen neue Namen“ der jungen simbabwischen Schriftstellerin NoViolet Bulawayo begleitet eine Gruppe rotzfrecher Kinder aus der Barackensiedlung Paradise durch ihre äußerst prekäre Kindheit.

Paradise besteht nur aus Blech

Die zehnjährige Darling lebt in einer Hüttensiedlung in Bulawayo, der zweitgrößten Stadt Simbabwes, und vertreibt sich ihre Tage zusammen mit ihren fünf besten Freunden mit abenteuerlichen Spielen auf den staubigen Straßen des Viertels. Die Kinder gehen nicht mehr zur Schule, weil ihre Eltern sich Uniform und Schulgebühren nicht leisten können. Um den hungrigen Bauch zu füllen, schleichen sich die Kinder ins Nobelviertel Budapest, um Guaven von den Bäumen zu stehlen, oder lassen sich von Weißen, die für NGOs arbeiten, T-Shirts schenken, auf denen Google steht. Ihre Sprache ist rau und angesichts der Widrigkeiten, die ihnen täglich begegnen, sind sie unsentimental und pragmatisch. Sie lassen niemanden ihrer Gruppe zurück, auch nicht die schwangere Freundin Chipo, die von ihrem Großvater vergewaltigt worden ist:

Heute werden wir ein für alle Mal Chipos Bauch los. Erstens stört er beim Spielen, und wenn wir zulassen, dass sie das Baby kriegt, wird sie zweitens einfach sterben.
Wir schleichen aus der Siedlung raus, weil die Erwachsenen nichts mitkriegen dürfen. Die Jungs, Bastard und Godknows und Stina, sind diesmal auch ausgeschlossen, weil das hier nun mal Frauensache ist, also sind nur ich und Shbo und Forgiveness dabei.
Wir machen es unter dem Mphafa-Baum hinter Heavenway; der hat einen schönen großen Schatten. Shbo breitet erst mal das Ntsaro von ihrer Mutter auf dem Boden aus. Sie erzählt nicht, wie sie an das Ntsaro gekommen ist, aber sie hat es garantiert geklaut, keine Mutter in Paradise gibt ihre Sachen her, damit sie im Dreck landen. Chipo verliert keine Zeit, vielleicht, weil sie Angst vorm Sterben hat; sie legt sich sofort flach mit dem Rücken auf das Ntsaro und blinzelt in die Sonne.
Ich sammel schon mal kleine Steine, und als ich etwa sieben habe, überlege ich es mir anders. Ich werf sie weg und sammel mittelgroße. Was genau wir mit den Steinen anfangen wollen, weiß ich noch nicht, aber keiner fragt nach und keiner hält mich auf, also sammel und sammel ich weiter.

Die Kinder sind neben Hunger, fehlender Schulbildung und instabilen Familienverhältnissen auch den Auswirkungen des Gewaltregimes der späten Mugabe Herrschaft ausgesetzt: Bulldozer kommen immer wieder an und zerstören Hütten in Paradise. Tatsächlich ließ die Regierung Mugabes in sogenannten „Müllentsorgungoperationen“ (Operation Murambatsvina) ab 2005 illegal gebaute Häuser und Marktstände in Harare, Bulawayo und anderen Städten mit Schubraupen und Radladern zerstören und niederbrennen. Mehr als drei Millionen Menschen waren direkt oder indirekt von dieser Operation betroffen.

Voller Energie, Witz und Kaltschnäuzigkeit schlagen sich die Kinder durchs Leben, bis Darling, als sie 14 ist, zu ihrer Tante nach Detroit in Michigan geschickt wird.

Enttäuschung in Amerika

Hier beginnt der zweite Teil des Romans, der durch Stimmung, Sprache und Szenerie deutlich macht, dass das Leben in Amerika eine herbe Enttäuschung für Darling ist. Obwohl es in „Destroyedmichigan“, wie die Freunde von zuhause sagen, genug zu essen gibt, quälen sie immer wieder Heimweh und Fragen von Identität und Zugehörigkeit. Es ist kalt und Darling fühlt sich nicht willkommen, nicht einmal der viel gepriesene Schnee kann sie begeistern:

Draußen schaufeln sie Schnee weg, weil so viel gefallen ist. Ich finde es gut, dass sie ihn wegschaufeln, es ist einfach zu viel Weiß, als hätte jemand dem Schnee gesagt, dass die anderen Farben gar nicht zählen. Ich glaube, eine hübsche Farbe wie beispielsweise Lila oder Rosa oder meinetwegen Regenbogen wäre wenigstens interessant anzuschauen.

Auch in den USA sind Gewalt und Härte allgegenwärtig, nur drücken sie sich als Rassismus und Vorurteile gegenüber Afrikaner:innen aus. Auch dort jedoch trotzt Darling den Widerständen mit der Resilienz, die sie in ihrer Kindheit gewonnen hat.

Die zwei Teile des Buches werden durch ein Kapitel, das einen Klagegesang auf die Auswanderung von Simbabwer:innen darstellt, getrennt, der die Schmerzen der Auswanderung und des Lebens in der Diaspora in poetische Worte fasst:

Seht, wie die Kinder in Scharen gehen, ihr eigenes Land verlassen mit blutenden Wunden am Leib und Entsetzen auf dem Gesicht und Blut im Herzen und Hunger im Bauch und Kummer in den Beinen. Ihre Mütter und Väter und Kinder zurücklassen, ihre nabelschnüre im Boden, die Knochen ihrer Vorfahren in der Erde, alles, was sie ausmacht, sie zu dem macht, wer und was sie sind, weil sie unmöglich bleiben können. Nie wieder werden sie sein wie jetzt, denn man bleibt nicht derselbe, wenn man zurücklässt, wer und was man ist, man bleibt nicht derselbe.

Bulawayos fulminantes Debüt

Sprachlich brillant, lebendig und selbstbewusst schafft es Bulawayo, die authentische Stimme eines jungen Mädchens, das im repressiven und wirtschaftlich am Boden liegenden Simbabwe nach der Jahrtausenwende aufwächst, zu zeichnen. Auch wenn der zweite Teil des Romans nicht so stark ist wie der erste, ist das Buch eine absolut empfehlenswerte Lektüre.

Bulawayos Pseudonym (in Wirklichkeit heißt sie Elisabeth Zandile Tshele) setzt sich übrigens zusammen aus der Sehnsucht nach ihrer Mutter und ihrer Geburtstadt Bulawayo: Die Vorsilbe „No“ kommt aus dem Ndebele und heißt „mit“, und Violet war der Vorname ihrer Mutter, die starb, als Bulawayo 18 Monate alt war.

Wer hören möchte, wie Bulawayo selbst über ihren Roman spricht, über die Namen, um die es im Buch geht, über das Schreiben aus der Ferne heraus und über die Grenzen von Sprache, dem sei das folgende Video empfohlen:

Hier geht es zur Website von NoViolet Bulawayo.

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Literatur

Die Spur des Bienenfressers

Die Spur des Bienenfressers
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Ein ghanaischer Krimi der Extraklasse

Sonokrom, ein Dorf im Hinterland Ghanas, hat sich seit Jahrhunderten kaum verändert. Hier spricht man noch die Sprache des Waldes, trinkt aphrodisierenden Palmwein und wandelt mit den Geistern der Vorfahren. Doch eine verstörende Entdeckung und das gleichzeitige Verschwinden eines Dorfbewohners stören die ländliche Ruhe…

Für alle Krimifans haben wir heute einen besonders schönen Tipp: „Die Spur des Bienenfressers“ von Nii Parkes. In einem Dorf in der Nähe von Accra entdeckt eine junge Frau durch Zufall einen knochenlosen Haufen menschlicher Überreste. Da sie die Geliebte eines Ministers ist, schalten sich sofort höhere Beamte ein, die den Fall so schnell wie möglich lösen wollen. Kayo, ein junger Mann, der in einem biochemischen Institut in Accra arbeitet, aber eine Kriminaltechnik Ausbildung in Großbritannien absolviert hat, soll den Fall aufklären. Da sein Chef ihm hierfür allerdings nicht freigeben will, verhaftet die Polizei Kayo kurzerhand und schickt ihn zur Spurensicherung nach Sonokrom.

Inspektor Donkor lächelte. „Haben Sie sich CSI angeschaut?“ „Ja.“ „Das sind Sie.“ Er warf Kayo einen bedeutungsschwangeren Blick zu. Kayo runzelte die Stirn, immer noch perplex. „Ich hörte, Sie sind Kriminaltechniker.“ „Ja, bin ich.“ „Also, wir haben da einen Fall in einem Dorf in der Nähe von Tafo, bei dem wir Ihre Hilfe benötigen. Wir hätten uns gar nicht erst damit abgegeben, aber der Verkehrsminister schläft mit einer Tussi aus Tafo. Sie hat irgendwelche menschlichen Überreste entdeckt, und der Minister hat mich höchstpersönlich angerufen und gebeten, ein paar Leute dorthin zu schicken. Und jetzt will er Ergebnisse sehen.“ Der Inspektor klopfte mit dem Mittelfinger auf den Tischrand, als würde er Sekunden zählen. „Das Interesse des Ministers bedeutet eine gute Gelegenheit, sich befördern zu lassen. Und nicht nur eine Beförderung, auch Sonderzulagen sind die Lebensader des öffentlichen Dienstes. Unsere offiziellen Gehälter sind ein Witz.“ Er lachte herzhaft. Kayo war überrascht, wie melodiös sein Lachen klang. Wider Willen musste er lächeln.

Zwischen den in Sonokrom einfallenden Polizeibeamten aus der Hauptstadt und den bisher von Polizeigewalt verschonten und deswegen eher gleichgültigen Dorfbewohner:innen kommt es zu Reibungen: die Polizisten halten sich nicht an die Regeln des Anstandes und des Respektes und erhalten daher auch keinerlei Informationen. Kayo gelingt es, mit viel Feingefühl für die alten Sitten und die Bedeutungswelt der Menschen aus Sonokrom sein gesammeltes Beweismaterial durch die Geschichten und Mythen des Dorfes zu deuten.

Schriftsteller mit Hut
Nii Parkes,© Marianne San Miguel

Der junge Kriminaltechniker Kayo und der alte Jäger Opanyin Poku sind die zwei sich im Buch abwechselnden Narrative und stehen laut Nii Parkes symbolhaft für das Nebeneinander aus Sprachen, Kulturen und Bedeutungswelten von Menschen in afrikanischen Ländern und das Aufeinandertreffen von postkolonialem Stadtleben mit dem ‚außerkolonialen‘ Landleben, wie Parkes es nennt. Die Leserin, die zu Beginn der Geschichte wahrscheinlich ihre ganze Hoffnung für die Lösung des Falls in Kayos moderne Kriminaltechnik legt, versinkt mit ihm zusammen mehr und mehr in die entschleunigte und idyllische Welt Sonokroms, die voller Mythen und Geschichten steckt.

Oduro löste den Knoten in dem Tuch, das er sich um die Hüften gebunden hatte, und zog ein Fläschchen aus Holz hervor. „Da.“ Er hielt es über Kayos Kalebasse. Kayo runzelt die Stirn. „Was ist das?“ „Etwas aus der Rinde von Hwema. Macht den Wein stärker.“ Der Medizinmann schüttete zwei Tropfen in seine Kalebasse, nahm einen Zug und schmatzte mit den Lippen. Kayo hielt Oduro seine Kalebasse hin, um etwas davon abzubekommen, rührte seinen Wein mit dem Finger um und trank. Er wartete bis das, was er getrunken hatte, von seinem Magen aufgenommen war, und fühlte zuerst eine angenehme Schwere und dann die eigentliche Wirkung. Er fuhr sich langsam mit der Zunge über die Lippen. „Vater Oduro, das schmeckt wirklich prima! Heizt richtig ein!“ Oduro lehnte sich über den Tisch, packte Kayo an den Schultern und grinste. „Es ist auch ein Aphrodisiakum.“ Er lachte, bis er am ganzen Körper bebte und mit ihm auch Kayos Schultern. Das Gelächter wurde immer stürmischer und ansteckender und überwältigte schließlich auch Kayo. Er spürte, wie ihm plötzlich schwindelig wurde. Die Schatten im Raum schienen größer zu werden und mitzulachen, der Duft der Buschfleischsuppe breitete sich aus und kitzelte Augen und Gaumen mit seinen pfeffrigen Fingern. Schließlich hatte Kayo das Gefühl, mit Oduro zusammen im Raum zu schweben und auf die Kalebassen, die Menschen, die Suppentöpfe hinunterzublicken, die sich in einem Wirbel von Farben und Formen auflösten. Von draußen war ein fernes melodisches Xylophon zu vernehmen, dessen Töne vom Wind getragen wurden und wie ein Zauber die Nacht zu durchschneiden schienen.

Neben Parkes humorvollem Grundton und der liebevollen Beschreibung seiner Charaktere ist das Besondere an seinem Roman die Auflösung des Falles, die wir hier natürlich nicht verraten wollen, die einen aber zum Nachdenken bringt über den eigenen Wahrheitsbegriff und die Implikationen, die dieser für das eigene Leben hat. Als die Situation immer unfassbarer wird, müssen Kayo und sein Ermittler einsehen, dass westliche Logik und politische Bürokratie ihre Grenzen haben.

Der Jäger seufzte. „Für Sie ist das vielleicht die Geschichte, die Sie brauchen. Aber ob es die Wahrheit ist, kann ich nicht sagen. Ich habe einfach nur erzählt. Man muss sich auf dieser Welt genau überlegen, welche Geschichte man erzählt, denn davon hängt vieles ab. Zum Beispiel, wie wir leben.“ Garba klopfte auf den Rand seiner leeren Kalebasse einen Adowa-Rhythmus, hörte aber abrupt wieder auf. „Wenn ich was sagen darf…“ Er warf Kayo einen Blick zu, und Kayo nickte. „Ihr Älteren schickt uns im Kreis herum. Wenn wir Fragen stellen, antwortet ihr mit einem Sprichwort. Ich möchte dazu nur eines sagen. Ja, ich bin zwar Polizist, aber ich möchte keinen Ärger machen. Ihr Leute seid in Ordnung, total in Ordnung, …“ Garba hob die Hand, als wolle er verhindern, dass jemand sprach, während er Luft holte. „Wir wollen euch helfen. Mein Freund hier neben mir, Mr Kayo, weiß das vielleicht nicht, aber unser Chef ist total verrückt. Wenn wir ihm nicht irgendwas erzählen, wird das Dorf nie zur Ruhe kommen. Ich schwöre bei meiner Mutter, dass die Polizisten euch alle hier überleben werden, ‚tschuldigung, wenn ich das so sage. Also sucht euch eine Geschichte aus, die ihr erzählen wollt.“ Nach längerem Schweigen sagte Oduro: „Über das, was ihr hier gesehen oder gehört habt, könnt ihr mit keinem reden.“ Kayo runzelte die Stirn. „Und warum nicht?“ „Als ich euch wegschickte, um diese Sache im Bambus zu verbrennen, habt ihr mit dem Rauch einen Zauber eingeatmet. Wenn ihr das, was ihr hier gesehen oder gehört habt, jemandem erzählt, der nicht aus dem Dorf ist, wird es sich anhören, als würdet ihr weinen.“ „Wenn dem so ist, warum sagt ihr uns dann nicht einfach die Wahrheit?“ Kayo war selbst überrascht, als er mit der Handfläche auf den Tisch schlug. Oduro lächelte. „Geduld.“ Er legte seine Hand auf die Kayos. „Die Zeit ist noch nicht reif dafür.“

Nii Parkes selbst sagte hierzu in Interviews:

Als Wissenschaftler weiß ich selbst, dass der Glaube an die Vernunft seine Grenzen hat – wäre das nicht so, gäbe es keine Religion, keinen Weihnachtsmann. Ich bin der Meinung, dass Mythen und Geschichten zu einer vollständigeren »Wahrheit« führen können als wissenschaftlicher Vernunftglaube allein. Wir können nicht einer Wissenschaft, deren Lehrsätze auf Leerstellen gründen, die als Konstanten bezeichnet werden, einen so hohen Stellenwert zusprechen, ja sie sogar als einziges Erklärungsmodell für die ungelösten Rätsel der Welt betrachten – dafür ist die Menschheit viel zu komplex.

Nii Parkes stellt die alte Krimi-Formel ›Wer hat’s getan?‹ auf den Kopf. ›Was ist gestorben?‹ lautet die Frage hier, und Parkes konfrontiert seinen Helden mit einer Welt, in der Wissenschaft korrumpierbar und Wunderbares möglich erscheint. Kayo soll einen Tatverlauf konstruieren, der mit den gesicherten Beweismitteln übereinstimmt, doch beim Palmweintrinken mit den Dörflern erfährt er eine Geschichte, die die Herkunft des Dings in der Hütte auf fantastische Weise erklärt.

Geschichten, die Weisheit der Alten, die Macht der Mythen – das sind Schlüsselbegriffe in diesem Kriminalroman von Nii Parkes. Er lässt in seinem mit Wortwitz und Verve geschriebenen Buch zwei Lebenswelten kollidieren: die rasende, postkoloniale Realität des urbanen Ghana, mit ihrem Kapitalismus, der Korruption, den hilflos strampelnden Armen, arroganten Reichen und desillusionierten Rückkehrern; und die Welt der Dorfgemeinschaft, in der Tradition, Autoritäten und Magie noch lebendig sind.

Parkes schreibt voller Humor und voller Liebe für seine Figuren und für die eigenwilligen Charaktere einer archaisch anmutenden Welt. Dabei entwickelt er seine Geschichte dramaturgisch geschickt, beschleunigt sie bis in ein vergnügliches und dabei doch auch weises Finale. So kommt ›Die Spur des Bienenfressers‹ flott, unterhaltsam und gewinnend klug daher – einfach bestens nicht nur für ein Romandebüt.

Nii Ayikwei Parkes ist Schriftsteller, Herausgeber, soziokultureller Kommentator und Performance-Dichter. Er hat einen MA in kreativem Schreiben aus Birkbeck (University of London) und erhielt 2007 den nationalen ACRAG-Preis Ghanas für Poesie und literarische Interessensvertretung. „Die Spur des Bienenfressers“ war 2010 in der engeren Auswahl des Commonwealth-Preises. Parkes Werk wurde auf italienisch, französisch, chinesisch, niederländisch, deutsch und arabisch übersetzt. Seine neuesten Gedichtbände sind die Broschüre „Ballast: a remix“ (2009) und „The Makings of You“ (Peepal Tree Press).

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Literatur

Der dunkle Fluss

Der dunkle Fluss
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Eine poetisch feinfühlige Allegorie auf einen von Gewalt heimgesuchten Ort

Benjamin und seine drei Brüder sind kluge, abenteuerlustige Kinder, die durch die Straßen ihres Heimatortes im Westen Nigerias ziehen und sich mit Spielereien und viel Fantasie die Zeit vertreiben. Solange ihr Vater im Haus ist und streng über sie wacht, haben sie eine geordnete und glückliche Kindheit. Als das Familienoberhaupt jedoch zum Arbeiten in eine andere Stadt versetzt wird, befreien sich die vier Jungen aus den väterlichen Fesseln und erkunden als Fischer einen verbotenen, gefährlichen Fluss am Rande der Stadt. Die Fische, die sie dort fangen, sind Vorboten der epischen Tragödie, die sich fortan entfaltet.

Der Omi-Ala war ein grausamer Fluss. Lange Zeit war er von den Bewohnern Akures vergessen worden, wie eine Mutter, die von ihren Kindern verlassen wird. Früher einmal war er ein klarer Fluss gewesen, der die ersten Siedler mit Fisch und sauberem Trinkwasser versorgte. Wie viele andere Flüsse in Afrika hielten die Menschen den Omi-Ala für einen Gott und beteten ihn an. Sie errichteten Gedenkstätten in seinem Namen und bemühten sich um die Gunst und den Rat Yemayás, Oshas, von Meerjungfrauen und anderen Wassergeistern und Göttern. Das änderte sich, als die Kolonialisten aus Europa kamen und die Bibel einführten und die zu Christen bekehrten Anhänger Omi-Alas sich von ihm abwendeten und ihn fortan als Wiege des Bösen betrachteten.Und so wurde er zur Quelle düsterer Gerüchte. Unter anderem hieß es, an seinen Ufern würden seltsame Rituale begangen. Die Rede war von Leichen, Tierkadavern und anderen Opfergaben, die auf dem Fluss trieben oder an seinen Ufern lagen.

Wir wussten, dass unsere Eltern uns schwer bestrafen würden, sollten sie jemals dahinterkommen, dass wir zum Fluss gingen. Trotzdem machten wir uns keine Gedanken darüber, bis eine Erdnussverkäuferin aus der Nachbarschaft uns auf dem Weg dorthin entdeckte und Mutter davon berichtete. Das war Ende Februar, und wir waren seit fast sechs Wochen am Fischen. An diesem Tag hatte Solomon einen großen Fisch geangelt. Wir sprangen auf, sahen zu, wie er sich am Haken wand, und stimmten das Fischerlied an, das Solomon sich ausgedacht hatte und das wir immer in Momenten wie diesen sangen.Es war die abgewandelte Version eines bekannten Liedes, gesungen von der ehebrecherischen Frau von Pastor Ishawuru – der Hauptfigur der in Akure damals beliebtesten christlichen Fernsehserie 'The Ultimate Power' –, nachdem sie für ihre Sünde verbannt worden war. Solomon hatte zwar die Idee dazu gehabt, aber die Vorschläge für den Text kamen eigentlich von uns allen. Boja zum Beispiel änderte 'Wir haben dich erwischt' in 'Die Fischer haben dich erwischt' um. Wir ersetzten die Kraft Gottes, sie vor den Versuchungen des Teufels zu bewahren, durch unsere Kraft, einen Fisch zu fangen und nicht entwischen zu lassen. Wir hatten so viel Spaß mit dem Lied, dass wir es manchmal sogar zu Hause oder in der Schule summten.

Das vielbeachtete Debut des in den USA lebenden Nigerianers Chigozie Obiama sollte man unbedingt lesen. Obiama erschafft vor der düsteren Kulisse einer bösen Prophezeiung und eines Strudels der Gewalt eine poetische und wunderschön komponierte Geschichte über Loyalität, geschwisterliche Liebe, Verlust und Trauer, Heilung und Gemeinschaft.

Das Buch wurde in 26 Sprachen übersetzt und mehrfach ausgezeichnet, unter anderem stand es auf der Shortlist für den Man Booker Prize. Zahlreiche Medien weltweit wählten das Buch auf ihre jeweiligen Bestenlisten des Jahres 2015, darunter das Wall Street Journal und die New York Times. Die Deutsche Welle führte es im April 2015 als Buchempfehlung des Monats und der Guardian nannte Der dunkle Fluss mit Abstand den besten Debütroman 2015.

Obioma wurde 1986 in Akure in Nigeria geboren. Wenn euch interessiert, wie er über sein eigenes Buch spricht, guckt euch das Interview mit ihm auf TVC Africa an:

Darin sagt er unter anderem, dass die Geschichte Der dunkle Fluss auch eine Metapher für die Kolonisierung Afrikas ist:

Zu Beginn des Romans hatten die Jungs Ambitionen. Obembe zum Beispiel wollte Anwalt werden, bis der Verrückte ins Spiel kam. Es ist also eine Metapher dafür, was passiert, wenn eine äußere Kraft von außen kommt und die Einigkeit stört.

In einem Artikel in der New York Times erzählt Obioma, wie er über das Geschichtenerzählen seines Vaters zum Lesen kam:

Mein Vater war ein begnadeter Geschichtenerzähler. Im Krankenhaus erzählte er mir die eine oder andere Geschichte, oder, wenn er nicht zu müde war, manchmal auf mein Bitten hin auch viele. Ich versuchte, mir die Welten vorzustellen, die sich durch seine sorgfältig gewählten Worte entfalteten. Wenn er zum Beispiel die Geschichte des ersten weißen Mannes erzählte, der auf dem Fahrrad in Igboland ankam, gab er Fahrradgeräusche von sich, stampfte mit den Füßen und keuchte. Er verlieh diesen Geräuschen so viel Angst, so viel Bedeutung, dass mir noch Tage danach lebhafte Bilder in Erinnerung blieben. Diese Momente waren so fesselnd, dass ich manchmal den Wunsch hatte, meinen Krankenhausaufenthalt zu verlängern.

Die Website des Autors findet ihr unter chigozieobioma.com

Dort findet ihr auch Informationen über seinen 2019 erschienenen Roman „Orchestra of Minorities“. Für diejenigen, die Englisch können, ist auch Obiomas Stadtporträt von Lagos im Guardian sehr lesenswert:

The Guardian

Booker prize nominee Chigozie Obioma loves Lagos, but shares the centuries-old fear that it may ‘spoil’. With 2,000 new people arriving every day, the city faces its toughest challenge yet

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