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Musik

Sinekhaya Emdanceweni

"SINEKHAYA EMDANCEWENI"
von Maneo Mohale

Desire steht allein da, satinverkleidet und mit Juwelen besetzt.

Zwillingshörner krönen den Kopf, lösen sich dann auf und schmelzen in glatten Wellen über die Stirn hinab bis zu den Augen. Desire starrt: kokett und wütend, eindringlich und verletzlich.
Dunkel triefend, eingefangen von Zanele Muholis Glasauge, begegnet Desire unserem Blick in Schwarz und Weiß, eine Studie in Kontrast. Dieses markante monochrome Porträt bebildert Desires Debütalbum „Desire“ – es ist unser erster Eindruck. Trotz farblosen Antlitzes ist das Album kaleidoskopisch. „Desire“ ist eine eindrucksvolle Reihe von Meditationen in neun sorgfältig ausgearbeiteten Tracks. Mit erstaunlichem klanglichen Ehrgeiz und der Leichtigkeit einer schwarzen Hand, die über Seide streicht, durchquert Desire die Genres.
Der experimentelle Opener „Self Centre“ setzt Desire langsam in Bewegung, vor Rückkoppelung knisternd. Das eisige Rauschen schmilzt schließlich und überführt in das dichte Trällern einer Orgel, deren Akkorde von einem synthie- und bläserlastigen Arrangement getragen werden. Die Stimme von Desire taucht auf, um dann wieder zu verschwinden, verzerrt hinter futuristischen Störgeräuschen. Der Effekt ist geisterhaft und metallisch; wir werden Zeuge einer Geburt, schön und bizarr.

Desire beginnt ernsthaft mit den dringenden Sirenenklängen von „Zibuyile Izimmakade“. Es ist ein vor Energie pulsierender Track, gleichzeitig zutiefst spirituell mit seinem Stakkato aus schwarzen Wesleyan Pfeifen (eine Trillerpfeife, um bei Bedrohung auf der Straße Alarm zu schlagen, Anm. d. Red.), er könnte direkt aus einem Lied von Amadodana Ase Wesile kommen, ist aber auch frech verspielt mit seiner cleveren vor Synthie flirrenden Percussion. Nach zwei Minuten kommt endlich Desires ikonische Stimme, die wie ein Geschenk aus der Oper wirkt und mit der Musik verschmilzt, als wäre sie aus heißem Öl. Der Track ist herrlich synkretistisch und vereint die sich schnell vervielfältigende Stimme von Desire mit etwas, das wie der Schrei einer Eule klingt – sowohl Geist als auch Tier. Man hat den Eindruck, dass sich Desire in einer sich ständig wiederholenden klanglichen Unterhaltung mit den Ältesten befindet, die von der Art von Spannung und tiefer Ehrfurcht durchdrungen ist, die schwarze Queers gut kennen. Das macht „Zibuyile Izimmakade“ nur noch düsterer und ätherischer, triefend in einer Art chaotischem Ahnenkult.

Desire wechselt dann mit der Leadsingle „You Think I’m Horny“ vom Geist zur Sexualität. Das Video wurde von Jamal Nxedlana von Bubblegumclub gedreht und von Bradley Sekiti choreographiert. „You Think I’m Horny“ ist eine stimmgewaltige Meditation über Einsamkeit, urbane Entfremdung und Lust. Der verletzliche Track entfaltet seine Federn langsam, Desire säuselt: „Ehrlich, alles was ich will, ist alles zu sein, das du brauchst / ruf mich an wenn du mich vermisst.“ Die Jenseitigkeit von Desires Stimme gleitet hinter einem zarten Schleier hervor, als käme sie aus einer geisterhaften, steampunkigen Version von Jozi. Der Refrain fängt den Widerspruch ein, den so viele von uns empfinden, wenn sie mit dem Durcheinander von queerem Hunger und düsterer Sehnsucht konfrontiert werden. Und wenn Desire schließlich säuselt: „Willst du nicht bei mir bleiben? Man ist so einsam in dieser Stadt…“, ist das Gefühl der trostlosen Isolation zutiefst nachvollziehbar.

Sobald Desire „squeeze me…“ singt, nimmt der Track ein völlig anderes Leben an, mit Trip-Hop- und Techno-Klängen, zusammen mit den geschlechtssprengenden Gesangsbeiträgen von Nonku Phiri, Südafrikas geliebter Genre-Zauberin. Gemeinsam setzen ihre Stimmen die Zeit außer Kraft: Plötzlich erinnern sie an Portisheads Wunderwerk Dummy von 1995, an Angel-Hos transzendentes 2019er Werk Death Becomes Her und an Massive Attacks Album Blue Lines von 1991. Es knistert vor monastischer Schlüpfrigkeit und es deutet sich die Genre-Zeitreise an, die auf dem restlichen Album noch folgen soll.

Mit dem vierten Track, „Tavern Kween“, einer Momentaufnahme des Schwarzen queeren Nachtkebens, offenbart das Album sein wütendes, tanzbares Herz. Vollkommen durchdrungen von „queer futurity“ (Munoz) ist Tavern ein sofort kultiger Bop und das Cyberpunk- und Sgubhu-beeinflusste Neo-Kwaito-Liebeskind von Lebo Mathosa und Perfume Genius. Wie Brenda Fassie und Janelle Monaes queeres Androiden-Baby ist „Tavern Kween“ schnell und kleva, hedonistisch und trunken wie eine Nacht auf einer von FAKAs berühmten CUNTY POWER-Partys („sinekhaya / emdanceweni…“).

Gerade wenn man denkt, „Tavern Kween“ könnte nicht besser werden, glänzt der Track mit einem mittleren Bläsersatz und einem wummernden, gedämpften Gitarrensolo, das zu gleichen Teilen Sophiatown-Jazz und KZN-geborener Maskandi ist (eine Art von Zulu-Volksmusik, Zulu-Blues). Man bekommt den Eindruck, eine historische Prozession von Schwarzen Nachtschwärmern, Tänzern, Shebeen-Queers und Musikern sei unterwegs. Alle haben sich bewaffnet gegen die Stacheln der Unterdrückung „mit allem, was wir an trunkener Freude für uns selbst stehlen konnten“ („ngibonise ubumnandi […] siphuzani?“). „Tavern Kween“ ist ein rassiger Liebesbrief an die Nacht, der vor dunkler, warmer Sinnlichkeit nur so strotzt. Der Track wird sicher bald eine Tanzfläche in Flammen setzen, irgendwo in Braam, oder Berlin.

Bald nach den berauschenden Höhen des Dancefloors biegt ab ins Übersinnliche. „Thokozani“ erkundet den mysteriösen, unberührten Raum, der vor allem Heilern bekannt ist, und bleibt dabei hypnotisch, repetitiv und perkussiv in einem tranceartigen Klangraum. Hier wird Desires Stimme à la Faithless oder den zeitgenössischeren Serpentwithfeet zerhackt und geschraubt, während sie sowohl mit technologischen als auch traditionellen Klängen spielt, die an Instrumente wie die Marimbas und die Mbira erinnern. Später, in „The Void“, verdreht Desire Vocals in Schreie und Knurren, das manchmal wie eine sterbende Kreatur klingt. Desires Grollen führt uns immer tiefer in das Innere des Albums, wo Themen wie Depression, Monstrosität, Trauma und Männlichkeit lauern. Anders als die berühmte Anti-Apartheid-Hymne aus dem Jahr 1987 ist „Desire’s monster“ sowohl brüllend als auch weinend, wobei sich Schmerz und Wut im letzten Drittel des Albums zusammen kristallisieren.

In „Uncle Kenny“, dem Schlussstück von Desire, geht es um Themen wie Trauer und Trauma, wobei Desire in Nakhane-ähnlicher Klarheit singt: „Es ist ein Raum, es ist ein leerer Raum / in dem Dämonen in meinem Angesicht spielen“ und später „Ich bin nicht wie ich früher war… Ich habe viel durchgemacht“, und noch später, elegisch: „Ständiger Verlust prüft meinen Glauben […] Ich fühle mich allein / und gehe in einem Lichtstrahl unter“. Unendlich zärtlich, summend vor Verlust. Dieser Faden wird in „Ntokozo“ aus einer anderen Perspektive wieder aufgegriffen, mit Jazz-Piano- und Kontrabass-Schnörkeln, die an südafrikanische Wunder wie Thandi Ntuli, Bokani Dyer und Benjamin Jephta erinnern. Hier knurrt Desire vor einem Hintergrund aus jazziger Asche und Rauch: „Du spielst mit meinen Gefühlen / du spielst mit meiner Zeit / du versuchst mich zu töten“, und erinnert damit an berüchtigte Tragödien wie die Ermordung des Trompeters Lee Morgan durch seine Frau Helen Moore in den frühen Siebzigern.

Es ist daher passend, dass das letzte Kapitel von Desire den Titel „Studies in Black Trauma“ trägt. Gleichzeitig ist „Studies in Black Trauma“ eine erschreckende, experimentelle Skizze seines Themas, eine beängstigende und meisterhafte Erkundung von Tod, Gewalt und Göttlichkeit, überschwemmt von Schüssen und Störungen. Mit S’bonakaliso Nene, besser bekannt als Gyre von Queernomics, ist „Studies in Black Trauma“ verstörend und evokativ und spielt an den Rändern des experimentellen Sounds.

Wir sind unverkennbar und unbestreitbar gesegnet, eine kunstschaffende Person wie Desire in unserer Mitte zu haben. Das Debüt ist ein ungemein großzügiges Geschenk, das vor Komplexität strotzt, hartnäckig experimentell ist und von einer wilden Originalität durchdrungen wird. Die Entstehung von Desire war, laut eigener Aussage „eine so lange, schwere Reise, dass ich mich fühle, als sei ich gerade transzendiert.“ Mögen Desire sich in der eigenen Transzendenz sonnen, so wie wir gesegnet sind, uns in Desires Kunst zu transzendieren.

Maneo Mohale ist Redakteur*in, feministische Autor*in und Dichter*in. Mohales Arbeiten sind in verschiedenen lokalen und internationalen Publikationen erschienen, vor allem in Bitch Media, wo Mohale 2016 Global Feminism Writing Fellow war. Mohale zweimal auf der Longlist für den Sol Plaatje EU Poetry Anthology Award & ihr* Debüt-Gedichtband „Everything is a Deathly Flower“ kam auf die Shortlist für den Ingrid Jonker Poetry Prize 2020. Bild: © Zanele Muhoni
Gefördert durch die Kulturstiftung des Freistaates Sachsen. Diese Maßnahme wird mitfinanziert durch Steuermittel auf der Grundlage des vom Sächsischen Landtag beschlossenen Haushaltes.

Blick Bassy

Der kamerunische Musiker Blick Bassy ist in aller Munde. Über sein politisches Engagement und seine metaphysische Musik.

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Literatur

Die geheimen Leben der Frauen des Baba Segi

Die geheimen Leben der Frauen
des Baba Segi
von Aisha Obiagwu

Lola Shoneyin erzählt in ihrem Debütroman die Geschichte einer wohlhabenden Familie im heutigen Nigeria, die in eine Krise gerät, als der Patriarch Baba Segi eine junge, gut ausgebildete vierte Frau in seine polygame Ehe bringt.

Das geheime Leben von Baba Segis Frauen spielt in der alten südwestlichen Stadt Ibadan und begleitet das Leben eines Polygamisten, seiner vier Ehefrauen und ihrer sieben Kinder. Der Patriarch, Ishola Alao, auch bekannt als Baba Segi, ist ein frecher, ungebildeter, aber wohlhabender Yoruba-Mann, der in seiner großen Familie und seinem unglaublichen Reichtum schwelgt. Seine Ehefrauen, Iya Segi, Iya Tope und Iya Femi, sind ebenfalls ungebildet, aber alle drei sind stolz darauf, Mitglieder dieses wohlhabenden Haushalts zu sein. Iya Segi ist die erste Frau und die Mutter von Segi und Akin, den ältesten Kindern von Baba Segi. Die zweite Frau ist Iya Tope, die Mutter von Tope, Folake und Motun. Sie wird im Buch als fügsam beschrieben, und ihre Mädchen sind genauso wie sie. Iya Femi ist die dritte Frau und Mutter von Femi und Kole. Obwohl die drei Ehefrauen in einem gewissen Maß an Harmonie zu koexistieren scheinen, hüten sie ein gemeinsames Geheimnis, das alles zerstören könnte, was sie aufgebaut haben. Die Angst davor wird noch realer, als Baba Segi beschließt, erneut zu heiraten. Diesmal bringt er eine jüngere, besser ausgebildete Frau mit nach Hause. Ihr Name ist Bolanle.

Bolanle fällt auf wie ein wunder Daumen in ihrem neuen Haushalt. Sie ist gebildet und kultiviert und kommt aus einer gut situierten, großbürgerlichen Familie. Auf den ersten Blick scheint es für eine Frau wie sie unschicklich zu sein, mit einem Mann wie Baba Segi zusammen zu sein, und auch ihre Familie missbilligt die Verbindung ganz entschieden. Im Laufe der Geschichte entdecken wir jedoch ihre Gründe. Auch sie hat ein Geheimnis, und sie sieht ihre Entscheidung, sich dieser Familie anzuschließen, als eine Möglichkeit, weiterzukommen. Trotz ihrer Bereitschaft, friedlich mit dem Rest der Familie zusammenzuleben, werden ihre Bemühungen von den anderen Frauen, deren Kindern und sogar von Baba Segi selbst mit Verachtung gestraft. Trotz alledem ist sie fest entschlossen, in dieser Familie zu bleiben und die Dinge zum Laufen zu bringen.

Lola Shoneyin

Die Geschichte in diesem Buch erkundet viele Themen, die den Leser:innen in vielen Teilen Nigerias nur allzu vertraut sind. Rivalität in polygamen Häusern, Patriarchat, Vaterschaftsbetrug, Untreue, Unfruchtbarkeit und wie sie in der nigerianischen Gesellschaft wahrgenommen wird, und so weiter, sind alle Teil der Erzählung. In dieser Geschichte verwebt Shoneyin gekonnt das Leben jedes dieser Charaktere, entwickelt und entwirrt sie mit jedem neuen Kapitel, und jede Enthüllung lässt die Lesenden sowohl schockiert als auch begeistert zurück. Geheimnisse werden enthüllt, Leben werden komplexer, und in den letzten Momenten gibt es keine Cliffhanger. Nur unbestreitbare Wahrheit und Klarheit.

Das Tempo der Geschichte ist wunderbar, und die Autorin führt den Leser Kapitel für Kapitel in das Leben der Hauptfiguren ein. Der allgemeine Ton der Erzählung ist geradlinig, und die Auflösung der Handlung ist rasant, was dieses Buch zu einem absoluten Pageturner macht. Shoneyins Prosa ist poetisch und musikalisch, die Worte auf der Seite singen, dennoch gibt es keine verschachtelten Sätze und jedes Wort hat seinen Platz. Jeder ihrer Charaktere hat seine eigene starke, einzigartige Stimme, und selbst mit dem Einsatz von Rückblenden von Zeit zu Zeit, ist es leicht, der Handlung zu folgen und zu unterscheiden zwischen jeder Stimme und Geschichte.

Die geheimen Leben der Frauen des Baba Segi ist vieles: Es ist urkomisch, spannend, schockierend und insgesamt eine wunderbare Lektüre. Shoneyins schriftstellerisches Können ist pure Schönheit, und dieses Debüt räumt ihren einen Platz als Ausnahmeautorin ein.

Literandra

Diese Besprechung erschien im englischen Original bei Literandra, einer gemeinnützigen digitalen Plattform, die literarische Kunstformen, die vom afrikanischen Kontinent ausgehen, vorstellt und zelebriert.

Lola Shoneyin, 1974 in Ibadan, Nigeria geboren, ist eine Dichterin und Autorin. Nach dem Besuch verschiedener englischer Internate kehrte sie nach Nigeria zurück, um dort ihre Sekundarausbildung und ihren Bachelor abzuschließen. Ihr Debütroman „Die geheimen Leben der Frauen des Baba Segi“ erschien 2009 in Großbritannien. Shoneyins Arbeit wird maßgeblich durch ihr Leben beeinflusst, so auch der vorliegende Roman. Ihr Großvater mütterlicherseits, HRH Abraham Olayinka Okupe (1896 – 1976), war der Herrscher von Iperu Remo und hatte fünf Ehefrauen. Ihr Schwiegervater ist Wole Soyinka, der 1986 als erster Afrikaner den Nobelpreis für Literatur erhielt. Shoneyin lebt in Abuja, Nigeria, wo sie Englisch und Schauspiel an einer internationalen Schule unterrichtet.
Die geheimen Leben der Frauen des Baba Segi, Edition Büchergilde, Frankfurt am Main 2014.

Blick Bassy

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Fotografie Musik

Women in African Music

Women in African Music
eine virtuelle Fotoausstellung

Die virtuelle Fotoausstellung würdigt Frauen in der afrikanischen Musikbranche und kann noch bis zum 30. Juni besucht werden

Michael Tubes, ein britisch-nigerianischer Fotograf, hat über zehn Jahre lang Bilder von afrikanischen Musikerinnen gemacht.
Diese Bilder und andere Objekte sind nun Teil der virtuellen Ausstellung „Women in African Music„, die die Künstlerinnen und die Menschen hinter den Kulissen feiert.
Die diesjährige Ausstellung, die von Sounds Of Africa organisiert wird, ist auch drei Tänzerinnen gewidmet, die im Jahr 2020 verstorben sind: Kodak aus Nigeria, Nicole aus Ghana und Drey aus Kamerun.

© Michael Tube

Das Projekt hat zum Ziel, weibliche Künstlerinnen und diejenigen hinter den Kulissen zu feiern, die sonst oft im Hintergrund stehen. Frauen, so Tubes, würden häufig fünfmal so hart arbeiten wie Männer, aber viel seltener die Lorbeeren ernten. Außerdem möchte Tubes, der insgesamt zehn Jahre an dem Projekt arbeitete, auf Herausforederungen, zum Beispiel Hasskommentare im Netz, aufmerksam machen, denen die Musikerinnen häufig ausgesetzt sind.

Blick Bassy

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Film

Gefangen in der Geschichte

Gefangen in der Geschichte
Interview mit Filmemacher John Gutierrez - von Dylan Valley

Der neue in Kapstadt spielende Film des Regisseurs John Gutierrez handelt von Kolonialismus, Vertreibung und der komplizierten Beziehung des Menschen zur Natur.

Die Meeresschnecke Abalone ist eine heiße Ware auf dem Schwarzmarkt. Sie ist ein Luxuslebensmittel, besonders im Fernen Osten und in Europa begehrt. Es ist daher nicht verwunderlich, dass sie auch das Lebenselixier von Fischerfamilien der Arbeiterklasse ist, die die Meeresmolluske aus geschützten Gewässern wildern. Große Syndikate, die oft mit dem Drogenhandel oder Revierbanden verbunden sind, agieren als Zwischenhändler mit dem Markt. Südafrika, insbesondere die Küste um Kapstadt, ist ein wichtiger Knotenpunkt in diesem illegalen Handel. Erst Anfang dieses Monats hat die Polizei in Kapstadt an einem Tag 65 mutmaßliche Abalone-Wilderer festgenommen.

Sons of the Sea heißt der neue Spielfilm des mexikanisch-amerikanischen Regisseurs John Gutierrez. Der Film hatte seine Premiere bei Cinequest im März 2021 und wird erneut beim Durban International Film Festival in Südafrika zu sehen sein, das vom 22. Juli bis 1. August 2021 stattfindet. Der Film spielt an der Küste der False Bay in Kapstadt. Die Handlung folgt zwei Brüdern aus den „council flats“ von der armen Seite des malerischen Fischerdorfes und Touristenortes Kalk Bay. Einer der Brüder stolpert über eine Ladung gewilderter Abalonen, oder Perlemoen, wie sie vor Ort genannt werden. Der ältere Bruder Mikhail (Marlon Swartz) sieht darin eine Möglichkeit, dem Ghetto zu entfliehen, während der Fund für den jüngeren Bruder Gabe (Roberto Kyle) eher das Ende einer vielversprechenden Zukunft bedeuten könnte. Während sie einen Plan ausarbeiten, um die Abalone auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen, beginnt ein abtrünniger Stadtrat (Brendon Daniels), der seine eigene persönliche Tragödie zu bewältigen hat, sie zu jagen.

Ohne jemals didaktisch zu sein, berührt der Film die Themen Kolonialismus, Vertreibung und die komplizierte Beziehung des Menschen zur Natur. Es ist ein wunderschön gedrehter, authentisch gespielter Thriller, der gut auf Festivals laufen wird. Gutierrez lebt in Kapstadt (seine Lebensgefährtin ist die gefeierte südafrikanische Autorin und Regisseurin Nadia Davids, die Sons of the Sea mitproduziert hat), und wir trafen uns, um über den Film und seine Themen zu sprechen, über seine dokumentarische Herangehensweise an die Fiktion und die Ähnlichkeiten zwischen seiner Heimat Kalifornien und seinem derzeitigen Zuhause an der Spitze Afrikas.

DV: Dieses Projekt ist eindeutig ein Herzensprojekt. Wie hat das begonnen?

JG: Es begann 2013, als ein befreundeter Produzent und ich nach Kapstadt kamen, um eine Geschichte für einen Spielfilm zu suchen. Ich sagte ihm: „Alter, wir müssen den Zug nehmen, nach Kalk Bay fahren und du musst dir die Küste ansehen.“ Das taten wir und nahmen ein paar Kleinbildkameras mit, hingen im Hafen herum, machten Fotos und sprachen mit den Leuten … wir wussten, dass es dort etwas gab. Wir wussten nur nicht, was die Geschichte war, die ergab sich dann einfach im Hintergrund.

2018 hatte ich ein Drehbuch geschrieben, ich wurde (dem Produzenten) Khosie Dali durch Imran Hamdulay vorgestellt, der den Film auch produzierte und das Produktionsdesign übernahm. Ich schrieb ein Drehbuch mit dem Titel „Lie of the Land“ über eine weiße Familie, die in ein Haus in Protea Village einzieht, und die Leute, deren Haus es war, versuchen, es zurückzubekommen. Es war ein bisschen ehrgeizig für einen ersten Spielfilm, und Khosi meinte: „Ich glaube nicht, dass wir das mit 5.000 Dollar machen können!“ Ich habe niedrig angefangen. Ich wusste, wir könnten mehr Geld auftreiben, aber mir war klar, dass wir es mit wenig Geld machen mussten.
Also verwarf ich die Idee und beschloss, etwas im Dokumentarstil zu machen – mit ein paar Schauspielern und einer sehr einfachen Geschichte. Ich begann, über meine eigene Heimat in Kalifornien nachzudenken und über die Themen, die ich erforschen wollte, und ich wollte die Brüderlichkeit erforschen. Ich griff auf diese alte Geschichte aus der mexikanisch-amerikanischen Gemeinschaft zurück, in der es um einen Taucher namens Mechudo geht, der im Rahmen eines Wettbewerbs taucht. Er wird gierig und holt sich die größte Perle und stirbt im Wasser. Es gibt viele Adaptionen dieser Geschichte. Er war übrigens auch ein Yaqui-Indianer, das ist eine unglaubliche Volksgruppe, von der meine Familie abstammt. Diese Geschichte wurde von John Steinbeck in der Novelle Die Perle aufgegriffen und das wurden die beiden Inspirationen, von denen ich dachte, dass sie etwas sein könnten, das ich nach Kapstadt verpflanzen könnte. Von da an fing ich an, nach Kapstadt zurückzukehren und mit den jungen Leuten zu sprechen, die in den Fischerhütten leben, mit ihnen abzuhängen, sie beim Surfen zu beobachten und so weiter. Mich also der Geschichte aus einem dokumentarischen Blickwinkel zu nähern, ohne wirklich sicher zu sein, wohin sie führen würde. Ich hörte kleine Stücke von dem, womit sie täglich zu tun hatten. Etwa zur gleichen Zeit stieß ich auf das Buch The Poacher von [dem südafrikanischen Journalisten] Kimon de Greef, mit dem ich mich anfreundete. Und dann habe ich angefangen, tief in die Abalone-Szene einzutauchen, die echt unglaublich ist. Mir wurde klar, dass es hier nicht nur um Leute geht, die versuchen, das schnelle Geld zu machen, sondern um alles. Das ist eine globale Geschichte. Es geht um Menschen, die versuchen, von ihrem Meer zu leben, von dem sie nicht mehr leben können.

Bild aus Sons of the Sea

DV: Warum ist der Handel mit Abalone so eine große Sache auf dem Schwarzmarkt?

JG: Man kann in die Kriminalgeschichte einsteigen, wo es um Gangster geht, um die chinesische Triade, und es geht um Drogen, die in die Cape Flats gepumpt werden im Austausch für Abalone, die in China für Hunderte und Aberhunderte von Dollar verkauft wird. Für mich ist die Abalone, die Gabe und Mikhail finden, die Schatztruhe, der „McGuffin“, der einen durch die Geschichte führt. Im Kern der Geschichte geht es um eine Gruppe von Männern, die von einem Ort in der Welt kommen, die von diesem Ort gelebt haben, und sie wurden vertrieben. Aufgrund des systemischen Rassismus und der Geschichte des Kolonialismus kämpfen sie darum, an dem Ort zu überleben, von dem sie kommen. Und das ist eine universelle Geschichte, die sich mit meinen Leuten zu Hause verbindet; der Schwarzen Gemeinschaft, der Gemeinschaft der amerikanischen Ureinwohner:innen und der hispanischen Gemeinschaft. Wenn sie diesen Film sehen, sehen sie sich selbst darin reflektiert. Während ich also eine sehr spezifische südafrikanische Geschichte erzählte, erzählte ich in dieser Besonderheit eine globale Geschichte über das Braun- und Schwarzsein in einer Welt, die kolonisiert wurde.

DV: Es gibt definitiv viele historische und kulturelle Gemeinsamkeiten zwischen Kalifornien und Kapstadt. Haben Sie das bei Ihrer Arbeit auch bemerkt?

JG: Es gibt tiefgreifende Ähnlichkeiten in der Landschaft, besonders in der San Francisco Bay Area, wo ich herkomme, und in Kapstadt, diesem unglaublichen, atemberaubenden Zusammentreffen von Bergen und Meer. Dann gibt es die radikalen Unterschiede zwischen den Wohlhabenden und den Verarmten – obwohl diese Unterschiede in Kapstadt natürlich noch viel intensiver sind. Auf einer intimen Ebene spüre ich eine Vertrautheit zwischen dem farbigen Kapstadt und dem mestizischen Kalifornien – dieselbe Geschichte des kulturellen Zusammenstoßes, der Mischung aus Ureinwohner:innen, gewaltsam herbeigeholten Menschen und Siedlern. Auch andere Dinge sind vertraut: das Zusammenkommen der Familie in großer Zahl zum Essen, die Formung des Einzelnen als Teil eines Kollektivs, einer Gemeinschaft. Es gibt also sowohl schmerzhafte als auch schöne Markierungen der Gleichheit.

Africa is a Country

Dieser Artikel erschien im original auf englisch unter dem Titel „Trapped by history“ bei Africa is a country.

DV: Mit Blick auf die Themen Kolonialismus und Vertreibung fiel mir auf, dass es in diesem Film keine weißen Charaktere gibt, obwohl Kapstadt eine relativ große weiße Bevölkerung hat. Kapstadt wird oft so beschrieben, dass es sich sehr kolonial anfühlt, obwohl es schon Jahrzehnte in der Demokratie ist. War das eine bewusste Entscheidung und was war die Motivation dahinter?

JG: Die ursprünglichen Geldgeber empfahlen drei weiße männliche Schauspieler für die Rolle des Regierungsbeamten Peterson, aber wir (die Produzenten) trafen uns als Gruppe und beschlossen, das Angebot abzulehnen. Aus zwei Gründen: Ich wollte das Weißsein im Film dezentralisieren, obwohl es natürlich ein durchgängiges Merkmal ist. Die koloniale Prägung ist überall, in der Landschaft, in den Bildern, im gesamten sozialen Kontext/Konstrukt der Welt der Jungen. Aber es war auch wichtig, weil der Beamte aus der gleichen Welt kommen musste wie die Jungen, und in gewisser Weise sind alle vier männlichen Charaktere (vom kleinen Jungen bis zum erwachsenen Mann) repräsentativ für ein einziges Leben und wie gefangen wir in der Geschichte sein können. Außerdem tut es immer mehr weh, wenn die eigenen Leute einem Gewalt antun, das wissen wir, und es gibt immer eine schwierige, komplizierte Geschichte dahinter.

Sons of the Sea wurde im März 2020 auf dem Cinequest Film Festival in San Jose, Kalifornien (der Heimatstadt von John Gutierrez) uraufgeführt.
John Gutierrez ist ein Latinx-Autor/Regisseur, geboren und aufgewachsen in San Jose, Kalifornien.
Dylan Valley ist Mitglied der Redaktion von Africa is a Country. Er ist Filmemacher und gehört der Fakultät für Fernsehstudien der Wits University an.

Blick Bassy

Der kamerunische Musiker Blick Bassy ist in aller Munde. Über sein politisches Engagement und seine metaphysische Musik.

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Internationale Diebe!

Internationale Diebe!
von Lily Saint

Rückgabe von Benin-Bronzen nach Nigeria

Die Bundesrepublik plant, ab 2022 Benin-Bronzen, jahrhundertealte Skulpturen aus dem heutigen Nigeria, die während der Kolonialzeit entwendet wurden und sich massenhaft in europäischen Museen befinden, zurückzugeben. Es darf auch in anderen Ländern keine falschen Rechtfertigungen mehr dafür geben, Benin-Bronzen und andere geraubte Materialien in Museen außerhalb Afrikas aufzubewahren. Ein Kommentar.

1909 nahm sich Sir Ralph Denham Rayment Moor, Generalkonsul des britischen Südnigerianischen Protektorats, mit Zyanid das Leben. Elf Jahre zuvor, nach dem britischen „Strafangriff“ auf den königlichen Hof in Benin City, hatte Moor dabei geholfen, Beute aus Benin City in die Privatsammlung von Königin Victoria und in das britische Außenministerium zu bringen. Zu den von Moor und vielen anderen erbeuteten Materialien gehören die heute berühmten Messingreliefs, die die Geschichte des Benin-Königreichs darstellen – bekannt als die Benin-Bronzen. Hinzu kommen Gedenkköpfe und -tafeln aus Messing, geschnitzte Stoßzähne aus Elfenbein, Zier- und Körperschmuck, Heil-, Wünschel- und Zeremonialobjekte sowie Helme, Altäre, Löffel, Spiegel und vieles mehr. Moor behielt auch Dinge für sich selbst, darunter die Königinmutter Maske aus Elfenbein. Nach Moors Selbstmord erwarb der britische Ethnologe Charles Seligman, berühmt für die rassistische „Hamitische Hypothese“, die vielen frühen eugenischen Gedanken zugrunde lag, genau diese Maske, eines von sechs bekannten Exemplaren. Zusammen mit seiner Frau Brenda Seligman, die selbst Anthropologin war, trug Charles eine riesige Sammlung „ethnographischer Objekte“ zusammen. 1958 verkaufte Brenda die Maske der Königinmutter für 20.000 Pfund an Nelson Rockefeller, der sie in seinem inzwischen aufgelösten Museum of Primitive Art ausstellte, bevor er sie 1972 an das Metropolitan Museum of Art verschenkte. Dort habe ich sie diese Woche in New York City besichtigt – und wie Dan Hicks kürzlich in einem Tweet anmerkte, besteht eine gute Chance, dass sich ein Gegenstand aus dem Hof von Benin auch in der Sammlung eines regionalen, universitären oder nationalen Museums in Ihrer Nähe befindet, wenn Sie diesen Kommentar im globalen Norden lesen.

Für Hicks, den Autor von The Brutish Museums: The Benin Bronzes, Colonial Violence and Cultural Restitution, ist diese Provenienzgeschichte der Königinmutter Maske – und jede einzelne andere Geschichte des Erwerbs und Transfers von Objekten aus Benin City in Museen in der „entwickelten“ Welt – eine Geschichte, die mit Gewalt beginnt und endet. Tatsächlich entstand die Kategorie der ethnographischen Museen im 19. Jahrhundert genau aus der dämonischen Allianz zwischen anthropologischer Forschung und kolonialer Plünderung. Im Jahr 1919 bemerkte ein deutscher Ethnologe, dass „die Kriegsbeute, die bei der Eroberung von Benin gemacht wurde, … die größte Überraschung war, die das Feld der Ethnologie jemals erhalten hatte“. Diese sogenannte Kriegsbeute untermauerte die Daseinsberechtigung dieser Museen: das Sammeln und Ausstellen nicht-westlicher Kulturen als Beweis für den „europäischen Sieg über ‚primitive‘, archäologische afrikanische Kulturen.“ Die Gründung ethnographischer Museen, einschließlich des Pitt Rivers Museum in Oxford, wo Hicks derzeit arbeitet, „haben Morde, kulturelle Zerstörungen und Diebstähle mit der Propaganda der Rassenwissenschaft [und] mit der Normalisierung der Ausstellung menschlicher Kulturen in materieller Form verbunden“. Für Hicks ist die fortgesetzte Zurschaustellung dieser gestohlenen Objekte in schlecht beleuchteten Kellerräumen, hochmodernen Vitrinen und Privatsammlungen eine „andauernde Brutalität … die jeden Tag aufgefrischt wird, an dem ein Anthropologiemuseum … seine Türen öffnet.“

Nach diesem Buch kann es keine falschen Rechtfertigungen mehr dafür geben, Benin-Bronzen in Museen außerhalb Afrikas aufzubewahren, und auch keine weiteren Behauptungen, dass neue Ansätze im Wandel der Zeit ausreichen, um Kunstobjekte zu rekontextualisieren. Dieses Buch leitet einen eigenen Paradigmenwechsel in der Museumspraxis, im Sammeln und in der Ethik ein. Es gibt zwar schon frühere Argumente für die Rückgabe von Beständen westlicher Museen an afrikanischer Kunst (vor allem Felwine Sarr und Bénédicte Savoys Bericht zur Rückgabe afrikanischer Kulturgüter), aber der Umfang von Hicks‘ Argumentation ist außergewöhnlich. In einem Kapitel nach dem anderen lässt er die Belagerung Benins und ihr Nachleben in Museen auf der ganzen Welt Revue passieren, wobei er geschickt zwischen historischen Perspektiven und konzeptionellen Rahmenüberlegungen wechselt. Aus Hicks‘ detailliertem Anhang erfahren wir, dass diese gestohlenen Objekte in etwa 161 verschiedenen Museen und Galerien weltweit zu finden sind, vom British Museum bis zum Louvre in Abu Dhabi, mit nur 11 auf dem afrikanischen Kontinent.

Einen Teil des Buches widmet Hicks einer Art konventioneller Geschichtsschreibung, indem er nachzeichnet, wie die „Strafexpedition“ gegen Benin von einer Reihe von Personen und Institutionen in Aktiengesellschaften, dem Militär, der britischen Regierung und der Presse gerechtfertigt, geplant und finanziert wurde. Die britische „Expedition“ von 1897 nach Benin City im heutigen Nigeria wurde von den Briten als notwendige „strafende“ Reaktion auf die Ermordung von mindestens vier weißen Männern verteidigt. Diese Männer waren ermordet worden, als sie versuchten, in die Stadt Benin zu gelangen, obwohl der Oba ihnen zuvor strikt untersagt hatte, die Stadt zu betreten, da ihnen sonst der Tod drohen würde. Hicks zeichnet nach, wie die Briten regelmäßig Gründe für diese Art von Vergeltungsgewalt fabrizierten (oft sogar im Namen der Abolition), um zu verschleiern, was in Wirklichkeit eine Verkettung von sich überschneidenden „Kleinkriegen“ und Strafexpeditionen war, die bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurückreichen.

Africa is a Country

Dieser Artikel erschien im englischen Original bei Africa is a Country unter dem Titel „International thief thief“

Eine Anhäufung von Details nach der Hälfte des Buches – die Manöver und Angriffslinien, die Kataloge von Offizieren, Hausa-Soldaten und Trägern, das Gewicht und die Anzahl und Typen von Gewehren und anderen Waffen – lässt es in der Mitte ein wenig durchhängen. Während dies die Aufmerksamkeit derjenigen Leser wecken wird, die daran interessiert sind, die ultragewalttätigen Abgründe des Kolonialismus und seine eklatante Missachtung der rechtlichen Grenzen dessen, was im Krieg erlaubt war, auszuloten (wir erfahren zum Beispiel von Kugeln, die abgefeilt wurden, „um sie in expandierende Kugeln umzuwandeln [um] eine größere Wunde zu verursachen, wenn sie ein menschliches Ziel trafen“), empfehle ich denjenigen, die am meisten an Hicks‘ Argumenten über das ethnographische Museum heute interessiert sind, die letzten Kapitel zu überspringen.

Denn schließlich erzählen Hicks‘ Details eine Geschichte, die in verschiedenen Inkarnationen leidvoll erzählt und wiedererzählt wurde: eine Erzählung von Extraktion, Ultragewalt, Rassismus. Der eindringlichste Beitrag von The Brutish Museums liegt letztlich in Hicks‘ Einschätzung und Verurteilung des gegenwärtigen Zustands des Museumskuratoriums, insbesondere in anthropologischen Museen und verwandten Institutionen.

Die Komplizenschaft von Museumskuratoren und -mitarbeitern bei den Bemühungen, die Plünderungen zu rechtfertigen, ist nicht auf die frühen Sammler und Anthropologen beschränkt. Hicks beklagt die rhetorischen Tricks zeitgenössischer Kuratoren und Museumsbeamter, die das Problem, das den Erwerbungen der Museen zugrunde liegt, beschönigen, indem sie stattdessen argumentieren, dass Museen zu „internationalen“, „grenzenlosen“ und „universellen“ Räumen geworden sind, die die „Weltkultur“ präsentieren. Diese Behauptungen, dass eine Art internationale Inklusivität unter dem Banner des „Universalmuseums“ herbeigeführt werden kann und dass dies ausreicht, um die den Sammlungen selbst innewohnenden Verletzungen zu beheben, lassen die Tatsache außer Acht, dass solche Rahmen nichts dazu beitragen, die koloniale geografische Logik von Metropole und Peripherie zu überwinden, die die Museen überhaupt erst ins Leben gerufen hat.

The British Museum.

Hicks wendet sich auch gegen die Liebesaffäre der Kunstgeschichte mit den Object Studies, einem Feld, das die Bedeutung eines Objekts hauptsächlich durch seinen Kontext und seine Rezeption bestimmt sieht. Wie er betont, erlaubt uns dies oft, ein Objekt von den (oft gewaltsamen) menschlichen Geschichten zu lösen, die diese neueren Bedeutungen hervorgebracht haben. Der Missbrauch von Mary-Louise Pratts Konzept der „Kontaktzone“ als Mittel zur Organisation von Museumssammlungen gerät unter ähnlichen Beschuss, da Kuratoren es benutzt haben, um koloniale kulturelle Begegnungen als Austausch und „Verstrickungen“ zu betonen, anstatt als Beziehungen der Unterordnung und Plünderung unter Zwang.

Heute bekennt Hicks: „Eine Zeit des Nehmens weicht einer Zeit des Gebens.“ Wie Greer Valley betont hat, gab es endlose Debatten; Handeln ist der einzig mögliche Weg nach vorne. Einige Museen und Galerien sind dem Aufruf zur Rückführung gestohlener materieller Kultur gefolgt, und Museen wie das senegalesische Museum of Black Civilizations in Dakar und das bald entstehende Edo Museum of Western African Art in Benin City (entworfen vom Architekten David Adjaye) zeigen, dass sich sowohl auf der Ebene des Handelns als auch der Idee Veränderungen vollziehen.

Um die Rückführung zu beschleunigen und zu standardisieren, müssen vor allem die Museen mehr Transparenz über ihre Bestände zeigen. Hicks merkt an, dass „es … derzeit unklar ist, wie viele Schädel und andere menschliche Überreste aus Benin in Museen und Privatsammlungen überleben – obwohl mindestens fünf menschliche Zähne 1897 ihren Weg von Benin-Stadt nach London fanden und nun im British Museum in einem Wahrsagekasten, an einer Kette aufgereiht und in einer Messingmaske enthalten sind.“ Es ist für mich nicht ersichtlich, warum Museen nicht in der Lage sind, angemessen darüber zu berichten, welche Objekte sie haben und wie sie dazu gekommen sind. In den jüngsten Debatten in den USA über menschliche Überreste, die im Archäologie- und Anthropologiemuseum der University of Pennsylvania, im Smithsonian, an der Harvard University und anderswo aufbewahrt werden, werden regelmäßig ähnliche Hürden für diese Probleme der Zählung von Sammlungen aufgestellt. Aber die Kataloge müssen klar sein und öffentlich gemacht werden, und die Museen müssen sich sowohl in materieller als auch in ethischer Hinsicht verantworten. Dies, das wissen sie inzwischen alle, bedeutet, dass der erste notwendige Schritt darin besteht, zurückzugeben, was nicht ihnen gehört. Wie sie sich dann als Räume der Verantwortlichkeit neu erfinden, wird die nächste Aufgabe des Kurators sein.

Lily Saint ist Associate Professor für Englisch an der Wesleyan University und Autorin von „Black Cultural Life in South Africa“ (U. of Michigan Press 2018).

Blick Bassy

Der kamerunische Musiker Blick Bassy ist in aller Munde. Über sein politisches Engagement und seine metaphysische Musik.

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Literatur

Bleib bei mir

Bleib bei mir
Kurzbesprechung von Alessandra Bassey

Yejide hofft auf ein Wunder. Sie will ein Kind. Ihr geliebter Mann Akin wünscht es sich, ihre Schwiegermutter erwartet es. Sie hat alles versucht: Untersuchungen, Pilgerreisen und Stoßgebete – vergeblich. Dann nimmt ihre Schwiegermutter das Heft in die Hand und stellt Akin eine zweite Frau zur Seite. Eine, die ihm ein Kind schenken kann. Dabei haben sich Akin und Yejide entgegen der nigerianischen Sitten entschieden, keine zweite Frau in die Ehe zu holen. Doch jetzt ist sie da, und Yejide voller Wut und Trauer. Um ihre Ehe zu retten, muss sie schwanger werden – aber um welchen Preis? Ayọ̀bámi Adébáyọ̀s Debütroman erzählt mit emotionaler Kraft eine universelle Geschichte. Wie viel sind wir bereit zu opfern, um eine Familie zu bekommen?

Ayóbàmi Adébáyòs Roman „Bleib bei mir“, der im Erscheinungsjahr 2017 für etliche Literaturpreise auf den Long- und Shortlists stand, ist nicht nur eine eindrückliche Schilderung der politischen und sozialen Situation im Nigeria der 1980er Jahre, sondern auch eine Feier der weiblichen Facetten von Stärke und Verletzlichkeit.

Yejide, die Protagonistin, ist mit Akin verheiratet; ihre Liebesgeschichte begann auf so eine ‚bis dass der Tod uns scheidet‘ Art und Weise, wie man sie allen Menschen wünscht, die man gern hat. So begann sie jedenfalls, bis ihre Beziehung von Unfruchtbarkeit, eher gesagt Impotenz, überschattet wird – in den ersten drei Vierteln des Buches werden wir nämlich in dem Glauben gelassen, dass Yejide diejenige ist, die Schwierigkeiten hat, Kinder zu bekommen. Medizinmänner, Pastor:innen und Ärzt:innen werden für eine erfolgreiche Empfängnis einbestellt, angefleht, bezahlt und angebetet. Der Druck auf das junge Paar und vor allem auf Yejide ist so groß, dass sie schließlich an einer Pseudozyese (Scheinschwangerschaft) leidet.

Die Schilderung von Yejides Leben ist gespickt mit Herzschmerz, Schmerz, Mitgefühl und einigen Fällen von durchdringender Ironie. Akins Unfähigkeit, seine Frau zu schwängern, führt dazu, dass er heimlich eine zweite Frau heiratet, was die Beziehung von Yejide und Akin noch mehr belastet. Und als auch die Ehe zwischen Akin und seiner zweiten Frau Funmi keine Früchte trägt, kommt Akin auf eine Idee mit katastrophalen Folgen.

Literandra

Diese Besprechung erschien im englischen Original bei Literandra, einer gemeinnützigen digitalen Plattform, die literarische Kunstformen, die vom afrikanischen Kontinent ausgehen, vorstellt und zelebriert.

Während die politische Situation in Nigeria aus den Fugen gerät und bewaffnete Räuber die Familien terrorisieren, erleidet Yejide Verluste, genießt kleine Momente des Sieges und baut im Verlauf ihres Martyriums eine ungeheure Kraft auf.

In Ayóbàmis Werk sind Männer zwar eher destruktive Zaungäste in einer durch und durch patriarchalen Gesellschaft, während die Frauen stark, einfallsreich und widerstandsfähig sind. Dennoch gibt Ayóbàmi auch ihnen eine Stimme, lässt die Lesenden ihre Perspektive mitfühlen und zeigt ihre Menschlichkeit hinter der Verächtlichkeit und Zerstörungswut. Bleib bei mir ist ein wichtiges Werk, das gnadenlos zeigt, welche Herausforderungen und Nöte Unfruchtbarkeit und gesellschaftlicher Druck für Frauen und Paare bedeuten können. Yejide und Akin hätten ohne die repressiven gesellschaftlichen Erwartungen des Nigerias der 80er Jahre glücklich sein können.

Über Yejides Leben zu lesen, wird Ihnen Seelenschmerzen bereiten – nicht nur, weil es voller extremer Schmerzen und Enttäuschungen ist, sondern weil jede und jeder von uns Yejide oder Akin sein könnte. Yejides und Akins Reise wird zu Ihrer werden, während Sie dieses Buch lesen, ihre Geschichte wird Ihr Herz ergreifen.

Bleib bei mir ist ein monumentales Werk, das Licht auf ein Problem wirft, das viele haben und über das nur wenige sprechen. Es ist ein Roman, der die weibliche Stärke im Angesicht von unüberwindbaren Schwierigkeiten feiert. Ayóbàmis Roman hat sich seinen Platz unter den anderen Meisterwerken in meinem Bücherregal verdient, und Yejides Schicksal hat sich für immer in mein Herz eingebrannt.

Ayọ̀bámi Adébáyọ̀, geboren 1988 in Lagos, studierte Englische Literatur und Kreatives Schreiben unter anderem bei Margaret Atwood und Chimamanda Ngozi Adichie. Ihre Geschichten erschienen in zahlreichen Zeitschriften. Ihr Debütroman „Bleib bei mir“ wurde von der Kritik hoch gelobt, war für den Baileys Women’s Prize for Fiction nominiert und wurde in dreizehn Länder verkauft.

Blick Bassy

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Literatur Uncategorized

Für die Erde vereinen sie ihre Stimmen über Zeiten hinweg


Für die Erde vereinen sie ihre Stimmen über Altersgrenzen hinweg
von Samuel Osaze

Zum Welttag der Poesie trafen sich in Lagos altbekannte und neue Gesichter, um über umweltpolitische und Klimathemen zu dichten. Ein Bericht.

In letzter Zeit hat das Wort „Anthropozän“ in meinem Wortschatz erstaunlicherweise eine gewisse Beliebtheit erlangt. Ich gebe zu, dass das Wort selbst an dem denkwürdigen Abend, um den es hier geht, nicht ausgesprochen wurde. Es war ein kühler Abend in Lagos. Unter dem Titel ProvidusBank Poetry Café brachte das Abendprogramm Dichter und Dichterinnen unterschiedlichster Überzeugungen und Stile zusammen. Sie bekamen dort auf der Bühne eine wahrhaftige Plattform zum Austausch über ein weltbewegendes Thema: Umwelt und Klimawandel. Ich persönlich hatte jedoch das Gefühl, dass sich alle Aktivitäten der Literaturveranstaltung um den spannenden Begriff Anthropozän drehten. Damit ist die gegenwärtige Epoche gemeint, in der vor allem seit der industriellen Revolution von 1760 Klima und Umwelt hauptsächlich von menschlichen Aktivitäten geprägt werden.

Bei der Veranstaltung zum Welttag der Poesie spiegelte sich diese Sichtweise in jeder Aufführung wider, denn die Effekte unserer schädlichen menschlichen Praktiken wurden hervorgehoben. Deutlich wurde auch die Überzeugung, dass der Mensch auf die Auswirkungen seiner Taten auf Mutter Erde achten sollte, wenn er weiterhin das Wohlwollen der Erde genießen will. Da die Erde nicht für sich selbst sprechen kann, wurden Dichter und Dichterinnen an diesem Abend zu ihrem Sprachrohr. Sie schilderten die Qualen und Wunden, die Mutter Erde durch die Grobheit der Menschheit zugefügt werden.
Die Veranstaltung trug den Titel „Stimmen für die Erde: ein Abend voller Ideen, Rhythmen und Debatten rund um Umwelt und Klimawandel„. Mit dabei waren als Hauptakt der legendäre Dichter, Dramatiker, Schauspieler und Menschenrechtler Wole Soyinka und fünf namhafte Dichter:innen – Evelyn Osagie, Akeem Lasisi, Umar Abubakar Sidi, Reginald Chiedu Ofodile und Efe Paul Azino. Außerdem umfasste das Podium auch junge, aufstrebende Dichterinnen und Dichter aus ausgewählten Poesie-Kommunen in Lagos – Poets in Nigeria, AJ House of Poetry, Loudthotz und das Bariga Poets Collective. Die verschiedenen poetischen Formen schufen ein schillerndes künstlerisches Ambiente.

Das Publikum bestand hauptsächlich aus der Crème de la Crème der Kreativen, der Banker:innen und der Literaturliebhaber:innen. Sie konnten Zeugen einer Lesung von Afrikas erstem Literaturnobelpreisträger Wole Soyinka werden, der übergeordneter Gastgeber und natürlich Publikumsmagnet und Inspirationskraft der Veranstaltung war. Der gefeierte Schriftsteller und Intellektuelle Odia Ofeimun war ein besonderer Gastdichter, und er gab eine gute Vorstellung seines poetischen Können preis.

Für Mutter Erde

In seiner Eröffnungsrede zitierte Walter Akpani, der Moderator des Abends und Geschäftsführer der veranstaltenden Bank, Wangari Maathai, Friedensnobelpreisträgerin 2004, mit den Worten:

Das Thema Klimawandel ... führt uns die Tatsache vor Augen, dass wir uns auf einem Planeten befinden und dass einige der Auswirkungen dessen, was Menschen in einer Ecke der Welt tun, sich auf Menschen in einer entfernten Ecke der Welt auswirken werden. Wir mögen uns also immer noch sehr weit voneinander entfernt fühlen, aber wir sind einander wirklich sehr nahe...

Dies war nicht die erste Gelegenheit, bei der nigerianische Dichterinnen und Dichter ihre Besorgnis über den Klimawandel und Umweltverschmutzung zum Ausdruck brachten. In der Vergangenheit haben zahlreiche Dichter:innen zusammen mit Umweltschützer:innen die Verschmutzung und ihre schlimmen Folgen für das Klima angeprangert. Zu denjenigen Dichtern, die sich für die Umwelt einsetzten, gehörten zum Beispiel der verstorbene Ibiwari Ikiriko (Oily Tears of the Delta), Nnimmo Bassey (To Cook a Continent: Zerstörerische Extraktion und die Klimakrise in Afrika), Professor Tanure Ojaide (The Activists), um nur einige zu nennen. Sie alle prangern die Zerstörung der Natur an, besonders im Nigerdelta.
Ein gewisses Alleinstellungsmerkmal der Veranstaltung vom Sonntag, dem 21. März, muss jedoch angemerkt werden. Es war die Verschmelzung der Ideen von alten, mittelalten und angehenden Dichter:innen. In der Einigkeit des Zweckes erhoben sie alle ihre Stimmen für Mutter Erde. Sie waren vehement in der Verurteilung und Warnung vor den Auswirkungen der globalen Erwärmung auf die Welt und die menschliche Existenz.

Die jungen und aufstrebenden Stimmen

Das Gedicht von Evelyn Osagie nahm eine dramatische Wendung, um diese Botschaft mit Leben zu erfüllen. Sie kroch auf der Bühne herum, geschmückt mit biologisch nicht abbaubaren Abfällen wie Nylon, Plastikflaschen usw., und erzeugte damit fesselnde Bilder. Sie spiegelten wider, dass Mutter Erde es geschafft hat, sich trotz der Hindernisse der Menschheit weiter zu drehen. Evelyn Osagie beklagte in ihrer Performance die wahllose Müllentsorgung, sie schwankte und taumelte. Das Gedicht mit dem Titel „Nature’s Irate Scream“ (Der wütende Schrei der Natur) wies auf die Gefahren der Umweltzerstörung hin und stellte deren unausweichliche Folgen vor. Es erinnerte sogar an die Waldbrände am Amazonas und den katastrophalen Hagelsturm im Sommer, der die mexikanische Stadt Guadalajara irgendwann im Juni 2019 unter drei Fuß Eis begrub.
Der lyrische Dichter Akeem Lasisi beeindruckte mit seinem entspannten, aber hochrhythmischen Stil mit Einflüssen aus der mündlichen Tradition der Yoruba bei seiner Vorführung von „The Divination“. Voller präziser Metaphern, mit großzügigen Verweisen auf die Sonne und den Mond, war die eindringliche Anspielung des Dichters auf eine Szene, in der das ungebremste Abfackeln von Gas, wie es in der Landschaft des Nigerdeltas üblich ist, der Grund dafür war, dass es Monate dauerte, bis die Sonne im Osten aufging und im Westen unterging.

Der Lauf der Natur ist durch die industrielle Verschmutzung durch den Menschen stark verändert worden. So heißt es im Gedicht:

Monate nach dem Aufbruch aus dem Osten
Ist die Sonne im verweilenden Westen nicht untergegangen
Geblendet von vagabundierendem Rauch
Eine Hölle von Turbulenzen durch abfackelndes Gas

Dieses Gedicht fesselte mich aufgrund einer unvergesslichen Erfahrung an einer Gasabfackelstelle in Imiringi, Bayelsa State. Es gibt viele Beweise für den Zorn der Natur, die täglich angegriffen und an den Rand gedrängt wird. Die bittere Wahrheit ist, dass die Natur sich sicherlich eines Tages wehren wird, aber wir sind vergesslich und wollen die Folgen unseres Handelns nicht wahrhaben.
Reginald Chiedu Ofodile behauptet in seinem Gedicht „Tödliches Gerät“, dass die Angriffe des Menschen auf die Umwelt, die meist in der Stadt stattfinden, sich oft genug gegen ihn wenden! Es ist das, was den Menschen mit vielen unheilbaren Krankheiten plagt und letztlich seine Lebensspanne verkürzt. Angesichts des weit verbreiteten Glaubens, dass die Menschen auf dem Land gesünder und länger leben als die Stadtbewohner, ist diese Behauptung nicht zu beanstanden.

Lekki in Lagos, Nigeria. ©Nupo Deyon Daniel

In seinem zweiten Gedicht „Deserved Appreciation“ beklagt Ofodile die schamlose Respektlosigkeit gegenüber unserem architektonischen Erbe. Was in gesünderen Gefilden als Schatz verehrt wird, wird bei uns wenig geschätzt und sogar abgerissen. Schlimmer noch, in Lagos wurden einige unersetzliche Meisterwerke in unrühmliche Orte umgewandelt – Mülldeponien oder ein Zufluchtsort für Straßenkinder und dergleichen. Das Gedicht ist ein klarer Ruf nach einer sofortigen Änderung der Einstellung und einer Überprüfung unserer Instandhaltungskultur, die im Moment auf dem niedrigsten Stand ist. Mehr noch, die Verachtung für das architektonische Erbe erstreckt sich auch auf kulturelle Praktiken, von denen einige inzwischen verteufelt und vernachlässigt worden sind.
Umar Abubakar Sidis Gedicht „Dichter und Salamander“ entsprach dem Thema der Veranstaltung. Er forderte Dichter und Schriftsteller auf, ihre kreativen Medien zu nutzen, um die Massen über die Notwendigkeit aufzuklären, die Erde vor zerstörerischen menschlichen Aktivitäten zu schützen. Ihm zufolge befindet sich die Erde in einer Krise, daher Lasst die Dichter das Alphabet des Himmels neu schreiben, um das Ozon zu zementieren, Schichten aus Poesie und Gas zu bilden, um die Seelen der Menschen und Salamander vor dem wütenden Buchstaben der Hitze zu schützen“. Die Dichter und Schriftsteller haben eine Verpflichtung, die Erde zu schützen. Da die Feder mächtiger ist als das Schwert, ist eine dringende Kampagne unabdingbar, oder besser gesagt, die Dichter und ihresgleichen sollten ihre Bemühungen im Werben gegen die Zerstörung der Ozonschicht intensivieren.

Auf die gleiche Weise frischt Efe Paul Azinos „After the Floods“ unsere kollektive Erinnerung an die Verwüstung, die monumentalen Schäden und den Tod auf, die die Flut 2019 in Benue, Kogi, Nasarawa, Kwara und anderen Gemeinden im mittleren Gürtel Nigerias angerichtet hat. Derlei Kalamitäten sind die Rache der Natur für unsere Missachtung ihrer Gefühle. Es ist ihr einziges Mittel, um ihren Tribut zu fordern. Azinos zweites Gedicht „One for the Tribe“ war wie ein süßer Nachtisch nach einem schweren Hauptgang. Es war eine Darbietung, die den Geist des Publikums nach der Düsternis der vorherigen Darbietungen aufhellte.

„Smokes and Death“ von Bestman Michael von AJ House of Poetry beschreibt die Auswirkungen der Umweltzerstörung auf die landwirtschaftlichen Produkte und die daraus resultierende Nahrungsmittelknappheit, den Hunger und die Inflation – all das ist Quelle von Schmerz, Tränen und Tod für die Menschheit. Es weist auf die Ironie hin, dass der Mensch sich in seinem Streben nach Einkommen selbst in den Fuß schießt, indem er die Natur beschädigt – den Dreh- und Angelpunkt seines Lebens. In ähnlicher Weise trug der Dichter Increase Nathaniel von Loudthotz ‚I know What Will Kill Us First‘ vor. Das Gedicht stellt die enorme Gefahr einer verschmutzten Erde und den Aufstand im Norden einander gegenüber. Für den Dichter ist weder der „Aufstand“ noch der „Krieg im Norden“ vergleichbar mit dem Elend, das die Erde entfesselt. Was uns zuerst töten wird, „ist das, was wir Mutter Erde und ihren anderen Kindern angetan haben“.

Soyinkas Wiederkehr

Der Höhepunkt der Veranstaltung war jedoch der Auftritt des legendären Wole Soyinka (Literaturnobelpreisträger 1986), flankiert von der Schauspielerin und Herausgeberin Taiwo Ajai-Lycett und dem Schauspieler Bimbo Manuel, alle drei in blauen Astronauten-Fluganzügen, um das spaßig-heroische Gedicht „2009: A Space Odyssey‘ (für Kinder unter 90+)“ vorzutragen. Der Hauptmoderator des Abends hatte daran erinnert, dass dieser Auftritt von Soyinka zur Darbietung eines seiner Texte vielleicht der erste seit über zwei Jahrzehnten war. Es war also ein historischer Moment, dass der Dichter und Schauspieler Soyinka live auf die Bühne kam, und dann auch noch im Kostüm! Bei seinem letzten Auftritt hatte der Künstler, der oft als „Löwe des Schreibens“ bezeichnet wird, zu Ehren der berühmten Boko-Haram-Gefangenen Leah Sharibu gelesen aus einem seiner Werke vorgelesen. Viele der damals Anwesenden werden sich noch daran erinnern, dass der Achtzigjährige in Tränen ausbrach, als er zu einem bestimmten Abschnitt des Gedichts kam. Er sagte, dass ein Vers in dem Gedicht ihn sehr an das Ableben seiner eigenen Tochter Yetade erinnert habe, die vor ein paar Jahren verstorben ist.

Zunächst forderte der eigenwillige Professor das Publikum auf, sich von der Düsternis zu befreien, die im Raum herrschte. Er bemerkte, dass Poesie, vor allem durch junge Leute, oft zu ernst genommen werde:

...sie denken, Poesie sei nichts als eine feierliche, düstere und finstere Beschäftigung... Eigentlich sollte Poesie einen Sinn für Humor haben.“

Taiwo Ajai-Lycett, Wole Soyinka und Bob Manuel (von links) ©Samuel Osaze

Und bei der anschließenden Aufführung seiner 22-seitigen Sammlung „2009: A Space Odyssey“, sagte Soyinka: „Wir werden Ihnen eine halb-biografische Erfahrung vorlesen. Sie ist eine Art Helden-Mockery, um die Poesie hier mal ein bisschen aufzuhellen.“ Als dann das große Finale kam, brachte es das Publikum zum Lachen und Brüllen vor Freude. Aufgeteilt in sechs Abschnitte mit 27 Strophen, nutzt das Gedicht den Stil der heroischen Poesie, um den Traum des englischen Milliardärs-Unternehmers Richard Branson zu persiflieren. Als Gründer von Virgin Galactic träumte Branson davon, seinen Geburtstag im Jahr 2019 mit dem Gedenken an die Weltraumexpedition Apollo II zusammenfallen zu lassen. Sein Bestreben war es, Menschen in den Orbit zu befördern, um den 50. Jahrestag der ersten Mondlandung von 1969 zu feiern.

Der Preis für die Reise war mit 250.000 Dollar pro Person unverschämt hoch angesetzt. Da Dichter sich diese unerschwingliche Summe nicht leisten können, erweist sich die Persona in diesem spöttischen Heldenstück, die der Ogunkanako der NASA ist, als besonders erfindungsreich. Er nutzt die Macht der Poesie, um ein Freiticket zu ergattern, und stürzt sich zusammen mit seinen Mitstreitern in das Vergnügen der Weltraumfahrt. Die poetische Phantasie ist die Erfüllung des vergeblichen Traums des englischen Milliardärs.
Diese Vorführung war keineswegs unpassend zum Abendmotto, denn verfügbare Statistiken zeigen, dass Weltraumstarts aufgrund der Verbrennung von festen Raketentreibstoffen einen saftigen Kohlenstoff-Fußabdruck hinterlassen können. Science Focus sagt: „Viele Raketen werden jedoch mit flüssigem Wasserstoff angetrieben, der „saubere Wasserdampf“-Abgase produziert, obwohl die Produktion von Wasserstoff selbst erhebliche Kohlenstoffemissionen verursachen kann.
Nach der geistigen Wanderung mit Soyinka als poetischem Piloten verließen die Zuhörer die Veranstaltung gesättigt, weil sie ein vollwertiges Menü aus Zeilen, Reimen und Rhythmen zu Ehren unserer so sehr missbrauchten Mutter Erde zu sich genommen hatten, und vielleicht mit dem Vorsatz, sich fortan für die Erhaltung der endlosen, großzügigen Gaben der Natur einzusetzen.

Die Feier zum Welttag der Poesie in Lagos verdient wirklich eine jährliche Wiederholung.
Sam Osaze ist Festivalverwalter für das jährliche Buch- und Kunstfestival der CORA Arts & Cultural Foundation in Lagos. Im Jahr 2016 schloss er sich Menschenrechtsaktivist:innen an, die für die Freilassung des Performance-Künstlers Jelili Atiku kämpften. 2014 war er Programmbeauftragter des Lagos Book & Arts Festival. Sein erster Gedichtband, Ein Esan-Mädchen tanzen sehen, erscheint im Juli bei Akono.
Gefördert durch die Kulturstiftung des Freistaates Sachsen. Diese Maßnahme wird mitfinanziert durch Steuermittel auf der Grundlage des vom Sächsischen Landtag beschlossenen Haushaltes.

Blick Bassy

Der kamerunische Musiker Blick Bassy ist in aller Munde. Über sein politisches Engagement und seine metaphysische Musik.

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Literatur

Ein seltsam bewegendes Stück Belletristik

Ein seltsam bewegendes Stück Belletristik
von Wamuwi Mbao

Wamuwi Mbao rezensiert Burnt Sugar, den für den Booker Prize nominierten Roman von Avni Doshi. Im Herbst erscheint die deutsche Übersetzung "Bitterer Zucker".

Der ziemlich egoistische Glaube, dass die eigenen Eltern immer nur das Beste für einen wollen, führt unweigerlich zu der Art von Desillusionierung, die am häufigsten in Philip Larkins bekanntem Gedicht This Be the Verse erwähnt wird. Sie kennen das Gedicht (wenn nicht, sprechen Sie mit einem x-beliebigen Absolventen der englischen Literatur, der älter als 25 ist, über die Versäumnisse Ihrer Eltern). Der Prozess des Trauerns über den bevorstehenden Verlust des ersten Erwachsenen, in den man eine nennenswerte emotionale Bindung investiert, ist besonders zermürbend, wenn der Elternteil einem fremd wird. Die Trauer wird noch verstärkt, wenn der entfremdete Elternteil die eigene Mutter ist. Väter sind ausnahmslos Enttäuschungen, die sich von der Szenerie der Kindheit entfernen, wohingegen die Mutter die erste Schlichterin und Vertraute ist – und somit die erste Verräterin, wenn sie unsere falsche Vertrautheit enttäuscht, indem sie es wagt, nicht unserer starren Vorstellung davon zu entsprechen, wer sie ist.

Man könnte sagen, dass dies keine besonders heiteren Überlegungen sind. Und doch wird in Avni Doshis Bitterer Zucker (ein etwas besserer Titel als der wenig vielversprechende Girl in White Cotton, unter dem der Roman in Indien erschienen ist) die Diskrepanz zwischen der Erinnerung einer Tochter und einer Mutter an die Verflechtung ihrer Leben zu einer diagnostischen Erzählung, die auf 280 Seiten in knapper, sehr persönlicher Prosa die Verletzungen der Generationen nachzeichnet. Im Zeitalter der großen, kostspieligen Romane ist Bitterer Zucker ein segensreicher, geschmeidiger Roman auf einer Booker-Shortlist, die oft vor wortreichen, überfüllten Türstoppern ächzt.

Der Roman wird von Antara erzählt, einer mittelmäßig erfolgreichen Künstlerin in den Dreißigern, die mit ihrem Mann Dilip in Pune im Westen Indiens lebt. Er dreht sich im Wesentlichen um Antaras angespannte Beziehung zu ihrer Mutter Tara. Die Tochter (die das Spiegelbild ihrer Mutter, die Un-Tara, ist) befindet sich in einem Zustand tiefer innerer Zerrissenheit, die durch das Gefühl hervorgerufen wird, dass ihre Mutter ihre Tage leben wird, ohne für den Schaden, den sie ihrem Kind zugefügt hat, zur Rechenschaft gezogen zu werden:

Der Grund ist einfach: Meine Mutter vergisst, und es gibt nichts, was ich dagegen tun kann. Es gibt keine Möglichkeit, sie an die Dinge zu erinnern, die sie in der Vergangenheit getan hat, keine Möglichkeit, sie mit Schuldgefühlen zu überschütten. Früher erwähnte ich ihre Grausamkeiten beiläufig beim Tee und sah zu, wie sich ihr Gesicht zu einem Stirnrunzeln verzog. Jetzt kann sie sich meist nicht mehr daran erinnern, wovon ich spreche; ihre Augen sind von ewiger Heiterkeit entrückt.

Antara steht vor der Aussicht, die Verantwortung für Tara übernehmen zu müssen, zurückgewiesen von ihrem eigenen Schuldgefühl und verärgert darüber, dass andere (ihr Partner, die Ärzte) ihre kühle Haltung gegenüber ihrer Mutter nicht verstehen werden. Der Arzt, den sie konsultieren, besteht darauf, dass ihr Gehirn in Ordnung ist, und ihr Mann tut so, als ob mit Tara alles in Ordnung wäre, weil er es nicht besser weiß. Aber für Antara ist die Frustration umso schlimmer, weil sie die Einzige zu sein scheint, die es sieht:

[...] die Mutter, an die ich mich erinnere, erscheint und verschwindet vor mir, eine batteriebetriebene Puppe, deren Mechanismus versagt. Die Puppe wird leblos. Der Bann ist gebrochen. Das Kind weiß nicht, was real ist und worauf man sich verlassen kann. Vielleicht hat es das nie gewusst. Das Kind weint.

Taras früh einsetzende Senilität ist für Antara erschütternd, denn Krankheit ist der große Homogenisator, der alles Besondere zurücknimmt und den geliebten Menschen durch eine Reihe peinlicher Episoden seiner Identität beraubt. Als ruheloser Charakter, dessen Rebellion gegen die Rollen, die von ihm erwartet wurden, einen hohen Preis hat, wird Taras langjährige Vernachlässigung ihrer Tochter in den Fokus gerückt, als ihr zunehmend löchriger Geist Antara dazu zwingt, sie genauer im Auge zu behalten.

Was folgt, ist ein beunruhigender Streifzug durch die Lebenswelten der beiden Frauen. Fühlt sich Antara zu Recht angegriffen von dem Leid, das sie durch ihre Mutter erfahren hat? Sicherlich ist Tara eine robuste, eigennützige Figur, die durch ihre Demenz plötzlich verletzlich geworden ist, und sie lenkt ihre mangelnde Fürsorge für die junge Antara als Teil einer Vergangenheit ab, die sie nicht wieder erleben möchte. Zu dieser Vergangenheit gehört, dass sie Antaras Vater verlässt und Zuflucht in einem Ashram sucht, der von einem verlogenen, räuberischen Guru geleitet wird, dem sie ihre ganze Aufmerksamkeit schenkt, bis sie für einen jüngeren Anhänger verschmäht wird. Während Tara sich dem Guru hingibt, ist das Kleinkind Antara sich selbst überlassen. Später wird sich die erwachsene Antara darüber ärgern, was ihre Mutter (die eine bemerkenswerte Verleumderin ist) zu vergessen vorzieht. Wir sehen, dass das, was Antara für wichtig hält, für ihre Mutter eine besondere Bedeutung haben kann oder auch nicht, und hier eröffnet sich uns der Schlüsselpunkt des Romans.

Bitterer Zucker erinnert uns daran, dass Kindheit eine Idee über die Beziehung von Kindern zum Erwachsensein ist, die von Erwachsenen erfunden wurde, um ihre Neurosen zu erklären. Das, woran man sich aus der Sicht eines Erwachsenen an seine Vergangenheit erinnert, ist immer gefärbt von den Handlungen der Erwachsenen, die uns mit ihren betrunkenen, psychopathischen, unehrlichen oder grausamen Handlungen am tiefsten enttäuscht haben. Antaras Versuche, das Abgleiten ihrer Mutter in die Demenz durch Erinnerungen, Stichwortkarten, Nacherzählungen und andere Gedächtnisleistungen zu verlangsamen, sind auch Versuche, ihr Verständnis der Ereignisse an eine einheitliche Erzählung anzugleichen, um ihrer Mutter besser verständlich zu machen, was sie falsch gemacht hat. Dies bildet den Grundton einer Erzählung, die durch Antaras freie Assoziation zwischen Vergangenheit und Gegenwart hin und her springt. Je mehr Details Antara über ihre Mutter preisgibt, desto mehr wird uns ein Bild ihrer eigenen Entwirrung präsentiert.

Es ist der Schmerz der Kindheit, an den sich Antara am meisten erinnert. Als Tara den Ashram abrupt verlässt, weil sie vom Guru zugunsten eines jüngeren Liebhabers verschmäht wurde, verbringen die trotzige Mutter und die unglückliche Tochter ihre Tage in ungebührlichem Elend, betteln vor dem Club, dessen Gönner sie mit einer Mischung aus Mitleid und Verachtung betrachten, die das Bürgertum oft für diejenigen aufbringt, die es daran erinnern, wie leicht es ist, in den Ruin zu stürzen.

Von ihren Großeltern mütterlicherseits vor diesem deprimierenden Schicksal gerettet, muss Antara anschließend einen Aufenthalt in einem Internat über sich ergehen lassen, wo sie eine stotternde, instabile Freundschaft schließt (einer der interessanten Stränge des Romans sind Antaras Beziehungen zu anderen Frauen, die entweder abrupt abbrechen oder in Verwirrung und Missverständnissen versanden) und eine Essstörung entwickelt. Essen taucht im Roman immer wieder als Ort der Akzeptanz oder Ablehnung auf: Wir können leicht einen Bogen spannen von Tara, die ihre kleine Tochter unbeaufsichtigt lässt, während sie sich um den Guru kümmert, bis hin zu Antara, die ihre Mutter am Ende des Romans mit Zucker vollstopft.

Ironischerweise ist es ihre Mutter, deren Gesundheit in Frage gestellt ist, aber es ist Antara, die unaufhörlich durch die Vergangenheit kreist, während sie versucht, Taras Verhalten mit den Erwartungen in Einklang zu bringen, die mit der Rolle, die der Titel „Mutter“ bedeutet, verbunden sind. Die Wut zwischen den beiden flammt an überraschenden Stellen auf, während wir nach und nach die Konturen ihrer Unstimmigkeiten erkennen. Unsere Sympathie schwankt zwischen Mutter und Tochter: Antara ist eine Erzählerin, deren Verlässlichkeit unberechenbar wogt, und die Frage der Schuldzuweisung wird immer unklarer, je mehr wir über beide Frauen erfahren.

Einer der interessantesten Beiträge von Bitterer Zucker besteht in der Reflexion über Geschlechterrollen. Die Männer – Dilip, Antaras Vater, der Guru, mit dem Tara flüchtet – sind abstoßend ineffektiv: selbstverliebt, angeberisch, völlig und oft absichtlich vergesslich, treiben sie durch die Geschichte und tragen wenig bei. Dilip, ein amerikanisierter Migrant, der mit fröhlichen Banalitäten handelt und ohne komplexe Gedanken durch die Welt geht, könnte genauso gut in einem anderen Roman vorkommen. Antaras wachsende Frustration über ihn, die von Doshi mit ironischem Understatement pointiert wiedergegeben wird, findet kein Ventil, weil die Gesellschaft, in der sie leben, auf dem unhinterfragten Glauben an männliche Überlegenheit aufgebaut ist. Das schlägt sich oft in Momenten nieder, die ein reumütiges Lachen hervorrufen. Als sie die Arztpraxis nach einer frustrierenden Konsultation verlassen, fragt der Arzt sie, ob sie mit einem männlichen Arzt eines Krankenhauses in Bombay verwandt seien. Ich sage ihm, dass wir das nicht sind“, berichtet Antara, „und er sieht enttäuscht aus, traurig für uns. Ich frage mich, ob die Erfindung einer Verwandtschaft hätte helfen können.‘

Doshis Text spricht ein breiteres gesellschaftliches Problem an. Antara, Dilip und ihre Freunde sind vielschichtige Charaktere, die einer Generation angehören, die von den stillen Kämpfen ihrer Eltern profitieren will: Bitterer Zucker nimmt keinen Umweg über die Galerie der postkolonialen Kämpfe. Wenn Antara und ihre Kohorte sich treffen, dann tun sie das in einem ehemals kolonialen Club, der zwar physisch an das britische Raj erinnert, aber auch etwas anderes geworden ist. Aber sie gehören auch zu einer Generation, die die tief gehegten Aufstiegsvorstellungen ihrer Eltern zu enttäuschen droht, für die der Umzug in den Westen und die fade Assimilation die ultimative Errungenschaft sind.

Ironischerweise findet die Mutter, die sich zutiefst wünscht, von der Last von Antaras Liebe befreit zu sein, ihre Tochter weiterhin an ihrem Rockzipfel. Als Antara in einem Moment der Verärgerung ihrer Mutter vorwirft, nur an sich selbst zu denken, blockt Tara den Vorwurf kühl ab: „Es ist nicht falsch, an sich selbst zu denken.“ Ihre Weigerung und Unfähigkeit, die Schande ihrer schlechten Bemutterung auf sich zu nehmen, lenkt uns darauf, über Taras eigene Beweggründe nachzudenken. Sie ist keine besonders verlässliche Erzählerin, und ihre Angst vor dem Leben, das sie mit Dilip eingeht, scheint Ausdruck eines ungeklärten inneren Konflikts darüber zu sein, welche Verantwortung durch Liebesbande entsteht.

The Johannesburg Review of Books

Dieser Text erschien zuerst auf englisch bei the JRB unter dem Titel „An oddly moving piece of fiction — Wamuwi Mbao reviews Burnt Sugar, Avni Doshi’s Booker Prize-shortlisted novel“

So sehen wir, wie Antara anfangs gegen die selbstgefällige Nichtigkeit ankämpft, sich in den Dreißigern an jemanden zu binden, der sicher ist, mit Kindern und spätkapitalistischer ästhetischer Vergessenheit droht. Doch schließlich üben die orthodoxen Regime so viel abergläubische Anziehungskraft auf sie aus, dass sie die einzigen Barrieren zu sein scheinen, die Antara davor bewahren, in eine abgrundtiefe Dunkelheit zu stürzen. Niemand will allein sterben. In solchen Momenten ist der Roman am stärksten: Die Texturierung der Beziehungen zwischen den Menschen widersteht dem Solipsismus und erinnert an ähnliche Momente im Werk von Autorinnen wie Sheila Heti oder Kate Zambreno. Aber wo diese Autorinnen einen eindeutig vanilligen „white-girl“-Modus pflegen, greift Doshis Auge die Absurditäten heraus und beschreibt sie neu, damit wir sie bemerken. Der Effekt ist angenehm lebendig.

Doshi ist auch eine scharfe Beobachterin von Klassenunterschieden. Das Gefolge von Arbeitern, die das Personal und die Pflege versorgen, sind in ihrer Innerlichkeit ätzend stumm. Das Kind Antara baut eine Bindung zu einer jungen Frau auf, die als Pflegerin angestellt ist, doch als Antara versucht, der Frau über die Grenzen des bürgerlichen Domizils hinaus zu folgen, wird sie brüsk abgewiesen, es kommt zu einem Handgemenge und die junge Frau wird entlassen. Später in der Geschichte reagiert Antara mit Angst und Bestürzung, als sie feststellt, dass das Gebrechen ihrer Mutter vom Wachmann des Gebäudes, in dem sie wohnt, gesehen wurde, was sie zu einem leichten Ziel für das wilde Proletariat macht, das Antara aus ihrer Fantasie heraufbeschwört.

Kenner einer bestimmten Art zeitgenössischer Belletristik werden sofort den Schreibstil erkennen, der leise aphoristisch, lakonisch im Temperament, mager im Dialog und die Fragmentierungen der Wirklichkeit auf eine Weise imitierend ist, die Gefahr läuft, zur Konvention zu werden. Indien ist feucht, vielfarbig und fiebrig, Sex wird unauffällig an das Ende von Absätzen angehängt, und das Alltägliche wird zu einem Mittel, um die Details zu vermehren:

Die Uhr an der Wand des Arztzimmers fordert meine Aufmerksamkeit. Der Stundenzeiger steht auf eins. Der Minutenzeiger ruht zwischen acht und neun. Die Konfiguration bleibt so für dreißig Minuten. Die Uhr ist ein verblassendes Überbleibsel einer anderen Zeit, abgebrochen, nie ersetzt.

Der ennui quillt aus dem Uninteressanten heraus, und ennui, so wird uns oft gesagt, ist eine interessante Form der Langeweile. Hier funktioniert das, aber an anderer Stelle fühlt sich die Pose ein wenig zu solipsistisch an: Ist Borborygmie interessant? An einer anderen Stelle sehen wir, wie Antara die chemische Zusammensetzung der Tabletten ihrer Mutter nachschlägt, die sie als „eine Reihe eleganter Sechsecke und ein Molekül Chlorwasserstoff, das wie ein Schwanz herunterhängt“ beschreibt. Man sieht das Riff schon kommen. Klischees sind zwar nicht das schlimmste Verbrechen, aber hier wirken sie plump und machen die Figuren, in deren Mund sie vorkommen, weniger glaubwürdig, als sie sein könnten.

Während Doshis Prosa ansonsten bewundernswert geschmeidig und unangestrengt ist, wird das letzte Drittel des Romans etwas sackartig, als ob die Spannung, die die Geschichte im ersten und zweiten Teil straff gehalten hat, nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Das Ende ist eine Überraschung, aber weil diese vitale Energie etwas nachgelassen hat, wird es nicht mit dem nötigen Schliff geliefert. Stattdessen taumeln wir durch eine Szene, die zu generisch für ein so dicht konstruiertes Stück Fiktion wirkt.

Wie Meditationen über Familienbande das eigentlich so an sich haben, ist Bitterer Zucker für seine relative Kürze ausgesprochen umfangreich. Seine Sparsamkeit wird nicht allen Geschmäckern gerecht werden, aber die Sauberkeit des Schreibens, wenn es mit dem reißerischen Überfluss des Lebens kombiniert wird, ergibt ein seltsam bewegendes Stück Fiktion.

© Wamuwi Mbao

Wamuwi Mbao ist ein Essayist, Kulturkritiker und Akademiker an der Universität Stellenbosch. Folgt ihm auf Twitter.

Im Herbst erscheint „Bitterer Zucker„, die deutsche Übersetzung von Burnt Sugar, beim btb Verlag.

Blick Bassy

Der kamerunische Musiker Blick Bassy ist in aller Munde. Über sein politisches Engagement und seine metaphysische Musik.

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Gefördert durch die Kulturstiftung des Freistaates Sachsen. Diese Maßnahme wird mitfinanziert durch Steuermittel auf der Grundlage des vom Sächsischen Landtag beschlossenen Haushaltes.

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Film Verschiedenes

Wie eine starke Kreativindustrie Volkswirtschaften auf die Sprünge hilft

Wie eine starke Kreativindustrie Volkswirtschaften auf die Sprünge hilft
von Dr. Mehret Mandefro

Die Filmemacherin Mehret Mandefro spricht für TED über die wichtige Rolle der Kreativindustrie in Äthiopien und weltweit.

Wenn Staats- und Regierungschefs darüber nachdenken, welche Branchen das Wirtschaftswachstum ankurbeln können, wird die Kunst oft übersehen. Doch die Filmemacherin Mehret Mandefro ist der Meinung, dass der Kreativsektor tatsächlich die Kraft hat, die Wirtschaft wachsen zu lassen – und gleichzeitig die Demokratie zu stabilisieren. In diesem spannenden Vortrag gewährt sie einen Blick hinter die Kulissen, wie sie die Kultur in Äthiopien wieder auf die wirtschaftliche Agenda setzt, und erklärt, warum andere Länder davon profitieren würden, das Gleiche zu tun.

Stellen Sie sich vor, wie viel effektiver Musik, Filme und Kunst wären, wenn Künstler gut bezahlte Jobs hätten und die Regierung sie unterstützen würde. In diesem Fall gehen Wirtschaftswachstum und demokratisches Wachstum Hand in Hand. Ich denke, jede Regierung, die Kunst als ein "nice to have" und nicht als ein "must-have" ansieht, macht sich etwas vor. Kunst und Kultur in all ihren Formen sind unverzichtbar für das wirtschaftliche und demokratische Wachstum eines Landes. Gerade Länder wie Äthiopien können es sich nicht leisten, genau den Sektor zu ignorieren, der das Potenzial hat, den größten zivilen Einfluss auszuüben.

Der ganze Talk auf deutsch

Ich habe vor 15 Jahren angefangen, Filme zu machen, während meiner Facharztausbildung für Innere Medizin, wie man das eben so macht. Ich forschte zu HIV-Disparitäten bei schwarzen Frauen, und aus dieser Arbeit wurde ein Dokumentarfilm, und seitdem mache ich Filme. Ich betrachte die Filme und Serien, die ich mache, als eine Art visuelle Medizin. Damit meine ich, dass ich versuche, Geschichten auf die Leinwand zu bringen, die große soziale Barrieren ansprechen, wie Rassismus in Amerika, Geschlechterungleichheit in Äthiopien und globale gesundheitliche Ungleichheiten. Und es ist immer meine Hoffnung, dass die Zuschauer inspiriert werden, etwas zu unternehmen, um den Menschen zu helfen, diese Barrieren zu überwinden. Visuelle Medizin.
Die meiste Zeit lebe und arbeite ich in Äthiopien, dem Land, in dem ich geboren wurde, und derzeit sitze ich im Beirat der Kommission der äthiopischen Regierung zur Schaffung von Arbeitsplätzen. Jetzt fragen Sie sich sicher, was eine Ärztin, die zur Filmemacherin und nicht zur Wirtschaftswissenschaftlerin geworden ist, in der Arbeitsbeschaffungskommission zu suchen hat. Nun, ich glaube, dass die kreative Industrie, wie Film und Theater, Design und sogar Mode, das Wirtschaftswachstum und die demokratischen Ideale in jedem Land fördern kann. Ich habe es gesehen, ich habe dabei geholfen, und ich bin hier, um Ihnen ein wenig mehr darüber zu erzählen.
Aber zuerst etwas Kontext. In den letzten 15 Jahren war Äthiopien eine der am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften der Welt. Dieses Wachstum hat zu einer Verringerung der Armut geführt. Aber laut Zahlen aus dem Jahr 2018 liegt die Arbeitslosenquote in den städtischen Gebieten bei etwa 19 Prozent, mit einer höheren Arbeitslosenquote unter Jugendlichen zwischen 15 und 29 Jahren. Es ist keine Überraschung, dass diese Zahlen unter jungen Frauen noch höher sind. Wie der Rest Afrikas ist Äthiopiens Bevölkerung jung, was bedeutet, dass der städtische Arbeitsmarkt weiter wächst, die Menschen in die Arbeitswelt hineinwachsen und es nicht genug Jobs gibt.
Versetzen Sie sich also in die Lage einer Regierung, die darum kämpft, genügend gut bezahlte Arbeitsplätze für eine wachsende Bevölkerung zu schaffen. Was würden Sie tun? Ich vermute, Ihr erster Gedanke ist nicht: „Hey, lasst uns den kreativen Sektor ausbauen.“ Wir sind darauf konditioniert worden, die Kunst als eine nette Sache zu betrachten, die man gerne hat, aber nicht wirklich als einen Platz am Tisch für Wirtschaftswachstum und Sicherheit. Ich bin da anderer Meinung.

Das Motto von Dr. Mehret Mandefro, eigene Seite

Als ich vor vier Jahren nach Äthiopien zog, dachte ich nicht über diese Probleme der Arbeitslosigkeit nach. Ich dachte vielmehr darüber nach, wie ich die Aktivitäten eines Medienunternehmens, das ich mitbegründet hatte, Truth Aid, in den USA ausbauen könnte. Äthiopien schien ein aufregender neuer Markt für unser Unternehmen zu sein. Am Ende meines ersten Jahres in Äthiopien schloss ich mich einem jungen Fernsehsender an, der auf die Medienszene stürmte, Kana TV, als dessen erste ausführende Produzentin und Direktorin für soziale Auswirkungen. Meine Aufgabe war es, herauszufinden, wie man erstklassige Originalinhalte in Amharisch, der offiziellen Sprache, in einem Arbeitsmarkt produzieren konnte, in dem die Fähigkeiten und die Ausbildung für Film und Fernsehen begrenzt waren. Es gab eigentlich nur eine Möglichkeit, wie wir das machen konnten. Wir mussten stark in die Ausbildung investieren.
Ich war damit beauftragt, das Drehbuchteam auszubilden, und es gab wirklich nur einen Weg, wie wir das tun konnten: on the job, indem ich meine Mitarbeiter dafür bezahlte, Fernsehen zu machen, während sie lernten, wie man Fernsehen macht. Ihr Durchschnittsalter lag bei 24 Jahren, es war ihr erster Job nach der Universität, und sie waren begierig, zu lernen. Wir bauten ein Weltklasse-Studio und begannen.

Die erste Show, die wir als Produkt unserer Ausbildung produzierten, war eine Scripted-Serie mit einer mächtigen Familie im Zentrum namens „Inheritance“. Die zweite Show war Äthiopiens erstes Teenager-Drama namens „Yegna“ und wurde in Zusammenarbeit mit der gemeinnützigen Organisation Girl Effect produziert. Diese Shows machten die Darsteller über Nacht zu Stars und gewannen das Publikum für sich, und der beste Teil meines Jobs wurde schnell zur Leitung dessen, was im Wesentlichen eine Talentschmiede für die Produktion von Inhalten war. Kana produzierte daraufhin mehrere eigene Sendungen, darunter eine Gesundheits-Talkshow namens „Hiyiweti“, was übersetzt „mein Leben“ bedeutet.
Das ist natürlich toll für Kana, aber wir haben etwas Größeres gemacht. Wir haben ein Modell dafür geschaffen, wie Ausbildung zu Beschäftigung wird, und das in einem Markt, in dem die Schaffung neuer Arbeitsplätze, insbesondere für junge Menschen, eine der größten demografischen Herausforderungen ist.
Nun kann man nicht sagen, dass man ein großes soziales Problem wie die Arbeitslosigkeit beseitigt hat, wenn die Arbeitsplätze, die man schafft, nur den Interessen eines einzigen Unternehmens des privaten Sektors dienen. Ich wollte, dass die Crews, die ich ausgebildet hatte, internationale Produktionsstandards kennenlernen und war so begeistert, als eine kanadisch-irische Koproduktion, die ich als Executive Producer betreute, nach Äthiopien kam, um den Spielfilm „Sweetness in the Belly“ zu drehen.

Ich kontaktierte den CEO der staatlichen Führungen in Äthiopien, um zu sehen, ob wir diesen Film als Lernfallstudie verwenden könnten, wie die Regierung das Filmemachen und die Filmemacher unterstützen kann. Das Argument war, dass Filme das Wirtschaftswachstum fördern und Tourismusdollars auf zwei wichtige Arten anziehen können: indem sie Produktionsarbeit nach Äthiopien bringen und, was noch wichtiger ist, indem sie Äthiopien und seine einzigartigen kulturellen Werte in der Welt bekannt machen. Letzteres zapft die Ausdruckskraft einer Nation an.
Aber die Geschichte wird noch besser. Das war genau zu der Zeit, als die Kommission für die Schaffung von Arbeitsplätzen mich beauftragte, eine diagnostische Studie durchzuführen, um die ungedeckten Bedürfnisse von Subsektoren wie Film, bildende Kunst und Design zu bewerten und zu sehen, was die Regierung tun könnte, um auf diese Bedürfnisse zu reagieren. Nachdem wir die Studie abgeschlossen hatten, gaben wir politische Empfehlungen ab, um die Kreativwirtschaft als eine Dienstleistungsbranche mit hohem Potenzial in den National Jobs Action Plan aufzunehmen. Dies führte zu einer größeren Anstrengung namens Ethiopia Creates, die gerade damit beginnt, die Unternehmer der Kreativwirtschaft zu organisieren, damit der Sektor florieren kann. Ethiopia Creates organisierte kürzlich eine Filmexport-Mission zum europäischen Filmmarkt, wo ein Team äthiopischer Filmemacher ihre Projekte für potenzielle Finanzierungsmöglichkeiten vorstellen konnte.
Nun ist es ein unglaublich wichtiger Meilenstein, Kultur auf die wirtschaftliche Agenda zu setzen. Aber in Wahrheit geht es um weit mehr als nur um Arbeitsplätze. Äthiopien befindet sich an einem kritischen Punkt, nicht nur wirtschaftlich, sondern auch demokratisch. Es scheint, als ob der Rest der Welt an einem ähnlichen „Make-or-Break“-Moment steht. Aus meiner Perspektive vor Ort in Äthiopien kann das Land einen von zwei Wegen einschlagen: entweder einen Weg der inklusiven, demokratischen Teilhabe oder einen eher spaltenden Weg der ethnischen Spaltung. Wenn wir uns alle einig sind, dass der Weg der Inklusion der richtige ist, stellt sich die Frage: Wie kommen wir dorthin?

Dr. Mehret Mandefro

Ich würde behaupten, dass einer der besten Wege, die Demokratie zu sichern, darin besteht, jeden mit den Geschichten, der Musik, den Kulturen und der Geschichte der anderen in Kontakt zu bringen, und natürlich ist es die Kreativwirtschaft, die das am besten kann. Es ist der Sektor, der der Zivilgesellschaft beibringt, wie man Zugang zu neuen Ideen findet, die frei von Vorurteilen sind. Künstler haben seit langem Wege gefunden, Inklusion zu inspirieren, Geschichten zu erzählen und Musik zu machen, um eine nachhaltige politische Wirkung zu erzielen. Der verstorbene, große amerikanische Held, der Kongressabgeordnete John Lewis, verstand dies, als er sagte: „Ohne Tanz, ohne Schauspiel, ohne Fotografie wäre die Bürgerrechtsbewegung wie ein Vogel ohne Flügel gewesen.“
Jetzt stellen Sie sich vor, wie viel effektiver Musik, Filme und Kunst wären, wenn Künstler gut bezahlte Jobs hätten und die Regierung sie unterstützen würde. In diesem Fall gehen Wirtschaftswachstum und demokratisches Wachstum Hand in Hand. Ich denke, jede Regierung, die Kunst als ein „nice to have“ und nicht als ein „must-have“ ansieht, macht sich etwas vor. Kunst und Kultur in all ihren Formen sind unverzichtbar für das wirtschaftliche und demokratische Wachstum eines Landes. Gerade Länder wie Äthiopien können es sich nicht leisten, genau den Sektor zu ignorieren, der das Potenzial hat, den größten zivilen Einfluss auszuüben. So wie John Lewis verstand, dass die Bürgerrechtsbewegung ohne die Künste nicht flügge werden konnte, so kann auch die Zukunft Äthiopiens oder eines anderen Landes, das sich in einer schwierigen Phase befindet, ohne einen florierenden Kreativsektor, der wie eine Industrie organisiert ist, nicht flügge werden. Die wirtschaftlichen und demokratischen Vorteile, die diese Branchen bieten, machen die Kreativwirtschaft zu einem wesentlichen Faktor für Entwicklung und Fortschritt.

Filmdatenblatt Berlinale: DIFRET

Anwältin Meaza Ashenafi hat in Addis Abeba ein Netzwerk gegründet, das mittellosen Frauen und Kindern kostenlosen Rechtsbeistand gewährt. Mutig setzt sie sich gegen alle Schikanen von Polizei und männlichen Regierungsvertretern zur Wehr.
Mandefro wurde 1977 in Addis Abeba geboren und wuchs in den USA auf. Ihr Vater, Ayalew Mandefro, war äthiopischer Verteidigungsminister. Ihre Familie flüchtete in die USA, nachdem das kommunistische Regime in Äthiopien versucht hatte, ihren Vater zu ermorden. Nach einem erfolgreichen Medizinstudium in den USA promovierte sie in Kulturanthropologie an der Temple University, wo sie eine Dissertation über die Gestaltung der amerikanischen Gesundheitspolitik in der Bundesregierung verfasste. Anschließend absolvierte sie eine Ausbildung in internistischer Grundversorgung, wo sie Forschungen über HIV-Disparitäten bei Schwarzen Frauen betrieb.
Mandefro war a White House Fellow in der Obama-Administration. Heute ist sie Filmemacherin, Gruppenleiterin bei Indaba Africa, Mitbegründerin des Realness Institute und Mitbegründerin von Truth Aid Media und ist Mitglied des Beirats des Shared Harvest Fund.

Blick Bassy

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Film Mode & Design

Kilón Shélé Gán Gán

Kilón Shélé Gán Gán
ein bizarr-psychedelischer Modefilm aus Lagos

Die Modedesignerin Mowalola Ogunlesi macht psychedelische und erotische Mode für den pan-afrikanischen Mann

Er ist zwar schon fast vier Jahre alt, aber manche Dinge entdeckt man besser spät als nie. Der Modekurzfilm, den Ogunlesi für ShowStudio gemacht hat, soll die Welt des „Mowalola-Mannes“ auf losgelöste und traumhafte Art zeigen und taucht dabei in den Trubel des farbenfrohen und geschäftigen Lagos ein.

„Psychedelic“, ihre Modekollektion für Männer, die sie als Abschlusskollektion auf dem Laufsteg der Modehochschule Central Saint Martins präsentierte, ist inspiriert von nigerianischer Rockmusik der 70er und 80er Jahre und als eine Feier des Schwarzen afrikanischen Mannes gedacht – seine Sexualität und Wünsche. Das übersetzt sich in sexy „Lagos Petrolheads“, die enge Lack- und Lederlooks tragen und mit Mercedes-Benz-Logos an Silberketten behangen sind, während aus ihren Hosenbündchen Spitzenunterwäsche ragt, die einen starken Kontrast zu ihren muskulösen, eingeölten Körpern bildet. Dieser Look wird in Ogunlesis Modefilm Kilón Shélé Gán Gán vorgeführt:

Die Jungs liebten die Kleidung! Es war total erfrischend, dass sie sich darin so mächtig und unantastbar fühlten. Ich habe das Gefühl, dass sie sich mit der Gesamtstimmung der Kollektion identifizieren konnten, und es ist gut zu sehen, wie sich die Vorstellung von Männlichkeit in Nigeria auf subtile Weise weiterentwickelt.

Ogunlesi schafft es mühelos, ihre Mode in städtischer Dekadenz auf den Straßen Lagos in Szene zu setzen. Ihr trippiger Retro-Futurismus vereint den kitschigen Exzess des Nigerias der 1980er Jahre mit dem anhaltenden Einfluss afrikanischer Psychedelik.

Still from Kilón Shélé Gán Gán - Dàfe Oboro and Mowalola Ogunlesi Fashion Film Submission, ©youtube

COMPLEX

Ogunlesi’s BA menswear collection, which she presented in 2017, was titled “Psychedelic,” and was influenced by Lagos petrolheads and the country’s psychedelic rock scene in the ‘70s. She described the line as “unapologetically black and pan-African.” Here we get a first glimpse of the designer’s gender fluid aesthetic and interest in treated leathers.

Webseite der Künstlerin. Instagram der Künstlerin. Bild im Header: Still aus Kilón Shélé Gán Gán, © youtube.

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