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Afrotopia

Der senegalesische Ökonom Felwine Sarr formuliert neue Zukunftsmetaphern für Afrika

Heute mal etwas aus der Reihe tanzend, denn hierbei handelt es sich nicht um Belletristik, möchten wir euch ein großartiges Sachbuch vorstellen: Afrotopia von Felwine Sarr. Sarr ist Musiker, Schriftsteller und Ökonomieprofessor an der Uni Gaston Berger in Saint-Louis im Senegal, und gilt als einer der aktuell meistdiskutierten Denker:innen Afrikas. Spätestens, seit er im Jahr 2018 mit der französischen Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy im Auftrag des französischen Präsidenten Emmanuel Macron einen Bericht zur Rückgabe afrikanischer Kulturgüter verfasste, hat er sich auch als wichtiger Impulsgeber in hiesigen Debatten um Dekolonisierung, Erinnerungspolitik und das Verhältnis zwischen europäischen und afrikanischen Ländern etabliert.

Da „Afrika“ noch immer mit Stereotypen behaftet ist, die Unterentwicklung und Armut hervorheben und an westlichen Fortschrittsmaßstäben gemessen werden, selbst wenn diese sich selbst längst als zerstörerisch erwiesen haben, arbeitet sich das Buch zunächst an dem europäischen Fortschrittsmythos ab, dessen Ausdruck „Entwicklungpolitik“ afrikanische Gesellschaften für ein uneinlösbares Wohlstandsversprechen zerstört habe.

Durch eine afrikanische Stadt wie Lagos, Abidjan, Kairo oder Dakar zu gehen, ist in erster Linie ein sinnliches und kognitives Erlebnis. Der Rhythmus der Stadt erfasst einen augenblicklich. Vitalität, Kreativität und Energie tosen durch die Straßen, Chaos und Ordnung machen einander den Raum streitig; Vergangenheit, Gegenwart und die Umrisse der Zukunft existieren nebeneinander. Man spürt instinktiv, wie nutzlos, abstrakt und begrenzt die auf der jährlich erzeugten Wertschöpfung (dem Bruttosozialprodukt) beruhenden Indikatoren und Wohlstandsrankings sind. Das Leben, der Puls der Gesellschaft, die Intensität des sozialen Austausches, Beziehung zum eigenen Umfeld, Zufriedenheit oder Unzufriedenheit, das Gefühl der Ganzheit, nichts davon lässt sich in solchen Statistiken fassen. Das Leben in diesen Räumen, die dortige Anwesenheit lässt einen jede Vorstellung von vergleichender Bewertung verlieren: Was sagt es schon aus, dass es in New York mehr Brücken oder Schnellstraßen gibt als in Abidjan?

Die Aufgabe, Afrika neu zu denken besteht daher für Sarr darin, den Kontinent so anzunehmen, wie er ist, und nicht wie er zu sein hat. Sarr hinterfragt den Westen als vermeintlichen Urheber der Moderne wehrt sich gegen die Bagatellisierung afrikanischer Wirtschaftsgeschichte. Für ihn steckt Afrika in dem Versuch fest, Europa anhand von fremden Maßstäben und Werten zu kopieren und kehrt sich dabei von allem ab, was Afrikaner:innen ausmacht. Die westliche Mainstream Ökonomie rechne nicht mit dem Menschenbild des Homo Africanus, dessen „Logiken der Ehre“, „Umverteilung“, „Subsistenz und Gabe“ ihn vom Homo Oeconomicus abgrenzten.

Dieses Afrika, das ist und das wird, ist vielgestaltig. Seine Vernunft hat viele Gesichter. Es hat seine Welten nicht entzaubert, das spirituelle Leben ist noch lebendig und reich. Seine Religionen, seine Musiken, seine Künste, seine Städte, die Beziehung zu sich selbst, zum eigenen Körper, seine Gegenwart in der Zeit bezeugen diese alltägliche Selbstfindung.

Süddeutsche Zeitung

Vor rund 50 Jahren wurden die letzten europäischen Kolonien in Afrika in die Unabhängigkeit entlassen. Doch obwohl sie seit Jahrzehnten politisch und wirtschaftlich autonom sind, stecken viele der Länder in einer Dauerkrise. Diese Krise wiederum, so Sarr, bestätigt und aktualisiert laufend die uralten Stereotypen von Afrika als einem finsteren, katastrophischen Ort und vom Afrikaner als minderwertigem Menschen, der sich selbst nicht zu helfen weiß – das Bild also, das bei den Europäern maßgeblich dazu beitrug, Sklavenhandel und Kolonialismus zu legitimieren.

Afrotopia von Felwine Sarr ist im Matthes und Seitz Verlag erschienen.

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