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Die virale Sensation „Jerusalema“ und die dazugehörige Dance Challenge offenbaren eine tiefe Sehnsucht danach, die Welt neu zu imaginieren.
Obwohl Afrika für immer als ihr Herz der Finsternis verdammt bleiben wird, ist der Welt weiterhin schleierhaft, wie der Kontinent anscheinend glimpflich davon gekommen ist in der Covid-19 Pandemie. Als das Virus Anfang des Jahres in anderen Teilen der Welt wütete und sich bereit machte, auch auf den Kontinent vorzudringen, waren die Vorhersagen ernst. Es wurde weithin angenommen, dass die ärmlichen und dicht gedrängten Lebensumstände in Afrika, die weite Verbreitung anderer Krankheiten wie HIV und Tuberkulose und der Mangel an gut ausgestatteten Gesundheitssystemen dazu führen würden, dass das Virus dort am tödlichsten verlaufen würde. Trotz ihres katastrophalen Charakters waren diese Vorhersagen angesichts der Verzweiflung anderswo nicht mal unvernünftig. Merkewürdig ist jedoch das Gefühl der perversen Enttäuschung darüber, dass dieser Fall nicht eingetreten ist. Noch merkwürdiger ist, dass auf dem Höhepunkt des Untergangs und der Finsternis wenig internationale Unterstützung geleistet wurde, um die erwarteten schlimmsten Folgen zu verhindern.
Auf der anderen Seite feiert die Welt mal wieder die Leichtigkeit des Kontinents, wenn auch auf die klischeehafteste Art und Weise – über seine Musik und seinen Tanz. Seit Mitte des Jahres begeistert der gospel-inspirierte südafrikanische House Track „Jerusalema“ von DJ und Produzent Master KG und Sängerin Nomcebo Zikode ein weltweites Publikum. Besonderen Aufschwung erfuhr der Track durch seine Entwicklung zur #JerusalemaDanceChallenge, die durch eine Gruppe angolanischer Freund:innen ausgelöst wurde, die sich selbst mit Tellern voll Essen filmten, während sie eine Variation des Line Dance zu dem Song aufführten. Im Anschluss daran wurden ähnliche Clips von Menschen, die zu diesem Lied tanzten, von allen möglichen Gruppen ausgetauscht – von normalen Menschen, Nonnen und Priestern, Mitarbeiter:innen im Gesundheitswesen und anderen wichtigen Bereichen, Polizei und Soldat:innen, Tankwartinnen und -wärtern, um nur einige zu nennen. Für die Afrikanische Union ist Jerusalema „ein Lied, das seine nationalen Grenzen und den Kontinent überwunden hat und zu dessen lebhaftem Rhythmus Menschen auf der ganzen Welt tanzen“.
Die südafrikanische Regierung stellte sicher, dass die Dance Challenge koordiniert wurde und verwandelte das meist spontane und unkoordinierte Phänomen in eine staatlich geförderte Wohlfühl-Erzählung. Als Präsident Cyril Ramaphosa den Übergang Südafrikas zur niedrigsten Corona Lockdown-Stufe ankündigte, drängte er alle Südafrikaner:innen, sich an der Tanzherausforderung im Rahmen der Feierlichkeiten zum Tag des Kulturerbes, die Ende September stattfanden, zu beteiligen. (Der Feiertag selbst hat eine merkwürdige Geschichte; er ersetzte den Shaka-Tag und ist jetzt hauptsächlich eine Ausrede zum Grillen). Urplötzlich wurde ein Land, das vorher ein Pulverfass der Unzufriedenheit gewesen war, das traumatisiert war von der Ungerechtigkeit und dem Leid, das es über den Lockdown erlitten hatte, und das doch gleichzeitig uneins darüber war, wer daran die Schuld trug, in fröhlichen Darbietungen vereint, als es so schien, dass alles wieder normal ist. Und „normal“ bedeutet für Menschen aus Südafrika in der Lage zu sein, zu verdrängen, dass normal das Problem ist. Es bedeutet, ganz bequem von der Empörung über die Brutalität der Polizei im Juni zum Beifall für ihre Darbietungen des Jerusalema-Tanzes im September überzugehen.
Aber vielleicht ist Jerusalema anders, denn die Hoffnung, die es zum Ausdruck bringt, ist nicht einfach eine Rückkehr zur Normalität, sondern der Wunsch, darüber hinauszugehen. Der Text selbst (übersetzt aus isiZulu) enthält die Zeilen: „Jerusalem ist meine Heimat, rette mich, nimm mich mit… Mein Platz ist nicht hier, mein Königreich ist nicht hier“. Doch die tatsächlich existierende Stadt Jerusalem, die „Stadt des Friedens“ bedeutet und von allen abrahamitischen Glaubensrichtungen beansprucht wird, die jedoch von Israel kontrolliert werden, ist alles andere als eine ebensolche.
Es besteht eine Kluft zwischen der religiösen Bildsprache, die durch das Lied hervorgerufen wird, und dem Zustand der heutigen religiös motivierten Praxis. Die Tatsache, dass Master KG selbst nicht besonders religiös ist, zeigt, dass das Lied eine tiefere Sehnsucht in der menschlichen Existenz anspricht, die unterhalb von religiösen Gefühlen liegt. Und als Zionist:innen (nicht die südafrikanische Version des afrikanisch inspirierten Christentums, sondern Unterstützer:innen Israels) an einem gewissen Punkt versuchten, sich die Botschaft des Liedes als Unterstützung für Israel anzueignen, arbeiteten palästinensische Solidaritätsaktivist:innen mit palästinensischen Jugendlichen in Jerusalem und südafrikanischen Jugendlichen in Durban zusammen, um zwei Videos zu produzieren, die das Profil der afrikanisch-palästinensischen Gemeinschaft und die Solidarität zwischen Südafrika und Palästina schärften. Junge palästinensische Aktivist:innen wie Janna Dschihad und Ahed Tamimi schickten Videobotschaften, in denen sie Master KG einluden, nach Palästina zu kommen, und es gab eine Reihe von Aufklärungsgesprächen mit dem Künstler und seinem Management über die Politik des palästinensischen Kampfes.
Dass Jerusalema als Idee eine Sehnsucht nach mehr als bisher darstellt, könnte vielleicht auch die merkwürdige Abwesenheit der Amerikaner:innen von der Tanzherausforderung, die gerade die Welt verrückt macht, erklären (worauf die Schriftstellerin Michelle Chikaonda in einer kürzlich erschienenen Episode von AIAC Talk hingewiesen hat).
Es war der Kolonisator John Winthrop aus Massachusetts, der die Vision eines neuen Jerusalem aus dem Matthäus-Evangelium in das Bild der Vereinigten Staaten einfügte; der grundlegende Exzeptionalismus, auf dessen Grundlage sich die Vereinigten Staaten für immer als ein Leuchtturm der Hoffnung und des Fortschritts für den Rest der Welt verstehen würden. Da sich die Vereinigten Staaten nun entschieden als gescheiterter Staat erweisen, machen sie die Mehrheit der Welt – die mit Gewalt oder Zwang ihre Version des Liberalismus übernommen hat – ebenfalls zu gescheiterten Staaten, wobei die globale Unfähigkeit, mit einer Pandemie fertig zu werden, das sicherste Testament ist.
Was also ist Jerusalema, wenn nicht die feinste Destillation eines globalen Wunsches nach einer anderen Stadt auf einem Hügel? Und nicht, indem man sich einfach einer anderen Großmacht als Amerikas bereitwilligem Ersatz zuwendet – China ist nicht der Retter der Welt -, sondern einer, die wie die tänzerische Herausforderung selbst an die Möglichkeit einer kollektiven Subjektivität glaubt. Natürlich kann diese Subjektivität in Formen zusammenbrechen, die eher reaktionär als emanzipatorisch sind. Wie Zwide Ndwandwe schreibt, gibt es nicht viel, was den Regenbogen-Nationalismus, zu der die Dance Challenge Südafrikaner:innen erhebt und die Fremdenfeindlichkeit, die gleichzeitig in den sozialen Medien grassiert und die fordert, dass die Regierung Südafrikaner:innen an erste Stelle stellt, trennt: #PutSouthAfricansFirst. Es reicht nicht aus, dass es eine weit verbreitete Unzufriedenheit über unsere Gesellschaft gibt, da sie durch den Wunsch nach etwas Besserem unterstrichen wird – man muss dem, was das Bessere sein könnte, auch Inhalt geben.
In einer kürzlich erschienenen Episode von AIAC Talk, die sich dem Gespräch über die vergangenen Wahlen in Malawi widmete, wandten Sean Jacobs und ich uns mit einer Frage an die Diskussionsteilnehmer:innen, in der es darum ging, dass der neue Anführer Malawis, Lazarus Chakwera, ein Theologe ist, von dem man weiß, dass er die Bürger:innen als Teil seiner „Herde“ bezeichnet. Wir fragten dies, um zu verstehen, ob dies ein Zeichen dafür ist, dass Malawi möglicherweise auf dem Weg zu mehr von derselben demagogischen und autokratischen Führung ist, die für den Rest des Kontinents so charakteristisch ist. Doch in den Augen von Chikaonda und des Medienwissenschaftlers Jimmy Kainja war diese Tatsache über den neuen Präsidenten nicht bemerkenswert – obwohl Malawi ein religiöses Land ist, wurde Chakwera nicht deshalb gewählt. Mit Kainjas Worten: „Malawi ist jetzt ein anderer Ort. Sein Volk hat keine Zeit für den üblichen Unsinn der politischen Klasse, den es seit seiner Unabhängigkeit ertragen musste, und vertraut nun auf seine Kompetenz als Bürger un Bürgerinnen. Es ist dieser Geist der Selbstbestimmung, der Malawi umhüllte und in dem die einfachen Bürger eine aktive Rolle bei der Überwachung und Beaufsichtigung der Wahlen ohne ausländische Beobachter spielten und so weit gingen, dass sie die Flüge mit den Stimmzetteln stündlich verfolgten und darüber informierten.
Und es ist dieser Geist der Selbstbestimmung, der leise über den ganzen Kontinent fegt, während die Bürgerinnen und Bürger auf die Krise des globalen Kapitalismus reagieren, die durch die Pandemie noch verschärft wird. Es ist leicht, einen isolierten Blick auf das erfolgreiche Management von COVID-19 als Krise der öffentlichen Gesundheit auf dem Kontinent zu werfen und zu denken, dass das Schlimmste vorbei ist und dass Afrika beeindruckt hat – aber die Wahrheit ist, dass wir gerade erst beginnen, uns mit den sozioökonomischen Rissen auseinanderzusetzen, die COVID-19 aufgedeckt und verschlimmert hat. Wir sind Zeugen einer anhaltenden Mobilisierungswelle auf dem Kontinent, die die Exzesse des Neoliberalismus herausfordert – in Nigeria, Ghana, Kenia, Simbabwe und anderswo. Südafrikas Gewerkschaften und soziale Bewegungen bereiten sich auf eine Saison landesweiter Streiks vor, die den größten Gewerkschaftsbund (der mit der Regierungspartei, dem Afrikanischen Nationalkongress, verbunden ist) und seinen engsten Konkurrenten zusammenbringen. Natürlich könnten diese Bemühungen scheitern, und zweifellos werden die Regierungen weiterhin die COVID-19-Sammlungsbeschränkungen als Vorwand für Repressionen nutzen.
Aber man hat das Gefühl, dass zum ersten Mal seit langer Zeit der Glaube besteht, dass Selbstbestimmung nur als kollektive Leistung verstanden werden kann, die darin besteht, Institutionen in unserer Gesellschaft zu schaffen, indem die Lebensbedingungen für alle garantiert werden. Das sind Errungenschaften, die politisch erkämpft werden müssen, und egal, wie schlimm die Dinge auch werden, sie werden nicht durch das Wohlwollen eines externen Akteurs zustande kommen. Das Schicksal Afrikas wird nicht vom Staat des Westens oder von China bestimmt, sondern nur von seinem Volk selbst. Was vielleicht auf der Suche nach einer neuen Stadt auf dem Hügel stärker wird, ist die Überzeugung, dass wir sie selbst bauen werden.