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You will die at 20 und der Adichie Moment, der nicht kam

You will Die at Twenty und der Adichie Moment, der nicht kam
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von Zeena Mubarak

Ich bin mehr als bereit für Geschichten, die dem verlorenen kleinen sudanesischen Mädchen in den USA, das ich einst war, eine Vorlage dafür geben können, sich selbst zu lieben.

Ich wuchs als sudanesisches Kind in den USA auf. Wenn wir dort Fantasiespiele spielten, waren die Charaktere, die ich mir ausdachte, immer weiß und ich hatte wenig Grund zu glauben, dass sie etwas anderes als weiß sein könnten. Ich sah nur selten Afrikaner:innen in den Medien, und wenn, dann nur in Wohltätigkeitsspots, in denen traurige Kinder ihre Hände ausstreckten und in denen im gleichen Ton wie über verletzte Welpen gesprochen wurde. Die weißen Charaktere aus meinen Büchern und aus den Filmen, die mein geistiges Auge prägten, konnten in die Welt hinausziehen und Abenteuer erleben. Aber das Mädchen, das ich im Spiegel sah, lebte ohne Ankerplatz und konnte nirgendwo hin.

Die Reisen meiner Familie in den Sudan jeden Sommer waren mein jährliches Highlight. Der Sudan war Freiheit; die Tage lang, an denen ich mit meinen Cousinen, die wie Schwestern für mich waren, der in den USA allgegenwärtigen Aufsicht Erwachsener entkommen konnte. Der Sudan war auch Stabilität; das Haus meines Großvaters stand dort, seit meine Mutter klein war, und unterschied sich so sehr von den vielen Wohnungen und Häusern, zwischen denen wir in Amerika hin- und herzogen. Aber in meinem übrigen Leben gab es keine Worte, um die großen Flachdachhäuser zu beschreiben, die mit wechselnder Besetzung von „nahen“ Verwandten gefüllt waren, deren Gesichter ich nicht immer erkannte, deren Liebe zu mir aber immer spürbar war.

Wenn wir in die USA zurückkehrten, schrumpfte der Sudan gezwungenermaßen auf die Größe unseres Hauses zusammen. Niemand da draußen hatte je von einem solchen Land gehört, wenn er nicht mit dem Darfur Konflikt vertraut war. In dem Afrika, das wir in den USA repräsentiert sahen, gab es keine Freude, sondern nur unendlich große, unstillbare Bedürftigkeit. Und natürlich führte kein Weg daran vorbei, dass ich als Teenager mit meiner dunklen Haut, mit dem unverständlichen Essen auf unserem Tisch und meiner unüberwindbaren Andersartigkeit weniger glücklich war.

Das begann sich zu ändern, als wir im Englischunterricht The Thing Around Your Neck von der nigerianischen Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie durchnahmen. Es war umwerfend. Afrika im Englischunterricht! Afrika gerettet aus den traurigen Fußnoten im Sozialkundeunterricht! Dass die Worte von Adichie, einer Afrikanerin, im selben Klassenzimmer gelehrt wurden, in dem wir Shakespeare und Fitzgerald lernten, bedeutete mir alles. Ich erinnere mich, dass ich beim Durchblättern ihrer Kurzgeschichten dachte: „Ich kenne dieses Mädchen, ich kann dieses Haus sehen.“ Obwohl ihre Figuren auf der anderen Seite des Kontinents lebten, auf der anderen Seite des Landes, das ich kannte, erkannte ich mich und meine Familie auf den Seiten wieder. Mir wurde bewusst, wie abwesend wir von allem um mich herum gewesen waren.

Cover der deutschen Übersetzung von "The Thing around your neck"

Als ich im dunklen Kinosaal und darauf wartete, dass You Will Die at Twenty begann, den sudanesischen Film, der letzte Jahr rausgekommen war, war ich sicher, vor einem weiteren Adichie Moment zu stehen – nur noch besser, denn mein eigenes Land, nicht nur mein Kontinent, würde dargestellt werden. Stattdessen hat mich das, was folgte, am Boden zerstört.

You Will Die At Twenty erzählt die Geschichte von Muzamil, einem jungen Mann, der in einem ländlichen sudanesischen Dorf lebt. Bei seiner Geburt wird prophezeit, dass er im Alter von 20 Jahren sterben wird, eine Vorhersage, die seine Familie zerstört. Sein Vater flieht, um im Ausland nach Arbeit zu suchen, während seine Mutter ihre Zeit damit verbringt, die Tage bis zu seinem Tod zu zählen. Muzamils Schulkameraden meiden ihn und nennen ihn „Sohn des Todes“. Als junger Erwachsener steht er nur noch seiner Jugendliebe Naima nahe und hat sein Schicksal passiv akzeptiert.

Erst als Suleiman ins Spiel kommt, ändern sich die Dinge. Diese Figur, die nach langer Abwesenheit nach Hause zurückkehrt, steht für die Einführung westlicher Werte in das statische sudanesische Dorf. Suleiman stellt den Glauben Muzamils in Frage, indem er ihn in den Verkauf von geschmuggeltem Alkohol verwickelt. Er führt ihn durch die Vorführung sexuell provokanter Filme in die Außenwelt ein. Er setzt Muzamils Auflehnung gegen den Aberglauben in Gang.

Im Gegensatz zu Suleiman tun die anderen Dorfbewohner:innen nichts, um zu helfen. In einer Szene geht Muzamil nach Hause und trifft seine Mutter Sakina und andere Frauen an, die seine Beerdigung vorbereiten. Selbst diejenigen Dorfbewohner:innen, die Zweifel am Aberglauben der Mutter äußern, tun wenig, um sie aufzuhalten. Somit macht sich die gesamte Gemeinschaft an Muzamils Elend mitschuldig. Die einzige Ausnahme ist der verwestlichte Retter Suleiman.

An You Will die at Twenty stieß mir so vieles bitter auf – nicht zuletzt die Entscheidung des Dores, sich auf die Seite von Sakina zu stellen. Die sudanesischen Gemeinschaften in den USA und im Sudan, denen ich angehöre, kümmern sich umeinander. Wann immer ich etwas brauche, gibt es einen Cousin, einen Freund, einen Nachbarn, der bereit ist, mir eine Unterkunft, eine Fahrt zum Flughafen, ohne Fragen eine Schulter zum Ausweinen zur Verfügung zu stellen. Als mein Grossvater starb, fuhr mich ein Schulfreund meines Vaters mehrere Stunden nach Hause. Der Cousin meines Vaters flog letztes Jahr zu meiner Hochzeit im Sudan ein, obwohl Wochen zuvor in der Nachbarstadt Massaker stattgefunden hatten. Wo waren also Muzamils Cousins? Wo waren diejenigen, die ihn in jeder sudanesischen Gemeinde, die mir untergekommen ist, bis zum Tod verteidigt hätten, anstatt zuzusehen, wie seine Mutter ihn zugrunde richtet?

Es ist ganz eindeutig, dass der Film für ein westliches Publikum gemacht wurde. Das wird schon klar in der Botschaft, dass Afrika sich nicht ohne europäische Anleitung weiterentwickeln kann und auch in seinen visuellen Referenzen, wie etwa den ständigen Parallelen zwischen Sakina und christlichen Darstellungen der Jungfrau Maria. Meinem Mann, der im Sudan aufgewachsen ist, sind diese Anspielungen entgangen, denn sie waren nicht für ihn bestimmt.

Diese westliche Ausrichtung war vielleicht nicht überraschend, da der Film teilweise von französischen und deutschen Produktionsfirmen finanziert wurde. Aber wenn er sich an ein westliches Publikum richtet, hat er eine noch größere Verantwortung, schädliche Stereotypen in Frage zu stellen. Wir leben in einer Welt, in der der britische Premierminister geschrieben hat, dass das Problem Afrikas darin besteht, „dass wir [Europäer:innen] nicht mehr das Sagen haben“. Wir haben einen US-Präsidenten, der die afrikanischen Nationen für „shithole countries“ hält. Beide Männer glauben, dass Afrikaner:innen der Welt nichts zu bieten haben und vor sich selbst gerettet werden müssen.

Fiktion kann solche falschen Narrative aufbrechen. Stattdessen hat You will die at Twenty alles daran gesetzt, sie zu verstärken. Es gab jedoch keinen Grund, das zu tun: Muzamil hätte in seiner Liebe zu Naima, in der Rückkehr seines Vaters oder in der Koranschule, die seine erste Zuflucht vor seiner Mutter war, Empowerment finden können. Er hätte auch von Suleiman etwas lernen können, aber nur in einem Pozess, in dem dieser auch etwas von ihm lernt.

Africa is a country

Dieser Artikel von Zeena Mubarak erschien im Original bei Africa is a country unter dem Titel „You will Die at Twenty and the Adichie moment that never came“.

Obwohl ich den Großteil meines Lebens in den USA verbracht habe, habe ich festgestellt, dass meine wahre Stärke in den Werten liegt, die meine Mutter an mich weitergegeben hat – mein Glaube, meine Loyalität, meine Wertschätzung von Gemeinschaft. Diese Werte sind vielleicht weniger traditionell westlich, aber es gibt nichts, was mit der westlichen Gesellschaft unvereinbar ist. Tatsächlich sind sie es, die meinem täglichen Leben hier in den USA einen Sinn geben.

Mein jugendliches Ich konnte nicht anders, als die mediale Botschaft zu schlucken, dass alles Afrikanische schwach sei, und war unendlich unglücklich. Ich verbrachte ganze Nächte auf dem Boden meines Kinderzimmers, fühlte mich eingesperrt in meinem Körper.

Erst später am College – als ich begann, alleine in den Sudan zu reisen, mich in eine muslimische Gemeinschaft in den USA zu integrieren und mich nicht mehr durch mein afrikanisches Erbe zurückgeworfen fühlte – wurde ich glücklich. Mir wurde klar, dass ich meinem Sudanesischsein nicht entkommen kann, sondern dass es etwas ist, dass ich ganz und gar bejahen und annehmen will.

Als mein Mann und ich nach You Will Die at Twenty das Kino verließen, überkam uns die Empörung. Es fühlt sich an, als wären wir zurückversetzt worden in meine Kindheit, als das einzige Narrativ, das wir von Afrika sahen, das von Afrika als Problem, auf das nur der Westen eine Antwort sei, war. Ich bin mehr als bereit für Geschichten, die frei von westlich geprägten Retterinnen und Rettern sind. Geschichten, die nicht nur über Afrikaner:innen, sondern für Afrikaner:innen gemacht sind. Geschichten, die dem verlorenen kleinen Mädchen, das ich einst war, eine Vorlage für die Liebe zu sich selbst geben könnten.

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Fotografie Mode & Design

Ngadi Smart

Ngadi Smart
Liebe, Identität und Sexualität durch die afrikanische Linse

Die Fotografin, Illustratorin und bildende Künstlerin Ngadi Smart will mit ihren Arbeiten die Repräsentation afrikanischer Menschen in der Kunst erhöhen und die Komplexität afrikanischer Existenzen zeigen. Dabei konzentriert sie sich auf Themen wie kulturelle Identität, Sexualität und Sinnlichkeit, sowie Feminismus und Machtdynamiken zwischen den Geschlechtern.

Schon viel zu lange sind Schwarze Körper in der Kunstwelt Gegenstand von Exotik und Entmenschlichung. Es gibt eine offensichtliche Verschiebung des Interesses an Black Pride und African Pride Dank der Generation junger Kreativer, die derzeit vom Kontinent kommt. Als afrikanische Kreative haben wir jetzt die Mittel, unsere eigene Geschichte zu erzählen, und zwar auf unsere eigene Art und Weise.

In ihren Illustrationen, die sie zum Beispiel für Atlantic, Time Out London, Eastpak oder für Verlage wie Penguin’s Riverhead Books in New York und Faber’s Children in London angefertigt hat, geht es ihr um die Darstellung der kulturellen Identität von Minderheiten, um rassistische Diskriminierung sowie um Themen wie Feminismus und Geschlechterrollen. Dadurch möchte sie gängige Bilder von Normalität und Schönheit aufbrechen.

Me, first - Collagen

In der Austellung Virtues and Vices im Giftraum Berlin stellte Smart drei Arbeiten aus ihrer Serie Me, first aus. Das Thema der Ausstellung war die Erforschung von Beziehungen der Künstler:innen zu verschiedenen Objekten, Waren oder Verhaltensweisen und die Art und Weise, wie diese im Alltag als Bewältigungsmechanismus eingesetzt werden. In Smarts Collagen geht es um die Beziehung, die Frauen mit der Selbstfürsorge haben, insbesondere durch Sexualität und das weibliche Vergnügen mit sich selbst, da sie der Meinung ist, dass dies nicht ausreichend dargestellt wird.

Aus der Serie Me, first © Ngadi Smart

Queens of Babi

In Smarts Fotografien liegt der Schwerpunkt auf der Dokumentation von Kulturen, Subkulturen und Intimität. In ihren Arbeiten thematisiert sie häufig die Selbstidentifikation von Menschen und die Art und Weise, wie sie sich vor der Kamera präsentieren. In jüngster Zeit rücken auch Themen von Körperlichkeit und SInnlichkeit aus afrikanischer Perspektive mehr in den Fokus. Ihre Fotografien wurden bei CNN, dem British Journal of Photography, der Vogue Italia, dem Atmos Magazine und dem I.D Magazine veröffentlicht.

Smarts Würdigung der Nuancen westafrikanischer Identität findet sich auch in der Serie Queens of Babi über die underground Drag-Community von Abidijan wieder. Da LGBTIQ+ in der Elfenbeinküste kaum akzeptiert werden, trafen sich die Mitglieder der dortigen Drag-Community bis 2018 in einer geheimen Bar, um Drag-Bälle abzuhalten – bis die Veranstaltungen wegen zu großer Widrigkeiten eingestellt werden mussten.

Queens of Babi zeigt Kesse Ane Assande Elvis Presley, für Freunde als „Britney Spears“ bekannt, und Mohamed alias „Baba“, paradierend in prächtigen Kostümen, die sie selbst entworfen und hergestellt haben.

Aus der Serie The Queens of Babi © Ngadi Smart

„Die Berichterstattung über LGBTIQ-Gemeinschaften in den franko-afrikanischen Gesellschaften ist nicht leicht und allgemein zugänglich“, sagt Smart im British Journal of Photography. „Eine der Besonderheiten in Westafrika ist, dass die Mobilisierung von LGBTIQ auf kommunaler Ebene relativ neu ist. In Abidjan gibt es dafür keine richtigen Organisationen, und die Mitglieder, die ich fotografiert habe, sagten mir, dass sie aus Angst, überfallen zu werden oder ihr Leben zu verlieren, oft nicht in bestimmte Stadtviertel gehen konnten.“
Smarts Mission ist es also, die Art und Weise zu verändern, wie afrikanische Identitäten – in all ihrer Vielfalt – wahrgenommen, akzeptiert und geschützt werden.
Queens of Babi zeigt Kesse Ane Assande Elvis Presley, für Freunde als „Britney Spears“ bekannt, und Mohamed alias „Baba“, die in prächtigen, selbstentworfenen und hergestellten Kostümen paradieren.

British Journal of Photography

Reversing cultural erasure in the work of Ngadi Smart – In the latter half of 2019, unprecedented flooding consumed the streets and homes of Grand-Bassam — Ivory Coast’s first colonial capital, now listed as a UNESCO World Heritage Site…

The Future We Want

C40 Cities beauftragte Smart und acht andere Künstler:innen, ihre Vision einer grünen und gerechten Genesung von COVID-19 zu zeigen. Ngadi Smart sagte zu ihrer Inspiration für die Illusrtation: „Die Zukunft, die ich mir wünsche, ist eine, in der jeder Einzelne den anderen in Betracht zieht. Aufgrund der Natur dieser Pandemie sind die Menschen in Bezug auf gesundheitliche (und soziale) Fragen in drastische Gegensätze geraten. In meiner Zukunft trägt jeder Masken und kümmert sich um den anderen, unabhängig von Herkunft oder Rasse. Umweltbewusste Menschen sind gerne bereit, andere, die nicht so stark sind, anzuleiten, um ihr Wissen über den Erhalt der Natur und deren Bedeutung zu vermitteln. Die Verbindung mit anderen und der Gemeinschaftssinn sind die wichtigste Währung“.

The Future We Want © Ngadi Smart

Ngadi Smart lebt in London und Abidjan.
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Film Verschiedenes

Der Entzauberung ins Auge blicken

Der Entzauberung ins Auge blicken
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von Haythem Guesmi

Die Geschichte Afrikas beinhaltet das ständige Navigieren zwischen utopischer Vision und brutaler Realität, wie die jüngsten Arbeiten des ägyptischen Filmemachers Tamer el-Said und zuvor auch die des Schriftstellers Ayi Kwei Armah zeigen.

Ein permanenter Daseinszustand

Entzauberung hat irgendwie etwas an sich, das sie zu etwas besonders Afrikanischem macht. Afrikaner und Afrikanerinnen haben in einer long durée gelebt, die so alt ist wie das Leben selbst. Das bedeutet, dass sie unendlich oft mit ansehen mussten, wie ihre Hoffnungen und Träume erfüllt, dann zerschlagen, erprobt und verworfen wurden. Entzauberung wird zu einem permanenten Daseinszustand, den Afrikaner:innen gut kennen und dem sie direkt ins Gesicht sehen können.

Jedes Mal, wenn ein Projekt des aufrichtigen sozialen Wandels scheitert, wird dieser enttäuschende Zustand der Entzauberung sichtbar. Nach den afrikanischen Unabhängigkeitsbewegungen und dem Arabischen Frühling verwandelte sich die Euphorie, wieder frei zu sein und von den unendlichen Möglichkeiten zu träumen, die die Zukunft bietet, schließlich langsam und stetig in eine trostlose Realität von Korruption, Elend und Tod. Doch die Erinnerung an diese euphorischen Erlebnisse ist nach wie vor so intensiv, dass ein starkes Gefühl der Sehnsucht wie ein utopischer Puls auf dem Kontinent nachschlägt.

Der janusartige bildliche Ausdruck von Entzauberung und Hoffnung definiert und prägt noch immer die afrikanische Kunst. Im Abstand von fast 50 Jahren bieten Tamer el-Saids Film In the Last Days of the City (2016) und Ayi Kwei Armahs Roman The Beautyful Ones are not yet born (1968) fast identische Dramatisierungen dieses afrikanischen Zustands – und lösen damit aktiv die afrikanische Moderne aus dem lähmenden Diskurs des Afropessimismus.
In the last days of the city begleitet den männlichen Protagonisten Khaled (Schauspieler Khalid Abdalla), der desillusioniert ist über das trostlose Schauspiel eines Kairos, das am Rande des völligen Zusammenbruchs steht. El-Saids Debütfilm, der schon 2009 gedreht wurde, verwebt fiktionale und nicht-fiktionale Elemente, um im Rückblick einen düsteren Blick auf die letzten Tage von Hosni Mubaraks autoritärem Regime zu werfen, das durch die Revolution von 2011 gestürzt wurde. Er lenkt die Aufmerksamkeit auf die sich verschlechternde Situation unter der gegenwärtigen brutalen Herrschaft von Mubaraks Nachfolger Abdel Fattah el-Sisi zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Films im Jahr 2016.

In the last days of the city zeigt Khaleds Alltag und seine Suche nach einer neuen Wohnung in der Innenstadt von Kairo, seine häufigen Besuche bei seiner sterbenden Mutter, die Trennung von seiner Liebe Laila, seine Unfähigkeit, über die künstlerische Leitung seines Dokumentarfilmprojekts zu entscheiden, und seine entfernte Freundschaft mit anderen arabischen Filmemachern aus Beirut, Bagdad und Berlin. Er fühlt sich von sich selbst, seinem Volk und seiner Stadt zutiefst entfremdet. Das zeitgenössische Kairo ist eine monströse Stadt, die ihre Bewohner:innen aussaugt: Versagen, Krankheit und Tod werden zu der Ästhetik, um die herum das Leben von Khaled und allen in seiner Nähe gestaltet wird.

Die Schönen sind noch nicht geboren worden

Fast 50 Jahre zuvor machte Ayi Kwei Armahs Enttäuschung über Kwame Nkrumahs Ghana The Beautyful Ones Are Not Yet Born zu einem perfekten Beispiel für das, was Joe E. Obi Jr. den Desillusionierungsroman nannte. Armahs Debütroman erschien 1968, zwei Jahre nach dem Staatsstreich, der Nkrumahs Regierung stürzte, und elf Jahre, nachdem Ghana als erstes subsaharisches Land unabhängig wurde. Er schildert rückblickend die ernüchternde Realität von Nkrumahs Autoritarismus und seine schrecklichen Auswirkungen auf Accra und dessen Bevölkerung.

The Beautyful Ones spielt in den letzten Tagen von Nkrumahs Herrschaft und schildert den unerträglichen Alltag eines namenlosen Protagonisten, der sich weigert, sich am System der zügellosen Bestechung und Gewalt zu beteiligen. Er ist entfremdet von seinem sinnlosen Job, seiner schmutzigen Umgebung und sogar von seiner Familie, als er sich zunächst weigert, sich an einer korrupten Transaktion zum Kauf eines Fischerbootes zu beteiligen, die seiner Frau Oyo, seiner Schwiegermutter und Koomsoon, einem alten Freund, der zum korrupten Minister in Nkrumahs Regierung wurde, zugute käme. Der Unbekannte ist ein blasser Erzähler-Protagonist, der verzehrt wird von einem lähmenden Bewusstsein über die Aussichtslosigkeit einer Suche nach Schönheit, Moral und Wahrheit unter solch dystopischen Bedingungen.

Das Cover der Erstausgabe von The Beautyful Ones...

Sowohl The Last Days als auch The Beautyful Ones handeln von passiven Protagonisten, die sich nicht mit der zerfallenden Gesellschaft, in der sie leben, und der Unmöglichkeit, in  ihrem persönlichen Leben und der korrupten Welt um sie herum Veränderungen herbeizuführen, versöhnen können. Sowohl Khaled als auch der namenlose Protagonist sind hinsichtlich ihrer Wünsche und Erwartungen ambivalent, ständig von ihrer Unfähigkeit überwältigt und schließlich unfähig, eine kohärente Vision davon zu entwickeln, wie Emanzipation aussehen könnte. Sowohl Khaled als auch der namenlose Mann treiben in einem desinteressierten Halbschlaf und auf zielloser Reise durch ihre Städte. Ein tiefes Gefühl der Entfremdung und Frustration stellt die Möglichkeit in Frage, ihre Wanderung als bloße flânerie zu betrachten.
Ihre Unfähigkeit, mit der Welt um sie herum zu resonieren, wird kontrastiert durch die Überfrachtung mit Eindrücken, Gefühlen und Klangbildern, die durch die wiederkehrende Metapher des alles durchdringenden Auges unter narrative Kontrolle gebracht werden. Während sie in ihren Städten umherwandern, fesselt jeder Anblick von dem, was ihnen ungewohnt geworden ist, die Protagonisten in einem hoffnungslosen Versuch zu begreifen, was mit ihren Ländern und Mitmenschen geschehen ist.

Africa is a Country

Dieser Artikel von Haythem Guesmi erschien im Original bei Africa is a Country unter dem Titel „Looking disenchantment in the face“ .

Eine fremde, aufgezwungene Metapher

Für el-Said und Armah trägt die Entzauberung in sich die Besessenheit, das Skandalöse und das Niederträchtige durch einen langsamen, fragenden Blick zu betrachten. The Last days präsentiert Kairo als einen negativen Raum des Verfalls und des Verlusts durch lange Aufnahmen von mittellosen, zahnlosen Bettler:innen und mehrere Szenen, in denen der Schwerpunkt auf dem Auseinanderfallen von Häusern und baufälligen Gebäuden liegt. The Beautyful Ones ist voller lebhafter Beschreibungen von menschlichem Abfall und Kot. Der namenlose Protagonist bewegt sich von der Darstellung des Überlaufens von Exkrementen über „rundherum verfaulende Dinge drängen nach innen und vermischen alle Körpersäfte mit dem Geschmack der Fäulnis“ bis schließlich zum ersehnten Tod von Koomson, dessen „Mund den reichhaltigen Gestank von verfaultem Menstruationsblut hatte“.

Diese Besessenheit damit, Entzauberung mit Demut zu betrachten, hat wie erwartet heftige Kritik auf sich gezogen. The Last Days wurde zwar nach Veröffentlichung in Ägypten verboten, wurde aber weltweit auf mehr als 120 Filmfestivals gezeigt und erhielt mehr als 12 internationale Preise. Das liegt zum Teil daran, dass el-Saids Film den westlichen Blick anspricht, der Afrika als Ödland sieht: Die wüstengelbe und sepiafarbene Ästhetik, durch die Kairo dargestellt wird, und das Spektakel der urbanen Zerstörung können als Ruinenporno gesehen werden, was das immerwährende Bild Ägyptens und Afrikas im Allgemeinen als trostloser Raum des Verfalls und des Todes verstärkt. Ähnliche Bedenken lassen sich auf Armahs Roman übertragen: Chinua Achebe nannte Armah bekannterweise „einen entfremdeten Schriftsteller mit allen Symptomen“ und ging sogar so weit, The Beautiful Ones als „ein krankes Buch“ zu bezeichnen, das „der Krankheit Ghanas so viele fremde Metaphern auferlegt, dass sie nicht mehr wahr ist“.

Das Aufzwingen einer fremden Metapher geht in beiden Werken tiefer. Das zentrale Wechselspiel zwischen Fiktion und Realität in The Last Days und The Beautyful Ones wird kontraproduktiv und kann das Publikum nicht von seinen Vorzügen überzeugen. In el-Saids Film lässt die Meta-Ästhetik der Bildschirmintervention des Regisseurs in Schnitt und Tempo der 250 Stunden Filmmaterial verschiedene Erzählbögen und die Entwicklung der Charaktere sinnlos und unvollständig. Auch armahs Roman schlüpft abrupt in den Essay-Modus, um langatmige und direkte ideologische und politische Aussagen aufzunehmen. Beide Werke brechen immer wieder aus ihrer fiktionalen Erzählung aus, um sich an einer expliziten und bisweilen irritierenden Kontrolle durch den Autor zu versuchen.

Was Derek Wright in seiner Analyse von Armahs Roman als „eine monolithische Vision“ bezeichnet hat, trifft auf beide Werke zu: Die Verschmelzung der Position des Autors, des Erzählers und des Protagonisten als ein und dieselbe subsumiert die unterschiedlichen Perspektiven, die in den Kunstwerken im Spiel sind, zu der vereinheitlichenden negativen politischen Vision der männlichen Schriftsteller. Dies führt zu einem Scheitern der Vorstellung einer alternativen und generativen Vision der afrikanischen Zukunft.
Die problematischste Dimension in The Last Days und The Beautyful Ones ist jedoch die passive Rolle der Frauen. Wie John Berger in Ways of Seeing schreibt: „Männer handeln und Frauen erscheinen“. Laila und Oyo sind da, um betrachtet zu werden. Sie sprechen kaum und bleiben eindimensional. Im Gegensatz zu den Männern wird nie anerkannt, dass sie die Dinge aktiv selbst in die Hand nehmen, obwohl Laila Ägypten verlässt, um eine bessere Zukunft zu suchen, und Oyo versucht, den Deal mit Koomsoon-Abkommen zur Verbesserung ihrer Lebensbedingungen abzuschließen.

Stattdessen sind beide Frauen auf die Rolle beschränkt, den männlichen Protagonisten zu helfen, sich mit sich selbst zu versöhnen. Lailas Besuch in Khaleds Wohnung und ihre durch einen letzten Kuss wiedererwachte Liebe retten den männlichen Protagonisten vor sich selbst und vor der Verzweiflung. In der letzten Szene der Endzeitszene bleibt der starke Eindruck zurück, dass Khaled einen Selbstmordversuch am Fenster wagte, sich aber wegen seiner erneuerten Hoffnung diesem Todestrieb widersetzte. In The Beautyful Ones verliebt sich der Mann nach einer geschlechtslosen Ehe und einer Abstoßung gegenüber Oyos Narbe aus ihrem Kaiserschnitt wieder in seine Frau, nur wegen ihres neu entdeckten Respekts für seine moralische Ehrlichkeit, nachdem er sich weigert, mit Koomsoon zu fliehen, was den männlichen Protagonisten dazu bringt, sich eine bessere Zukunft vorzustellen. Diese beiden Ereignisse ermöglichen schließlich den Abschluss beider Werke, wobei die Beiträge der Frauen im Wesentlichen darauf abzielen, die Ängste der Männer zu lindern.

Die revolutionäre Kraft

Entzauberung unterscheidet sich jedoch von Verzweiflung, und noch mehr von Apathie. In fast jeder Einstellung in The Last days wird an die revolutionären Kräfte erinnert, die später die Diktatur Mubaraks stürzen sollten. Heute wissen wir im Rückblick, dass diese Kräfte besiegt wurden und ein neues brutales Regime herrscht, aber diese Energien werden wieder aufleben und sich in eine weitere Revolution verwandeln, weil Cairos Bewohner:innen bleibende Erinnerungen an bessere, revolutionäre Tage haben. Armahs Roman drückt eine ähnlich hartnäckige Hoffnung auf Freiheit von neokolonialer Unterdrückung aus, wenn am Ende des Romans die neue Regierung verkündet wird und der Mann über ein bezauberndes Kunstwerk nachdenkt: „Die grüne Farbe wurde mit einer sorgfältigen Inschrift aufgehellt, die eine ovale Form bildete: Die Schönen sind noch nicht geboren. In der Mitte des Ovals befand sich eine einzelne Blume, einsam, unerklärlich und sehr schön.“

In diesen und anderen Fällen verkörpert die Entzauberung den ahistorischen und ortlosen Impuls eines utopischen Alltags in Afrika. Entzauberung ist nicht das Ende der Träume; sie ist das Feuer fürs nächste Mal.

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Musik Verschiedenes

Garey Godson

Garey Godson

Ein Gespräch über Schönheit, den Room of Understanding und die Geburtstunde eines neuen Nigerias

Gare Anighoro alias Garey Godson ist ein in Berlin lebender nigerianischer Künstler, Musikproduzent und Creative Writer. Mit seinem von ihm als Afrofusion bezeichneten Sound und seinem unabhängigen Plattenlabel Room of Understanding bahnt er sich abseits von den Erwartungen, die die Musikindustrie an afrikanische Millenials stellt, seinen eigenen Weg zum Erfolg. Mit Akono hat er über die aktuelle Lage in Nigeria, seine künstlerischen Freundschaften in Deutschland und über verschiedene Begriffe von Schwarzer Schönheit gesprochen.

A: Was ist eigentlich genau Afrofusion?

G: Unter Afrofusion verstehe ich einen befreienden und zukunftsweisenden Weg für afrikanische Millennials, sich auszudrücken, ohne notwendigerweise dem Status quo der Erwartungen der Industrie zu erliegen. Es ist eine futuristische Perspektive auf Musik, da sie afrikanische Melodien mit westlichen Einflüssen verschmilzt. Sie kombiniert Rhythmen aus R’n’B, Hip-Hop, Soul & Afro-Beats. Alle diese Musikrichtungen haben im Kern ihre Wurzeln in Afrika, aber was ich meine, ist, dass sie durch westlichen Einfluss rekommerzialisiert wurden. Aber die ursprünglichen afrikanischen Klänge, Farben und Melodien kann man in meiner Musik hören, und man merkt, dass dies nicht amerikanisch und nicht westlich ist, was die Interpretation und den Gesang betrifft. Aber die Produktion ist in gewisser Weise eine Verschmelzung von allem. Sie ist einfach sehr klar oder frei. Mein Album Still I Rise ist von Maya Angelous gleichnamigen Gedicht inspiriert, da es gefühlvoll und rhythmisch ist und Ideen wie Belastbarkeit, Selbstliebe, Stärke und Schönheit bei Afrikaner:innen in der Diaspora und darüber hinaus fördert. Meine musikalischen Einflüsse stammen von internationalen und nigerianischen Künstler:innen wie Jay Z, Lauryn Hill, Nipsey Hussle, Kanye West, Tuface Idibia, T-Pain, Jesse Jags, Odunsi The Engine, Nonso Amadi und Burna Boy.

A: Wie bist du denn bei diesem Sound angelangt? Erzähl uns bitte etwas über deinen musikalischen Werdegang.

Musik war ein wichtiger Teil meiner Erziehung. Mein Vater hatte eine sehr umfangreiche Plattensammlung von internationalen und heimischen Künstler:innen. Bei uns zuhause liefen immer Platten von Fela Kuti, Barry Wonders, Marvin Gaye, Majek Fashek, Prince und Michael Jackson. Ich bin in einem evangelischen Elternhaus aufgewachsen und war als Teenager Mitglied im Kirchenchor. So ungefähr mit 19 Jahren habe ich dann begonnen, mich für Musikproduktion zu interessieren und habe Songs geschrieben, selbst gesungen und für lokale Künstler:innen in Nigeria produziert. Nach meinem Abschluss bin ich nach Europa gezogen und habe an der TU Ilmenau einen Master in Kommunikations- und Medienwissenschaften gemacht. Dort habe ich meinen Freund und Co-Produzenten Hannes alias HKMK kennengelernt. 2018 haben wir zusammen das Plattenlabel Room of Understanding gegründet. Zuerst war es die Freundschaft, die uns zusammengebracht hat, und dann die Musik. Je mehr Zeit wir miteinander verbrachten, desto mehr haben wir verstanden, wie unterschiedlich wir im Sinne unserer kulturellen Erfahrungen sind. Als wir dann beschlossen, gemeinsam Musik zu machen, fingen wir an, offene Konversationen über politische und kulturelle Themen zu sprechen, die uns auf unterschiedliche Art und Weise betrafen. Menschen, die in Deutschland aufgewachsen sind, haben häufig Wissen und eine Haltung, die sie nur ungerne hinterfragen. Ich habe versucht, einige Dinge in Frage zu stellen, und wir haben gemeinsam auf freundschaftliche Art und Weise versucht, voneinander zu lernen. Dieser Raum der Verständigung wurde dann zum Room of Understanding, in dem gemeinsame Musik entstand. Vieles davon durchbricht die Mauern dessen, was die Leute denken, wie wir aussehen oder klingen sollten, und schafft einen Raum, in dem sich Menschen jedes Glaubens oder jeder Sexualität frei fühlen können, sich auszudrücken. Der durchschnittliche Nigerianer wie ich ist auf so viele Arten unterdrückt worden. Vor allem diejenigen von uns, die in Nigeria leben. Aus der Unterdrückung gibt es immer zwei Wege der Flucht: Entweder man wird selbst zum Unterdrücker, wenn man die Gelegenheit dazu hat, oder man versucht, etwas zu tun, um Unterdrückung zu hinterfragen. Ich für meinen Teil will mit meiner Arbeit Dinge hinterfragen und ein positives Beispiel abgeben. Der Room of Understanding wurde deshalb auch geschaffen, um andere aufstrebende Kreative dabei zu unterstützen, ihre Stimme zu finden und ihre Kunst der Welt zu präsentieren.

Zwei Männer
Room of Understanding, HKMK und Garey Godson. Foto: © Max Judge

A: Du hast gerade so ein tolles T-Shirt an, auf dem Afro Beauty steht. Du hast auch einen Text verfasst, der An Ode to the Black Skin heißt. Magst du etwas erzählen über Vorstellungen von Black Beauty, die deine Musik unterfüttern?

Am Gymnasium hatte ich einen tollen Literaturlehrer, der sich gut mit Geschichte auskannte, uns zu Gedichtlesungen und Theatervorstellungen mitnahm und uns in die Welt Schwarzer Schriftsteller:innen wie Léopold Sédar Senghor, Maya Angelou, Wole Soyinka und anderen einführte. Ein wiederkehrendes Thema in deren Werken war das des Schwarzen Stolzes und der Schwarzen Schönheit. Ich hatte das Privileg, etwas über mein kulturelles Erbe zu erfahren und darüber, dass wir vor der Ausbeutung des afrikanischen Kontinents Könige und Königinnen waren. Die Negritude-Bewegung, die im frankophonen und karibischen Raum schon lange vor meiner Geburt begann, half mir, die Tatsache zu begreifen: Black is beautiful. Dieses Wissen gab mir auch einen besseren Einblick in den Beitrag Afrikas zu den globalen Künsten und Wissenschaften.

Es ist ein Privileg, als Künstler die Möglichkeit zu haben, Erzählungen zu definieren und umzugestalten. In Zeiten wie diesen bin ich davon überzeugt, dass Literatur, Musik und Kunst in allen Formen wichtige Werkzeuge für gesellschaftliche Veränderungen sind. Für Schwarze auf der ganzen Welt war dieses Jahr ein Schlüsselmoment für Reflexion und Aktion. Ich glaube, es ist an der Zeit, den Status quo aufzurütteln, indem wir uns auf sinnvolle Gespräche einlassen und die Erzählung durch Agenden, die Veränderungen bewirken, neu gestalten. Wir können durch unsere Stimme, unsere Plattformen und unsere Solidarität mit unseren Schwarzen Brüdern und Schwestern auf lokaler und internationaler Ebene eine Rolle bei der Gestaltung der Zukunft spielen.

A: Eine Zeile aus deinem Song Tha Juice geht „When you come from where I come from you know that we don’t give up” und du beziehst dich immer wieder auf das Gedicht „Still I Rise“ von Maya Angelou. Was bedeutet es für dich im Leben, Hindernisse zu überwinden?

G: Ja, tatsächlich stammt das Gedicht aus einer Zeit, in der extrem starke Segregation herrschte und ist eine Ode ans Schwarzsein und die Fähigkeit, sich über Hindernisse im Leben zu erheben. In Nigeria muss man immer einen Weg finden. Das kann ich nicht schönreden. Wenn man das Gefühl hat, dass die Regierung nicht hinter einem steht, muss man einen Weg finden. Es gibt viele junge Menschen in Nigeria, die sich die Dinge von Grund auf selbst erschaffen haben oder Dinge zusammenfügen oder auslagern. Es ist uns also in die Wiege gelegt, uns unseren eigenen Weg zu bahnen. Das ist der Kampfgeist.

A: Lass uns nochmal über Nigeria sprechen. Wie ist deine Einschätzung der aktuellen Ereignisse?

Junge Nigerianer:innen haben sich zu den #endSARS Protesten versammelt, um ihre Stimme für Polizeireformen zu erheben, um Korruption ein Ende zu setzen und staatliche Umstrukturierung zu fordern, vor allem was den Zugang zu Bildung und Beschäftigung von jungen Menschen angeht. Ich denke es handelt sich hier auch um einen intergenerationalen Konflikt: Viele junge Menschen haben das Gefühl, von der älteren Generation im Stich gelassen worden zu sein. Aber erst jetzt, da wir bei Themen von sozialer Gerechtigkeit an vorderster Front stehen, beginnen wir mehr von der Dynamik zu verstehen, die viele Ältere dazu gebracht hat, aufzugeben und sich in diesem System einzurichten. Aber wir sind durch neue Technologien und den Kontakt in verschiedene Teile der Welt befähigt, Dinge zu ändern. Das heißt nicht, dass man Ältere, die sich wirklich leidenschaftlich für ihr Land einsetzen, auschließen sollte vom gesellschaftlichen Veränderungsprozess. Wir brauchen Leute, die mit anpacken wollen, egal welchen Alters, welcher Religion oder welchen Geschlechts.

Aber was die Regierung angeht, ist es mal wieder allzu bezeichnend, was während der Proteste passiert ist. Drei große nigerianische Nachrichtensender, die über die Proteste berichteten, wurden wegen ihrer Berichterstattung mit einer Geldstrafe belegt. In den nächsten Wochen oder Monaten werden die Massenmedien, die größtenteils von der Regierung kontrolliert werden, daher versuchen, die öffentliche Aufmerksamkeit von dem, was wir in der Nacht der Schüsse am Lekki-Gate gesehen haben, abzulenken, die Erzählung umzugestalten und eine Regierungsbeteiligung sogar ganz zu leugnen. Aber unsere kollektiven Stimmen und Energien haben ein neues Bewusstsein ausgelöst. Das verlangt von uns, den Staffelstab zu ergreifen und loszulaufen. Es liegt jetzt an uns, an diejenigen zu erinnern, die ihr Leben für ein besseres Nigeria verloren haben. Wir sollten das alles als Antrieb nutzen, um den Kampf für Gerechtigkeit fortzusetzen. Wir sollten uns an die Namen der Toten erinnern, sie in unsere Kunst einbetten und ihre Geschichten unseren Kindern erzählen. Das ist für die Geburt eines neuen Nigerias von entscheidender Bedeutung. Auch Nigerianer:innen in der Diaspora haben ihre Solidarität in Ländern wie den USA, Deutschland, Großbritannien, Kanada, Finnland und Österreich gezeigt, indem sie sich an friedlichen Protesten beteiligten und auf die Ungerechtigkeiten in Nigeria aufmerksam machten.

Freiheit ist nichts, was einem gegeben wird. Man muss sie sich erkämpfen. Die Ereignisse der letzten Wochen zeigen, dass es in Nigeria einen Aufbruch gibt.

Mann mit Fahne

Immortalizing the lost lives: A vital key in the awakening of a new Nigeria.

It’s exactly one week since the shootings at the Lekki toll gate in Lagos occurred. The 20th of October 2020 was a day that shook many citizens as well as international sympathizers and raised so many questions about the so-called democracy of Africa’s most populous nation Nigeria….

Garey Godson veröffentlichte sein zweites Studioalbum Still I Rise im Jahr 2020, das u.a. die Lieder Koko und Kairo enthielt. Aktuell arbeitet er an seiner EP Lucid Thoughts, die im nächsten Jahr erscheinen soll.

Instagram: Garey Godson

Foto im Header: © Max Judge

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Musik

Sampa the Great

Sampa the Great
The Return

Great state I'm in, in all states I'm in, I might final form in my melanin

Auf ihrem selbstbewussten und starken Debütalbum „The Return“ begibt sich Sampa the Great auf eine musikalische Heimkehr nach Sambia und Botswana. Nicht nur mischt sie Soul und Funk Elemente mit Klängen ihrer Kindheit, sondern sie dreht auch Videos mit farbenfroher Ästhtetik auf den Straßen Sambias und lässt sogar ihre Eltern in einem Clip auftreten.

Nach ihrem bereits allseits auf Anerkennung gestoßenen Gospel und Neo-Soul Mixtape „Birds and the BEE9“ legt die Hip-Hop Künstlerin noch einmal nach und beweist ihr Kaliber mit tollen Produktionen und und klar definierten politischen Botschaften. 19 göttliche Tracks.

Funky und entspannt sind die Beats der meisten Stücke, auf denen Sampa in Lauryn Hill Manier lässig zwischen Rap und Gesang wechselt und in ihre Jugend zurückreist oder mit der australischen Musikindustrie und rassistischen Gesellschaften abrechnet. „OMG“ ist nicht nur ein Stück, bei dem wohl niemand still sitzen kann, mit seinem treibenden Beat und Bläser-Samples, sondern auch als Video eine absolute Augenweide.

Auch wenn ihre Musikkarriere auf in Jazz-Hip-Hop-Freestyle Sessions auf den Straßen Australiens begann und viele dort geschmeidete Allianzen ihre Karriere befeuert haben, so fühlte sich Sampa the Great doch nach eigener Aussage in der australischen Musikindustrie zur Außenseiterin gemacht. In einem Interview beschreibt sie, wie sich die Heimkehr anfühlte:

„Das war es, was mich ursprünglich zu diesem Album inspiriert hat: dieses Gefühl von Heimweh, obwohl meine Karriere so super lief. Mal hat mich dieses Gefühl fast gelähmt. Dann hatte ich die Idee, Dinge oder Elemente, die mich an zu Hause erinnern, in mein jetziges Leben zu integrieren. Das hat mir geholfen, meine Karriere überall auf der Welt voranzubringen.“

In „Final Form“ rappt Sampa vor einer gefühlvollen 70er-Jahre-Funk-Vibes Kulisse und sendet eine Botschaft von Black Power.
Das lebhafte und farbenfrohe Video zum Lied wurde auf Märkten und Straßen in den Gegenden, in denen Sampa aufwuchs, gedreht. Will Sampa mit dem Titel andeuten, dass sie als Künstlerin bereits zur Vollendung gelangt ist?
OkayAfrica erzählte sie:

"Es ist leicht, sich in dem ständigen Geschwätz um einen herum zu verfangen, dass man 'noch nicht da ist', dass man 'es vielleicht nicht schafft. Bei "Final Form" geht es darum, sich selbst zu erweitern und jede Negativität gegenüber diesem Wachstumsprozess abzulehnen. Als Künstlerin erkenne ich jetzt mein Niveau des Zwischenstadiums; manchmal fällt es ab und manchmal steigt es an, aber ich liebe es, dass ich jede Sekunde auf eine höhere Ebene komme. Vielleicht schaffe ich es morgen sogar zur vollendeten Form".

Sampa the Great wurde von großen Acts wie Kendrick Lamar zur Zusammenarbeit gebeten und stand auf dem Line-Up für Coachella 2020. So ein steiler Karriereweg lässt Grund zur Hoffnung, dass wir bald noch viel mehr von ihrer Musik hören werden.

Sampa the Great, Foto © Barun Chatterjee

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Film

5 Filme über afrikanische Protestbewegungen

5 Filme über afrikanische Protestbewegungen
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#ENDPOLICEBRUTALITY

Seit mehr als zwei Wochen schon finden in Nigeria Proteste vor allem junger Leute gegen die Polizei-Eliteeinheit Special Anti-Robbery Squad (SARS), Polizeigewalt im Allgemeinen und Korruption statt. Die Lage eskalierte, als Polizeikräfte vergangenen Dienstag das Feuer auf Protestierende an einer Mautstelle in Lagos eröffneten. Über 50 Zivilist:innen haben seit Beginn der Demonstrationen ihr Leben verloren. International verbreiteten sich die Proteste unter dem Hashtag #EndSARS und führten auch im Ausland zu Protestkundgebungen.

Afrikanische Gesellschaften können auf eine lange Geschichte von Protesten und Demonstrationen gegen unterdrückerische Kräfte zurückblicken. Wir wollen euch heute fünf Dokumentarfilme aus der jüngeren Vergangenheit vorstellen, die sich mit solchen Protesten beschäftigen.

Bukinabé Rising - die Kunst des Widerstandes

Burkina Faso, ein kleines Binnenland in Westafrika, beheimatet eine lebhafte Gemeinschaft von Künstler:innen, Musiker:innen und engagierten Bürger:innen, die im Geist von Sankara ihr Land politisch gestalten. Zur Erinnerung: Sankara, der anti-patriarchale, sozialistische und panafrikanistische fünfte Präsident des damaligen Obervoltas, wurde in einem Staatsstreich unter Führung seines besten Freundes und Beraters Blaise Compaoré getötet, der das Land dann 27 Jahre lang als Autokrat regierte, bis ein massiver Volksaufstand zu seiner Absetzung führte. Heute ist der Geist des Widerstands und des politischen Wandels mächtiger denn je und durchdringt jeden Aspekt des burkinischen Lebens. Dieser Geist ist nicht nur für Afrika eine Inspiration, sondern auch für den Rest der Welt.

Softie - über den Aktivisten Boniface Mwangi

Sam Soko’s Dokumentarfilm Softie begleitet den kühnen politischen Aktivisten und Photojournalisten Boniface Mwangi (genannt Softie), der sich nach mehreren Jahren des Kampfes gegen Missstände in seinem Land Kenia dazu entschließt, für ein politisches Amt zu kandidieren. Mit Idealismus als einzige Waffe eine saubere Kampagne gegen höchst korrupte Gegner:innen zu kämpfen, erweist sich jedoch bald als schwierig und höchst gefährlich. Schnell, frenetisch und doch weich in seinem Kern, zeigt Softie mit klarem Fokus, wie der Einzelne selbst dann noch einen Unterschied machen kann, wenn er gegen den Strom schwimmt. Soko erfasst geschickt die Realität des politischen Aktivismus in Kenia und die Mobilisierung der Gemeinden vor Ort.

Downstream to Kinshasa

Der neueste Dokumentafilm unter Regie des berühmten kongolesischen Filmemachers Dieudo Hamadi begleitet eine Gruppe von Opfern des Sechstagekrieges im Kongo, die von der Regierung Wiedergutmachung fordert. Im Juni 2000 war die Stadt Kisangani am Kongofluss zum Schlachtfeld beim Aufeinandertreffen von ruandischen und ugandischen Streitkräften im Zweiten Kongokrieg, dem sogenannten Afrikanischen Weltkrieg, geworden. Die Überlebenden kämpfen auch 20 Jahre später noch um Entschädigung und Anerkennung der Gräueltaten, die sie bei dieser Belagerung erlebt haben.
Hamadis Film konzentriert sich jedoch nicht auf die geopolitische Vergangenheit, sondern auf die Gegenwart einer Gruppe von Kisanganer:innen, die durch die schweren Granaten und Schüsse verstümmelt wurden. Durch das Musiktheater haben manchee ihre Stimmen zurückgefunden, da sie aber nie eine finanzielle Entschädigung für ihren Schmerz erhalten haben, beschliessen sie, den Kongofluss hinunter in die Hauptstadt zu reisen, um endlich ihren Geschichten Gehör zu verschaffen.

The Art of Fallism - Intersektionalität im Protest

The Art of Fallism gewährt einen Einblick in die südafrikanische #Rhodesmustfall Bewegung und die Notwendigkeit von Intersektionalität, ohne die eine solche Revolution der Erinnerungskultur und gesellschaftlichen Strukturen zum Scheitern verurteilt wäre. Ein massiver Studentenprotest an der Universität von Kapstadt entwickelt sich zu einer nationalen Debatte für freie Bildung und das Ende aller Formen der Repression. The Art of Fallism dokumentiert diese Kämpfe, zeigt aber vor allem, wie Frauen und Trans-Aktivist:innen innerhalb dieser Gruppen dafür kämpften, dass die Bewegung integrativ wurde und sich für eine Vielfalt von Stimmen einsetzte.

The Square

The Square ist eine fesselnde, zutiefst menschliche Chronik der ägyptischen Protestbewegung vom Sturz des Militärführers Hosni Mubaraks im Jahr 2011 bis zur Amtsenthebung von Mohammed Morsi im Jahr 2013. Der Film folgt Magdy, einem Mitglied der muslimischen Bruderschaft, Khalid Abdalla, einem ägyptischen Schauspieler, der die Hauptrolle in „The Kite Runner“ spielte, und dem charismatischen Ahmed, jeweils junge Aktivisten, die seit zwei Jahren versuchen, ein besseres Ägypten aufzubauen. Bewaffnet mit nicht mehr als Kameras, sozialen Medien, tiefem Bewusstsein und einem entschlossenen Engagement für Veränderungen fängt der Film die Unmittelbarkeit und Intensität der Proteste auf dem Tahrir-Platz ein.

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Literatur

Der Ort, an dem die Reise endet

Der Ort, an dem die Reise endet
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Ein mutiger, brutaler und schöner Roman über eine versehrte Familie

Wenn wir uns nicht gemeinsam den Geistern unserer unbewältigten Vergangenheit, unseren von der Politik genährten Gewaltnarrativen und dem vorsätzlichen Schweigen stellten, waren wir als Volk und als Land in existenzieller Gefahr.

Immer wieder hören wir, dass Menschen den Debütroman von Yvonne Adhiambo Owuor noch nicht gelesen haben, deswegen müssen wir ihn hier einfach noch einmal vorstellen!
So viel verrät uns der Klappentext:

Kenia, 2007. Odidi Oganda, ein hochtalentierter Student, wird in den Straßen Nairobis erschossen. Seine Schwester Ajany kehrt aus Brasilien zurück, um mit ihrem Vater seinen Leichnam nach Hause zu überführen. Doch die Heimkehr auf die verfallene Farm im Norden des Landes hält keinen Trost für sie bereit. Zu schmerzhaft sind die Erinnerungen, die der Mord heraufbeschworen hat und die Familie im Griff halten: an die koloniale Gewaltherrschaft und die blutigen Auseinandersetzungen nach der Unabhängigkeit. Ajanys Mutter flieht von Wut und Trauer erfüllt in die Wildnis. Und ihr Vater muss sich einer brutalen Wahrheit stellen. Doch im Moment größter Verzweiflung entsteht auch etwas Neues: Eine Liebe – oder zumindest eine Verbindung – nimmt ihren Anfang. ›Der Ort, an dem die Reise endet‹ ist ein großer Roman über eine versehrte Familie und ein zerrissenes Land. Mit einer Sprache, die einem den Atem raubt, voller Kraft und Intensität, erzählt Yvonne Adhiambo Owuor eine Geschichte von universeller Dringlichkeit – eine Geschichte von Macht und Täuschung, von unerwiderter Liebe und dem bedingungslosen Willen zum Überleben.

Buch Cover

Wie Razak Gurnah im Guardian feststellt, steht im Mittelpunkt des Romanes die Frage danach, was es braucht, um vergangenes Unrecht zu verzeihen. Dabei verfällt Owuor aber nicht in Pathos oder oberflächlichen Emotionalismus, sondern schreibt in einfühlsamer, manchmal auch karger und spröder Sprache (wie die Wüste, in dem ein Großteil der Handlung spielt) einen moralischen Kompass für ihre Landsleute, die in einem von Kolonialismus und einer gewaltvollen jüngeren Geschichte zerrissen Kenia leben. Der Ort an dem die Reise endet, ist ein feiner, mitfühlender Roman, der die Komplexität menschlicher Beziehungen ergründet.
Hier eine kleine Leseprobe:


Später, an der Universität, stieß er auf Fela Kutis Lieder - ihren kompakten Zorn: Aye, aye, aye ... I no go agree make my brother hungry, make I no talk...
Er ernannte sich selbst zum Erben Thomas Sankaras und trug eine unnötige Brille, die an Patrice Lumumbas erinnerte.
Drei Semester später fuhr Odidi heim nach Wuoth Ogik. An seinem dritten Abend in der Familie holte Odidi Oganda die Kalaschnikow, die sein Vater ihm fünf Jahre zuvor geschenkt hatte, nahm sie auseinander, warf Nyipir die Teile vor die Füße und sang: Aye, aye, aye... I no go agree make my brother hungry, make I no talk...
Schweigen.
Nyipir beugte sich über die Teile.
Schweigen.
Später, zwischen den Hieben der Nilpferdlederpeitsche, die an Odidis Körper leckte, beschwor ihn Nyipir: "Der einzige... Krieg, den du kämpfst... ist der für das, was dir gehört. Du kannst nicht die Lieder von Menschen leben, die deinen Namen nicht kennen."
Odidi versuchte, seinen Körper zu schützen, wartete auf eine Gelegenheit, Baba seitlich zu tackeln, und vergaß dabei, dass der ein erfahrener Soldat war. Sie wälzten sich über den Boden. Knack. Odidis linker Arm, sein Wurf-Arm, brach. In Odidis ersticktem Schmerz, der Tod der hochfliegenden Rugby Träume, die er, wie ihm erst jetzt klar wurde, gehegt hatte. Er erinnert sich, wie Ajanyi mit den Armen wedelte und in dem vergeblichen Bemühen, "Stopp!" zu schreien, wieder und wieder Sttttttttttttt stammelte. Akai-ma fluchte auf Turkana und flehte Gott und sämtliche katholische Heilige an, diesen Wahnsinn zu bezeugen. Sie erbot sich, ihnen ihr nacktes Hinterteil zu zeigen. Ein Fluch. Doch dann schlug Galgalu mit dem langen, dicken Hirtenstab zwischen Vater und Sohn. Zack!
Danach war Ruhe.
Viel, viel später.
Ein Vater flehte flüsternd seinen fliehenden Sohn an: Bleib. Bitte, bleib.
Der Sohn ging.
Ohne eine Antwort und einen Blick zurück.

Anfang Oktober fiel Yvonne Owuor durch eine ehrliche, wütende und für Europäer:innen sehr unbequeme Rede zur Eröffnung der Konferenz „Colonialism as Shared History. Past, Present, Future„, die vom Auswärtigen AMt mitorganisiert wurde, auf:

Yvonne Owuor

Ein vergessener Scherbenhaufen: die Streifzüge kolonialer Phantome

Das ging ordentlich nach hinten los: In ihrer Eröffnungsrede für die internationale Konferenz „Colonialism as Shared History. Past, Present, Future“ wehrt sich Yvonne A. Owuor heftig gegen die Idee einer gemeinsamen Vergangenheitsbewältigung. Mit den Geistern der eigenen kolonialen Schuld müsse Europa selbst einmal fertig werden, und seine Schuldigkeit durch Reparationen und eine gerechtere Wirtschaftsweise begleichen.

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Musik Verschiedenes

Eine Stadt auf dem Hügel

Eine Stadt auf dem Hügel
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von William Shoki

Die virale Sensation „Jerusalema“ und die dazugehörige Dance Challenge offenbaren eine tiefe Sehnsucht danach, die Welt neu zu imaginieren.

Obwohl Afrika für immer als ihr Herz der Finsternis verdammt bleiben wird, ist der Welt weiterhin schleierhaft, wie der Kontinent anscheinend glimpflich davon gekommen ist in der Covid-19 Pandemie. Als das Virus Anfang des Jahres in anderen Teilen der Welt wütete und sich bereit machte, auch auf den Kontinent vorzudringen, waren die Vorhersagen ernst. Es wurde weithin angenommen, dass die ärmlichen und dicht gedrängten Lebensumstände in Afrika, die weite Verbreitung anderer Krankheiten wie HIV und Tuberkulose und der Mangel an gut ausgestatteten Gesundheitssystemen dazu führen würden, dass das Virus dort am tödlichsten verlaufen würde. Trotz ihres katastrophalen Charakters waren diese Vorhersagen angesichts der Verzweiflung anderswo nicht mal unvernünftig. Merkewürdig ist jedoch das Gefühl der perversen Enttäuschung darüber, dass dieser Fall nicht eingetreten ist. Noch merkwürdiger ist, dass auf dem Höhepunkt des Untergangs und der Finsternis wenig internationale Unterstützung geleistet wurde, um die erwarteten schlimmsten Folgen zu verhindern.

Africa is a country

Dieser Artikel erschien im Original bei Africa is a Country unter dem Titel „A city on a hill“ von William Shoki.

Auf der anderen Seite feiert die Welt mal wieder die Leichtigkeit des Kontinents, wenn auch auf die klischeehafteste Art und Weise – über seine Musik und seinen Tanz. Seit Mitte des Jahres begeistert der gospel-inspirierte südafrikanische House Track „Jerusalema“ von DJ und Produzent Master KG und Sängerin Nomcebo Zikode ein weltweites Publikum. Besonderen Aufschwung erfuhr der Track durch seine Entwicklung zur #JerusalemaDanceChallenge, die durch eine Gruppe angolanischer Freund:innen ausgelöst wurde, die sich selbst mit Tellern voll Essen filmten, während sie eine Variation des Line Dance zu dem Song aufführten. Im Anschluss daran wurden ähnliche Clips von Menschen, die zu diesem Lied tanzten, von allen möglichen Gruppen ausgetauscht – von normalen Menschen, Nonnen und Priestern, Mitarbeiter:innen im Gesundheitswesen und anderen wichtigen Bereichen, Polizei und Soldat:innen, Tankwartinnen und -wärtern, um nur einige zu nennen. Für die Afrikanische Union ist Jerusalema „ein Lied, das seine nationalen Grenzen und den Kontinent überwunden hat und zu dessen lebhaftem Rhythmus Menschen auf der ganzen Welt tanzen“.

Die südafrikanische Regierung stellte sicher, dass die Dance Challenge koordiniert wurde und verwandelte das meist spontane und unkoordinierte Phänomen in eine staatlich geförderte Wohlfühl-Erzählung. Als Präsident Cyril Ramaphosa den Übergang Südafrikas zur niedrigsten Corona Lockdown-Stufe ankündigte, drängte er alle Südafrikaner:innen, sich an der Tanzherausforderung im Rahmen der Feierlichkeiten zum Tag des Kulturerbes, die Ende September stattfanden, zu beteiligen. (Der Feiertag selbst hat eine merkwürdige Geschichte; er ersetzte den Shaka-Tag und ist jetzt hauptsächlich eine Ausrede zum Grillen). Urplötzlich wurde ein Land, das vorher ein Pulverfass der Unzufriedenheit gewesen war, das traumatisiert war von der Ungerechtigkeit und dem Leid, das es über den Lockdown erlitten hatte, und das doch gleichzeitig uneins darüber war, wer daran die Schuld trug, in fröhlichen Darbietungen vereint, als es so schien, dass alles wieder normal ist. Und „normal“ bedeutet für Menschen aus Südafrika in der Lage zu sein, zu verdrängen, dass normal das Problem ist. Es bedeutet, ganz bequem von der Empörung über die Brutalität der Polizei im Juni zum Beifall für ihre Darbietungen des Jerusalema-Tanzes im September überzugehen.

Aber vielleicht ist Jerusalema anders, denn die Hoffnung, die es zum Ausdruck bringt, ist nicht einfach eine Rückkehr zur Normalität, sondern der Wunsch, darüber hinauszugehen. Der Text selbst (übersetzt aus isiZulu) enthält die Zeilen: „Jerusalem ist meine Heimat, rette mich, nimm mich mit… Mein Platz ist nicht hier, mein Königreich ist nicht hier“. Doch die tatsächlich existierende Stadt Jerusalem, die „Stadt des Friedens“ bedeutet und von allen abrahamitischen Glaubensrichtungen beansprucht wird, die jedoch von Israel kontrolliert werden, ist alles andere als eine ebensolche.

Es besteht eine Kluft zwischen der religiösen Bildsprache, die durch das Lied hervorgerufen wird, und dem Zustand der heutigen religiös motivierten Praxis. Die Tatsache, dass Master KG selbst nicht besonders religiös ist, zeigt, dass das Lied eine tiefere Sehnsucht in der menschlichen Existenz anspricht, die unterhalb von religiösen Gefühlen liegt. Und als Zionist:innen (nicht die südafrikanische Version des afrikanisch inspirierten Christentums, sondern Unterstützer:innen Israels) an einem gewissen Punkt versuchten, sich die Botschaft des Liedes als Unterstützung für Israel anzueignen, arbeiteten palästinensische Solidaritätsaktivist:innen mit palästinensischen Jugendlichen in Jerusalem und südafrikanischen Jugendlichen in Durban zusammen, um zwei Videos zu produzieren, die das Profil der afrikanisch-palästinensischen Gemeinschaft und die Solidarität zwischen Südafrika und Palästina schärften. Junge palästinensische Aktivist:innen wie Janna Dschihad und Ahed Tamimi schickten Videobotschaften, in denen sie Master KG einluden, nach Palästina zu kommen, und es gab eine Reihe von Aufklärungsgesprächen mit dem Künstler und seinem Management über die Politik des palästinensischen Kampfes.

Dass Jerusalema als Idee eine Sehnsucht nach mehr als bisher darstellt, könnte vielleicht auch die merkwürdige Abwesenheit der Amerikaner:innen von der Tanzherausforderung, die gerade die Welt verrückt macht, erklären (worauf die Schriftstellerin Michelle Chikaonda in einer kürzlich erschienenen Episode von AIAC Talk hingewiesen hat).

Es war der Kolonisator John Winthrop aus Massachusetts, der die Vision eines neuen Jerusalem aus dem Matthäus-Evangelium in das Bild der Vereinigten Staaten einfügte; der grundlegende Exzeptionalismus, auf dessen Grundlage sich die Vereinigten Staaten für immer als ein Leuchtturm der Hoffnung und des Fortschritts für den Rest der Welt verstehen würden. Da sich die Vereinigten Staaten nun entschieden als gescheiterter Staat erweisen, machen sie die Mehrheit der Welt – die mit Gewalt oder Zwang ihre Version des Liberalismus übernommen hat – ebenfalls zu gescheiterten Staaten, wobei die globale Unfähigkeit, mit einer Pandemie fertig zu werden, das sicherste Testament ist.

Was also ist Jerusalema, wenn nicht die feinste Destillation eines globalen Wunsches nach einer anderen Stadt auf einem Hügel? Und nicht, indem man sich einfach einer anderen Großmacht als Amerikas bereitwilligem Ersatz zuwendet – China ist nicht der Retter der Welt -, sondern einer, die wie die tänzerische Herausforderung selbst an die Möglichkeit einer kollektiven Subjektivität glaubt. Natürlich kann diese Subjektivität in Formen zusammenbrechen, die eher reaktionär als emanzipatorisch sind. Wie Zwide Ndwandwe schreibt, gibt es nicht viel, was den Regenbogen-Nationalismus, zu der die Dance Challenge Südafrikaner:innen erhebt und die Fremdenfeindlichkeit, die gleichzeitig in den sozialen Medien grassiert und die fordert, dass die Regierung Südafrikaner:innen an erste Stelle stellt, trennt: #PutSouthAfricansFirst. Es reicht nicht aus, dass es eine weit verbreitete Unzufriedenheit über unsere Gesellschaft gibt, da sie durch den Wunsch nach etwas Besserem unterstrichen wird – man muss dem, was das Bessere sein könnte, auch Inhalt geben.

In einer kürzlich erschienenen Episode von AIAC Talk, die sich dem Gespräch über die vergangenen Wahlen in Malawi widmete, wandten Sean Jacobs und ich uns mit einer Frage an die Diskussionsteilnehmer:innen, in der es darum ging, dass der neue Anführer Malawis, Lazarus Chakwera, ein Theologe ist, von dem man weiß, dass er die Bürger:innen als Teil seiner „Herde“ bezeichnet. Wir fragten dies, um zu verstehen, ob dies ein Zeichen dafür ist, dass Malawi möglicherweise auf dem Weg zu mehr von derselben demagogischen und autokratischen Führung ist, die für den Rest des Kontinents so charakteristisch ist. Doch in den Augen von Chikaonda und des Medienwissenschaftlers Jimmy Kainja war diese Tatsache über den neuen Präsidenten nicht bemerkenswert – obwohl Malawi ein religiöses Land ist, wurde Chakwera nicht deshalb gewählt. Mit Kainjas Worten: „Malawi ist jetzt ein anderer Ort. Sein Volk hat keine Zeit für den üblichen Unsinn der politischen Klasse, den es seit seiner Unabhängigkeit ertragen musste, und vertraut nun auf seine Kompetenz als Bürger un Bürgerinnen. Es ist dieser Geist der Selbstbestimmung, der Malawi umhüllte und in dem die einfachen Bürger eine aktive Rolle bei der Überwachung und Beaufsichtigung der Wahlen ohne ausländische Beobachter spielten und so weit gingen, dass sie die Flüge mit den Stimmzetteln stündlich verfolgten und darüber informierten.

Und es ist dieser Geist der Selbstbestimmung, der leise über den ganzen Kontinent fegt, während die Bürgerinnen und Bürger auf die Krise des globalen Kapitalismus reagieren, die durch die Pandemie noch verschärft wird. Es ist leicht, einen isolierten Blick auf das erfolgreiche Management von COVID-19 als Krise der öffentlichen Gesundheit auf dem Kontinent zu werfen und zu denken, dass das Schlimmste vorbei ist und dass Afrika beeindruckt hat – aber die Wahrheit ist, dass wir gerade erst beginnen, uns mit den sozioökonomischen Rissen auseinanderzusetzen, die COVID-19 aufgedeckt und verschlimmert hat. Wir sind Zeugen einer anhaltenden Mobilisierungswelle auf dem Kontinent, die die Exzesse des Neoliberalismus herausfordert – in Nigeria, Ghana, Kenia, Simbabwe und anderswo. Südafrikas Gewerkschaften und soziale Bewegungen bereiten sich auf eine Saison landesweiter Streiks vor, die den größten Gewerkschaftsbund (der mit der Regierungspartei, dem Afrikanischen Nationalkongress, verbunden ist) und seinen engsten Konkurrenten zusammenbringen. Natürlich könnten diese Bemühungen scheitern, und zweifellos werden die Regierungen weiterhin die COVID-19-Sammlungsbeschränkungen als Vorwand für Repressionen nutzen.

Aber man hat das Gefühl, dass zum ersten Mal seit langer Zeit der Glaube besteht, dass Selbstbestimmung nur als kollektive Leistung verstanden werden kann, die darin besteht, Institutionen in unserer Gesellschaft zu schaffen, indem die Lebensbedingungen für alle garantiert werden. Das sind Errungenschaften, die politisch erkämpft werden müssen, und egal, wie schlimm die Dinge auch werden, sie werden nicht durch das Wohlwollen eines externen Akteurs zustande kommen. Das Schicksal Afrikas wird nicht vom Staat des Westens oder von China bestimmt, sondern nur von seinem Volk selbst. Was vielleicht auf der Suche nach einer neuen Stadt auf dem Hügel stärker wird, ist die Überzeugung, dass wir sie selbst bauen werden.

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Verschiedenes

Pierre Thiam

Pierre Thiam
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ein kulinarischer Botschafter der westafrikanischen Küche

Man kennt ja leider nicht viele öffentlichkeitswirksame afrikanische Profiköche und -köchinnen. Deswegen stellen wir heute den Senegalesen Pierre Thiam vor, der sich mit seiner Kochkunst und seinem Engagement für die westafrikanische Cuisine als kulinarischer Botschafter versteht.

Von Dakar nach New York

Thiam wuchs in Dakar auf, wo er, wie er im folgenden Video erzählt, schon früh von einem Kochbuch seiner Mutter und den dort abgebildeten Köstlichkeiten so begeistert war, dass er wusste, er wollte Koch werden. Leider ist das im Senegal nicht so leicht, denn

als Junge hatte ich in der Küche nichts zu suchen. Ich durfte nicht hinein, denn im Senegal ist Kochen eine geschlechtsspezifische Aktivität, die Frauen vorbehalten ist. Das ist eine ernsthafte kulturelle Angelegenheit. Mittlerweile tut sich da aber was und es gibt auch männliche Profiköche.

Als Thiam wegen der Schließung seiner Uni in den USA weiter studieren musste, entdeckte er, dass er dort auch als Mann Zugang zu Küchen und Gastronomien hatte. Als er in den späten 80er Jahren in New York ausgeraubt wurde, beschloss er kurzerhand, sich einen Job in einem Restaurant zu suchen und nicht in den Senegal zurückzureisen. Er arbeitete sich als Koch in die New Yorker Restaurant Welt hoch und eröffnete zwei eigene Restaurants in Brooklyn. Das Yolele und das Le Grand Dakar sind heute zwei visionäre afrikanische Bistros, die zu kulinarischen und kulturellen Zentren für Afrikaner:innen vom Kontinent und aus der Diaspora geworden sind.

In den späten 80er Jahren, als ich dort ankam, gab es in New York kein afrikanisches Essen. Punkt. Vielleicht gab es nordafrikanisches Essen, das an mir vorüberging, aber definitiv kein westafrikanisches.

Inspiriert von einer Philosophie des ersten senegalesischen Präsidenten Senghor (der Dichter war), lebt und arbeitet Thiam nach einem Prinzip des neuen Humanismus, bei dem verschiedene Kulturen als gleichwertige an einem Tisch zusammenkommen und alle etwas Schönes beitragen. Als kulinarischer Botschafter möchte er jedoch nicht nur Menschen an einem Tisch vereinen und ihnen über das Kochen die westafrikanische Kultur näherbringen, sondern auch den vielen Profiköchen, die in Westafrika bescheiden in ihren häuslichen Küchen kulinarische Wunder vollbringen, eine Stimme geben.

Fonio - das afrikanische Quinoa

Screenshot aus Pierre Thiams Ted Talk: A forgotten ancient grain that could help Africa prosper

Während der Arbeit an seinem ersten Kochbuch reiste Thiam für neue Inspiration in den Senegal, wo man ihm in der weit von der Hauptstadt entfernten Region Kédougou ein uraltes Getreide zeigte, das schon lange vom Speiseplan der urbanen Senegales:innen verschwunden ist: Fonio. Traditionell wurde es zubereitet, wenn man Gäste aus dem Königshaus erwartete, deswegen wird es auch das Königsgetreide genannt. Thiam vermutet, dass es bei guter Vermarktung für Westafrika das bedeuten könne, was Quinoa für Peru und Chile bedeute. Ein Urgetreide, das glutenfrei, nahrhaft, schmackhaft und dürreresistent ist, könnte westafrikanischen Ökonomien große Abnehmer verschaffen.

The Guardian

Fonio: the grain that would defeat quinoa as king among foodies

Fonio wird seit mehr als 5000 Jahren in Afrika angebaut und wurde von Archäolog:innen sogar in ägyptischen Pyramiden gefunden, wo es als Grabbeilage genutzt wurde. Noch kosten 400 Gramm Fonio aus dem Senegal bei uns knapp 9 Euro, aber es lohnt sich, die Augen aufzuhalten um zu sehen, was Thiam als Advokat des Urgetreides erreichen wird.

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Literatur

Wir brauchen neue Namen

Wir brauchen neue Namen
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Von einer Kindheit im simbabwischen "Paradise"

Der Roman „Wir brauchen neue Namen“ der jungen simbabwischen Schriftstellerin NoViolet Bulawayo begleitet eine Gruppe rotzfrecher Kinder aus der Barackensiedlung Paradise durch ihre äußerst prekäre Kindheit.

Paradise besteht nur aus Blech

Die zehnjährige Darling lebt in einer Hüttensiedlung in Bulawayo, der zweitgrößten Stadt Simbabwes, und vertreibt sich ihre Tage zusammen mit ihren fünf besten Freunden mit abenteuerlichen Spielen auf den staubigen Straßen des Viertels. Die Kinder gehen nicht mehr zur Schule, weil ihre Eltern sich Uniform und Schulgebühren nicht leisten können. Um den hungrigen Bauch zu füllen, schleichen sich die Kinder ins Nobelviertel Budapest, um Guaven von den Bäumen zu stehlen, oder lassen sich von Weißen, die für NGOs arbeiten, T-Shirts schenken, auf denen Google steht. Ihre Sprache ist rau und angesichts der Widrigkeiten, die ihnen täglich begegnen, sind sie unsentimental und pragmatisch. Sie lassen niemanden ihrer Gruppe zurück, auch nicht die schwangere Freundin Chipo, die von ihrem Großvater vergewaltigt worden ist:

Heute werden wir ein für alle Mal Chipos Bauch los. Erstens stört er beim Spielen, und wenn wir zulassen, dass sie das Baby kriegt, wird sie zweitens einfach sterben.
Wir schleichen aus der Siedlung raus, weil die Erwachsenen nichts mitkriegen dürfen. Die Jungs, Bastard und Godknows und Stina, sind diesmal auch ausgeschlossen, weil das hier nun mal Frauensache ist, also sind nur ich und Shbo und Forgiveness dabei.
Wir machen es unter dem Mphafa-Baum hinter Heavenway; der hat einen schönen großen Schatten. Shbo breitet erst mal das Ntsaro von ihrer Mutter auf dem Boden aus. Sie erzählt nicht, wie sie an das Ntsaro gekommen ist, aber sie hat es garantiert geklaut, keine Mutter in Paradise gibt ihre Sachen her, damit sie im Dreck landen. Chipo verliert keine Zeit, vielleicht, weil sie Angst vorm Sterben hat; sie legt sich sofort flach mit dem Rücken auf das Ntsaro und blinzelt in die Sonne.
Ich sammel schon mal kleine Steine, und als ich etwa sieben habe, überlege ich es mir anders. Ich werf sie weg und sammel mittelgroße. Was genau wir mit den Steinen anfangen wollen, weiß ich noch nicht, aber keiner fragt nach und keiner hält mich auf, also sammel und sammel ich weiter.

Die Kinder sind neben Hunger, fehlender Schulbildung und instabilen Familienverhältnissen auch den Auswirkungen des Gewaltregimes der späten Mugabe Herrschaft ausgesetzt: Bulldozer kommen immer wieder an und zerstören Hütten in Paradise. Tatsächlich ließ die Regierung Mugabes in sogenannten „Müllentsorgungoperationen“ (Operation Murambatsvina) ab 2005 illegal gebaute Häuser und Marktstände in Harare, Bulawayo und anderen Städten mit Schubraupen und Radladern zerstören und niederbrennen. Mehr als drei Millionen Menschen waren direkt oder indirekt von dieser Operation betroffen.

Voller Energie, Witz und Kaltschnäuzigkeit schlagen sich die Kinder durchs Leben, bis Darling, als sie 14 ist, zu ihrer Tante nach Detroit in Michigan geschickt wird.

Enttäuschung in Amerika

Hier beginnt der zweite Teil des Romans, der durch Stimmung, Sprache und Szenerie deutlich macht, dass das Leben in Amerika eine herbe Enttäuschung für Darling ist. Obwohl es in „Destroyedmichigan“, wie die Freunde von zuhause sagen, genug zu essen gibt, quälen sie immer wieder Heimweh und Fragen von Identität und Zugehörigkeit. Es ist kalt und Darling fühlt sich nicht willkommen, nicht einmal der viel gepriesene Schnee kann sie begeistern:

Draußen schaufeln sie Schnee weg, weil so viel gefallen ist. Ich finde es gut, dass sie ihn wegschaufeln, es ist einfach zu viel Weiß, als hätte jemand dem Schnee gesagt, dass die anderen Farben gar nicht zählen. Ich glaube, eine hübsche Farbe wie beispielsweise Lila oder Rosa oder meinetwegen Regenbogen wäre wenigstens interessant anzuschauen.

Auch in den USA sind Gewalt und Härte allgegenwärtig, nur drücken sie sich als Rassismus und Vorurteile gegenüber Afrikaner:innen aus. Auch dort jedoch trotzt Darling den Widerständen mit der Resilienz, die sie in ihrer Kindheit gewonnen hat.

Die zwei Teile des Buches werden durch ein Kapitel, das einen Klagegesang auf die Auswanderung von Simbabwer:innen darstellt, getrennt, der die Schmerzen der Auswanderung und des Lebens in der Diaspora in poetische Worte fasst:

Seht, wie die Kinder in Scharen gehen, ihr eigenes Land verlassen mit blutenden Wunden am Leib und Entsetzen auf dem Gesicht und Blut im Herzen und Hunger im Bauch und Kummer in den Beinen. Ihre Mütter und Väter und Kinder zurücklassen, ihre nabelschnüre im Boden, die Knochen ihrer Vorfahren in der Erde, alles, was sie ausmacht, sie zu dem macht, wer und was sie sind, weil sie unmöglich bleiben können. Nie wieder werden sie sein wie jetzt, denn man bleibt nicht derselbe, wenn man zurücklässt, wer und was man ist, man bleibt nicht derselbe.

Bulawayos fulminantes Debüt

Sprachlich brillant, lebendig und selbstbewusst schafft es Bulawayo, die authentische Stimme eines jungen Mädchens, das im repressiven und wirtschaftlich am Boden liegenden Simbabwe nach der Jahrtausenwende aufwächst, zu zeichnen. Auch wenn der zweite Teil des Romans nicht so stark ist wie der erste, ist das Buch eine absolut empfehlenswerte Lektüre.

Bulawayos Pseudonym (in Wirklichkeit heißt sie Elisabeth Zandile Tshele) setzt sich übrigens zusammen aus der Sehnsucht nach ihrer Mutter und ihrer Geburtstadt Bulawayo: Die Vorsilbe „No“ kommt aus dem Ndebele und heißt „mit“, und Violet war der Vorname ihrer Mutter, die starb, als Bulawayo 18 Monate alt war.

Wer hören möchte, wie Bulawayo selbst über ihren Roman spricht, über die Namen, um die es im Buch geht, über das Schreiben aus der Ferne heraus und über die Grenzen von Sprache, dem sei das folgende Video empfohlen:

Hier geht es zur Website von NoViolet Bulawayo.

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