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Wie ein Leipziger Afrikanist vier Schatzkisten entdeckte

Wie ein Leipziger Afrikanist vier Schatzkisten entdeckte
von Birgit Pfeiffer

Für Forschende, die vor allem Geschichts- und Kulturforschung betreiben, ist das, was Afrikanistik-Wissenschaftler Dr. Ari Awagana im heutigen Niger wiederfahren ist, ein Traum: Zufällig entdeckte er vier Kisten voller zeitgeschichtlicher Schriftenrollen, die für einige Völker in Zentralafrika von großer Wichtigkeit sind und viel über ihre eigene Geschichte, Sprache und Kultur aussagen. Der Raum, in dem die Kisten lagerten, war seit 1922 verschlossen. Für die Kulturgeschichte Zentralafrikas sind die entdeckten Dokumente eine Sensation. Und, auch das ist erwähnenswert, die Dokumente überstanden zum Großteil unbeschadet die Zeit des Kolonialismus. Nun wurde für diese Schriften vor Ort eine kleine Bibliothek errichtet – mit Hilfe der Universität Leipzig.

Verschollene Dokumente in Zinder (Niger) aufgetaucht: Dr. Elhadji Ari Awagana entdeckt vier Schatzkisten in einem seit 1922 verschlossenen Raum. Video: Dr. Elhadji Ari Awagana

Auf dem mit dem Handy gefilmten Video hört man das Staunen und die Spannung der Anwesenden, als in einem abgedunkelten Raum in einem Haus im Niger alte verstaubte Kisten vorsichtig geöffnet werden. Jahrhunderte alte Papiere kommen ans Licht. Es ist das Haus des obersten Richters Mahamadou Aboubacar Chetima in der Altstadt von Zinder im Niger, im Jahr 2018. Dr. Ari Awagana vom Institut für Afrikastudien an der Universität Leipzig wusste sofort, dass es sich um einen großen Fund handelte. Der Sprachwissenschaftler kommt ursprünglich selbst aus dem Niger. Seit 2000 lehrt er die in Westafrika verbreitete Verkehrssprache Hausa, spricht aber zudem unter anderem Kanuri, Zarma, Buduma und Fulfulde. Er erforscht historische Belege afrikanischer Schriftsprachen, die Aufschluss geben können über die Geschichte Zentralsudans.

Einblicke in den Alltag der Menschen vor 120 Jahren

„Es waren vier Kisten mit Koranmanuskripten, weiteren religiösen Texten, Akten, Klagen, Urteilen, Briefen sowie okkulten Texten“, erinnert er sich. „Der Staub war Zentimeter dick. Seit 1922 war der Raum nicht mehr geöffnet worden.“ Das war der Zeitpunkt, als der frühere Besitzer der Dokumente starb: Mamadou Chetima, der Großvater des Hausherrn. Er war ebenfalls oberster Richter gewesen, des Sultans von Damagaram, der von 1899 bis 1906 regierte.

„Die Aufgabe eines Richters war und ist es, Urteile nach dem islamischen Gesetz zu treffen, zum Beispiel in familiären Angelegenheiten, Erbschaftsfragen, Streitigkeiten zwischen Nachbarn und dergleichen“, erklärt Ari Awagana. „Dabei konnte und kann er themenspezifisch Berater zurate ziehen. Nur bei größeren Belangen ging man früher bis zum König, heute zu staatlichen Gerichten, beispielsweise wenn es um einen Mord geht.“ Die historischen Akten geben daher bedeutsame Einblicke in das Alltagsleben in der damaligen Gesellschaft.

Der Richter Chetima hatte nicht nur Papiere aus seiner eigenen Arbeit verwahrt, sondern hatte noch viel ältere Schriften besessen – für die Forschenden ein wahrer Schatz, der in den kommenden Jahren gesichtet, konserviert, digitalisiert und erforscht werden wird. Dies ist nicht nur für den Leipziger Wissenschaftler relevant, sondern auch für die Historikerin Camille Lefebvre vom Pariser Nationalzentrum für wissenschaftliche Forschung, die ebenfalls anwesend war, als die Kisten geöffnet wurden. Beide arbeiten im Projekt „Sprache als Archiv“, das von der Europäischen Union gefördert wird. Dieses widmet sich historischen schriftlichen Quellen im Zentralsudan. 

Vorkoloniale Geschichte der Region verstehen

„Anhand der Wasserzeichen auf einem der Papiere konnte ich sehen, dass dieses italienischer Herkunft war – etwa aus dem 16. oder 17. Jahrhundert“, so Awagana. „Dieser großartige Fund hilft uns, die vorkoloniale Geschichte der Region zu verstehen“, sagt er. „Er ist eine Art Zeitkapsel.“

Solche Zeitkapseln sind sehr selten, denn viele solcher Manuskripte wurden im Laufe der Jahrhunderte zerstört, geplündert oder außer Land gebracht: sei es durch islamische Kräfte, die Teile der afrikanischen Tradition von den noch prä-islamischen heidnischen Anteilen „säubern“ wollten – oder durch koloniale Plünderung, als Frankreich Kolonialmacht war. Diese Ära ging auch nicht am Haus des obersten Richters spurlos vorbei. „Chetima erzählte uns, dass sein Großvater im Jahr 1908 nach der Abschaffung des Sultanats durch Kolonial-Frankreich an die Elfenbeinküste deportiert wurde“, so Awagana. „Seine Dokumente nahm er mit ins Exil und brachte sie später wieder zurück mit nach Hause. Nur deshalb sind sie überhaupt noch vorhanden.“ Hierfür sind ihm die Forschenden heute dankbar. 

Koran Übersetzung zwischen den Zeilen

Die Schriften sind in Arabisch verfasst, in der Sprache Kanuri sowie dessen früherer Form Old Kanembu. Letztere gilt als untergegangen. Sie war die Gelehrtensprache des alten Königreichs Kanem-Bornu, das sich ab dem 9. Jahrhundert etwa 1.000 Jahre lang über große Gebiete Zentralafrikas erstreckte und in welcher sich Intellektuelle in Nordafrika, Arabien und Westafrika austauschten. Entsprechend wichtig sind entsprechende Funde für die Geschichtsschreibung der Region. Sie belegen auch, dass die Behauptung, afrikanische Sprachen seien hauptsächlich mündlich tradiert worden, nicht wahr ist. Eine entscheidende Textsorte, die sich auch im Hause Chetima fand, bilden sogenannte interlinearisierte Koranmanuskripte. „Das sind Koranmanuskripte, deren Haupttext auf Arabisch verfasst ist“, erläutert Dr. Awagana. „Zwischen den Zeilen haben afrikanische Gelehrte ihre Übersetzungen in Old Kanembu hineingeschrieben, die sie dann auswendig gelernt haben. Diese sehen zwar ebenfalls arabisch aus, funktionieren aber völlig anders. Sie sind etwa so unterschiedlich wie Kisuaheli und Deutsch. Man hat nur dasselbe Schriftsystem verwendet,“ so der Sprachwissenschaftler. Arabische Gelehrte nannten diese Sprachen bereits im Mittelalter „Ajami“ – „Fremde“, weil sie sie nicht verstanden. „Spätestens seit den Entdeckungen des Briten Adrian David Hugh Bivar in den 1950er Jahren können interlinearisierte Koranmanuskripte als früheste Beweise für eine Verwendung von indigenen Schriftsprachen in Subsahara-Afrika angesehen werden“, erläutert der Leipziger Linguist.

Durch die Forschung an solchen Manuskripten sind Ari Awagana und Camille Lefebvre auch überhaupt an den Fund in Zinder gekommen: „Wir suchten Kontakt zu Würdenträgern hier in der Region. Dabei war ich speziell auf der Suche nach solchen Manuskripten“, erläutert der Leipziger Wissenschaftler. Zunächst zeigte Richter Chetima ihnen einige Bücher des Großvaters. „Nachdem ich ihm erklärt hatte, dass es sich bei der Sprache um Old Kanembu handelte – der Sprache ihrer Vorfahren – eröffnete er uns, dass es diesen Raum gab. Er selbst wollte auch mehr über die Dokumente wissen und so kamen wir den nächsten Tag wieder und machten diese wunderbare Entdeckung.“

Kleine Bibliothek wird errichtet - mit Hilfe der Universität Leipzig

Für die Dokumente in Zinder war es höchste Zeit, wieder ans Tageslicht zu kommen. Dank des trockenen Klimas sind zwei Drittel der Schriftzeugnisse zwar noch gut erhalten; ein Drittel ist jedoch ernsthaft angegriffen von Termitenfraß, Rückständen nistender Enten und Schimmel. „Es war dringender Handlungsbedarf“, erkannte Awagana sofort. Der Inhalt der Kisten ist inzwischen gesichtet und sachgerecht untergebracht – in einer kleinen Bibliothek direkt am Fundort der Familie Chetima in Zinder. Das Dezernat für Forschungs- und Transferservice der Universität Leipzig stellte hierzu beim Arbeitsstab Kulturerhalt des Auswärtigen Amts einen Förderantrag, der rasch bewilligt wurde. Eigentlich sollte schon 2019 der Bau beginnen, aber wegen Corona verschob sich dies bis Ende 2021. Im März 2022 konnte die Bibliothek eingeweiht werden. Richter Mahamadou Aboubacar Chetima konnte dies indes leider nicht mehr erleben. Er war inzwischen gestorben.

Historisches Erbe vor Ort bewahren und für Zukunft erschließen

Das Archiv des Chetima wird nun übersetzt und wissenschaftlich erschlossen. „Ein weiteres Ziel ist es auch, jüngere islamische Gelehrte der Familie in den Techniken der Konservation und des modernen Archivwesens zu schulen, um das geschichtliche Erbe zu bewahren“, erläutert Dr. Ari Awagana. Ob dies einfacher sein wird als früher, kann man nur schlecht abschätzen.

„Derzeit erlebt der fundamentale Islamismus in der Region Aufwind. Das betrachten wir mit Sorge. Einige Gruppen, die die ‚reine Lehre‘ verfechten und auch mit Gewalt durchzusetzen versuchen, sind nicht weit weg. Aber es ist auch wichtig, unser Erbe zu erhalten.“

Dr. Ari Awagana hofft, dass sich auch in Zukunft Türen für ihn öffnen werden, die im Hinterhof ein unscheinbares Tor in die Vergangenheit Zentral-Afrikas bereithalten.

Birgit Pfeiffer ist freie Journalistin und Redakteurin in Leipzig. Ihre Webseite Textbüro Pfeiffer ist hier zu finden.

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Literatur Verschiedenes

Yewande Omotoso wird akono Autorin

Yewande Omotoso wird akono Autorin!

Der akono Verlag freut sich, Yewande Omotoso als Autorin zu begrüßen und die bevorstehende Übersetzung von "An Unusual Grief" und "Bom Boy" anzukündigen.

akono Verlegerin Jona Krützfeld freut sich riesig, Omotoso im Verlag willkommen heißen zu können: „Seit ich ihren ersten Roman Die Frau nebenan gelesen habe, bin ich ein Omotoso Fan. So glaubhafte, facettenreiche und schratige Charaktere zu zeichnen und so klug und humorvoll die Abgründe menschlicher Beziehungen zu erkunden, gelingt nur sehr begabten Schriftsteller*innen.“ Auch Omotoso selbst ist „really happy to join the akono family.“

Im Herbst 2023 wird die Übersetzung von „An Unusual Grief“ erscheinen, einer mutigen und mitreißenden Geschichte über den unkonventionellen Umgang einer Frau mit dem Verlust ihrer depressiven Tochter durch Suizid. Mit präziser und wortreicher Prosa erkundet Yewande Omotoso die Beschaffenheit menschlicher Beziehungen und legt dabei Schicht um Schicht die Bruchstellen frei, die zur Entfremdung und Vereinsamung der Mitglieder einer Familie führen. Voll kluger psychologischer Beobachtungen, mit subtilem Humor und sprachlicher Leichtfüßigkeit schafft es Omotoso (wie schon in ihren vorherigen Romanen), facettenreiche, realistische und plastische Charaktere zu zeichnen, deren Fehlerhaftigkeit mit viel Empathie und schriftstellerischer Finesse begegnet wird.

Der Verlag hat die Rechte für alle noch nicht übersetzten Omotoso Werke erworben: 2024 wird der Debütroman Omotosos, Bom Boy, in deutscher Übersetzung erscheinen. Der Roman begleitet Leke, einen problembelasteten Jungen, der in einem Vorort von Kapstadt lebt. Er hat die seltsame Angewohnheit, Menschen zu verfolgen, kleine Gegenstände zu stehlen und auf der Suche nach Gesellschaft von Arzt zu Arzt zu gehen. Durch eine Reihe von Briefen, die ihm sein nigerianischer Vater, den er nie kennengelernt hat, geschrieben hat, erfährt Leke von einem Familienfluch. Bom Boy ist eine fein gesponnene und komplexe Erzählung, die mit einem sensiblen Verständnis für sowohl die Kleinheit als auch die Bedeutung eines einzelnen Lebens geschrieben wurde.

Yewande Omotoso wurde in Barbados geboren, wuchs in Nigeria auf und zog 1992 mit ihrer Familie nach Südafrika. Sie absolvierte eine Ausbildung als Architektin, bevor sie freiberufliche Schriftstellerin wurde. Sie lebt in Johannesburg. Ihr Debütroman Bom Boy kam auf die Shortlist für den südafrikanischen Sunday Times Fiction Prize 2012 und den Etisalat Prize for Literature 2013. Ihr zweiter Roman, The Woman Next Door (auf deutsch als Frau nebenan im Eichborn Verlag erschienen), kam auf die Shortlist für den Sunday Times Fiction Prize 2016, den Bailey’s Women’s Prize for Fiction 2017, den International Dublin Literary Award und den Hurston/Wright Legacy Award for Fiction.

Omtosos Werke erscheinen im Original bei Modjaji Books und Cassava Republic Press.

Die Werke werden vom Übersetzer Thomas Brückner ins Deutsche übersetzt. Seit 1994 ist er in Leipzig als freier Übersetzer tätig und übersetzte zahlreiche Romane afrikanischer Autoren, darunter die Werke von Abdulrazak Gurnah, Ngũgĩ wa Thiong’o, Ivan Vladislavić und Helon Habila.

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Literatur

Warsan Shires Gebet für die Unbetrauerten

Warsan Shires Gebet für die Unbetrauerten
von Farah Bakaari

Warsan Shires erster umfassender Gedichtband „Bless the Daughter Raised by a Voice in Her Head“ ist eine Art Gebet für nicht betrauerte Verluste. Die Sammlung behandelt ein breites Spektrum an Themen, von Problemen der psychischen Gesundheit in Einwanderungsgemeinschaften über verpfuschte Sexualerziehung bis hin zu Frauenmorden. Er spiegelt die Umwelt der jungen Dichterin wider, die private Empörung und öffentliche Scham belauscht, die unangemeldet in Familiengeheimnisse und Träume von Einwanderer:innen eindringt, die in der falschen Sprache transportiert werden. Es ist, als ob die junge Dichterin in diesem Akt der unerlaubten Zeugenschaft auch ihre eigene Stimme entdeckt – die Dichterin ist nicht nur diejenige, die hinschaut, sondern diejenige, die benennt und anspricht, was zurückschaut.

Shire ist eine britisch-somalische Dichterin, die in Nairobi geboren und in London aufgewachsen ist. Sie ist die erste „Young Poet Laureate of London“ und die jüngste Mitgliederin der Royal Society of Literature und wurde durch ihre Zusammenarbeit mit Beyoncé bekannt. Shire war jedoch eine der ersten Dichterinnen und Dichter, die in der „Pop-Poesie“- oder „Instagram-Poesie“-Szene berühmt wurden – entweder mit kurzen Videos von Originalgedichten, die von den Dichterinnen und Dichtern selbst vorgetragen wurden, oder mit Social-Media-Posts, in denen prägnante Verse zitiert wurden. Obwohl Shire selbst heute kaum noch online ist, bleibt die Begeisterung für ihre Online-Persönlichkeit ungebrochen. Das zeigt sich auch daran, dass die meisten Rezensionen ihres neuen Buches eher Profile über sie sind als kritische Auseinandersetzungen mit ihrem Werk. Shire veröffentlichte ihre Gedichte erstmals 2011 als Chapbook mit dem Titel „Teaching My Mother How To Give Birth.“ Mit diesem Band tritt Shires Lyrik in eine neue, erwachsenere Phase ein, in der sie mit längeren, formal einfallsreichen Gedichten experimentiert, die sich nicht so leicht in einer Instagram-Bildunterschrift oder einem Kühlschrankmagneten unterbringen lassen.

Ein Phänomen, mit dem sich diese Sammlung trotzig und wiederholt auseinandersetzt, oder besser gesagt, das sie segnet, ist die stille Einsamkeit, die das Leben der Einwanderer:innen plagt. Es ist die Einsamkeit derjenigen, die nie gelernt haben, eine Welt richtig hinter sich zu lassen. Eines meiner Lieblingsgedichte in der Sammlung trägt den etwas unbeholfenen Titel „My Loneliness is Killing Me“ (Meine Einsamkeit bringt mich um), der die Einsamkeit einfängt, die in den melancholischen Erinnerungen eines älteren somalischen Mannes, der in London lebt, zum Ausdruck kommt. Die Sprecherin „beobachtet“ ihren Onkel an einem verregneten Nachmittag, während er raucht, starken somalischen Tee trinkt und sich zu den Klängen von Hassan Aden Samatar an seine Kindheit an den Stränden und in den Straßen von Mogadischu erinnert. Er wartet auf ein Zeichen. Ich setze „beobachten“ in Anführungszeichen, denn obwohl das Gedicht in der dritten Person erzählt wird, ist sich der Leser dennoch der Anwesenheit und des Blicks eines anderen bewusst; ein Gefühl der Einsamkeit drängt sich auf. In der letzten Strophe wird die abwesende Anwesenheit des Dichters explizit gemacht. Die Strophe beginnt mit der Zeile „cidlada ka aktaw, Abti“, die – in einer unglücklichen Tendenz des Textes – mit “be stronger than your loneliness, Uncle / sei stärker als deine Einsamkeit, Onkel übersetzt wird. Dies ist jedoch nur eine von zwei möglichen Übersetzungen, da das Wort im Somali mehrdeutig ist. Das Substantiv „abti“ kann sowohl für die Nichte als auch für den Onkel verwendet werden, sodass die Zeile von beiden Parteien ausgesprochen werden könnte. Die erste Übersetzung (in der die Nichte ihren Onkel anweist, stärker zu sein als seine Einsamkeit) eignet sich daher für eine Lesart, in der die Dichterin von der Szene, deren Zeuge sie ist, abgestoßen wird. In der zweiten Übersetzung (in der sich der Onkel an die Nichte wendet) ist der Schrein des Onkels für die Geister vergangener Träume nicht unbedingt ein Ort der Klage, sondern eine Quelle der Zuflucht. Hier wird die Einsamkeit weder geleugnet noch medikamentös behandelt und hat daher das Potenzial, vorübergehend gelindert zu werden.

Bless the Daughter Raised by a Voice in Her Head

Im gesamten Band verfolgt die Einsamkeit die Menschen wie ein Gespenst; sie ist unausgesprochen, obwohl sie oft geteilt wird, sie ist intim, familiär, körperlich und klebt an der Haut wie Monsunmücken. Das Mädchenalter beispielsweise ist in erster Linie durch eine abgrundtiefe Einsamkeit gekennzeichnet, eine Einsamkeit, die gerade dadurch entsteht, dass das Wissen zu früh und die Sprache zu spät erlernt wird. Die Sammlung beginnt mit einem Gedicht mit dem Titel „Extreme Girlhood“, einer Art Ode an die lärmende Einsamkeit der Mädchenzeit, die ungehört bleibt. Mein Lieblingsgedicht zu diesem Thema ist jedoch „The Abubakr Girls Are Different,“, das von der stillen Gewalt erzählt, durch die sich die Mädchen als Mädchen begreifen, deren Anwesenheit immer umstritten und oft unerwünscht ist. In dem Gedicht beobachten sich die Mädchen gegenseitig und werden sich ihrer sich verändernden Körper und der Art und Weise bewusst, wie die Welt um sie herum diese Körper erhält und diszipliniert. Die letzten beiden Strophen bezeugen die Beschneidung der Mädchen und sind es wert, vollständig zitiert zu werden:

After the procedure, the girls learn how to walk again, mermaids
with new legs, soft knees buckling under
their raw, sinless bodies

We lie in bed besides each other, holding mirrors
to the mouths of our skirts,
comparing wounds.

Nach der Prozedur lernen die Mädchen das Laufen erneut, Meerjungfrauen

Mit neuen Beinen, weichen Knien, die unter ihren

rohen, sündfreien Körpern versagen

Wir liegen nebeneinander im Bett, halten Spiegel

An die Münder unserer Röcke

Wunden vergleichend

Diese außergewöhnlichen Zeilen inszenieren das, was Natalie Diaz in Anlehnung an Berger als das Präverbale bezeichnete, “as in the body when the body was more than body. Before it could name itself body and be limited, bordered by the space body indicated.”. Shires Verse fangen die Verwirrung von Körpern ein, die sich an der Grenze zwischen Erkenntnis und Wahrnehmung aufhalten.

Dennoch wird die Sprache in Shires Text nicht allgemein gepriesen, denn Sprache zu erlernen, bedeutet, Scham zu erlernen, was wiederum bedeutet, weniger zu wissen. Dies ist der Fall in „Bless Maymuun’s Mind“, wo einer Frau Antidepressiva verschrieben werden, während sie zwischen zwei Welten schwebt und keiner angehört. Wenn sie zu Hause anruft, erinnern sie sie daran, “how blessed she is, how proud they are, how all their hopes depend on her / wie gesegnet sie ist, wie stolz man ist, wie alle Hoffnungen auf ihr ruhen.” Und die Ärzte, die nicht in der Lage oder nicht willens sind, über das Symptom hinaus zu forschen, erhöhen ihre Dosis. Die Sprache lässt sie wieder einmal im Stich, diesmal, weil sie ein wenig zu konkret benennt. Sie hört zu. “She imagines she will die here, alone, far from home / sie stellt sich vor, dass sie hier sterben muss, allein, fern von zuhaus.”

Shire ist am besten, wenn sie nicht zu viel erklärt, sondern sich zurückhält und darauf vertraut, dass ihre Leser:innen den Sprung in die Interpretation wagen. Ein brillantes Beispiel dafür ist „Bless This House“, ein düsteres, witziges Gedicht, das Aphorismen – “are you going to eat that?” und “oh, this old thing” – für eine wütende Meditation über die Allgegenwart von häuslicher Gewalt und Vergewaltigungskultur nutzt. In dem Gedicht wird das Patriarchat als eine Form des Todestriebs dargestellt, bei dem Männer Frauen Gewalt als eine Form der Selbstvernichtung zufügen. Das Gedicht endet mit: “At parties I point to my body and say/ Oh this old thing? This is where men come to die.” / auf Parties deute ich auf meinen Körper und sage / Oh, dieses alte Ding? Dort kommen Männer zum Sterben hin.

Aber manchmal gerät die Sammlung ins Stocken, wenn der Ton didaktischer und die Form weniger einfallsreich wird. So ist zum Beispiel eines von Shires meistverbreiteten Gedichten, „Home“, in diesem Band abgedruckt. Trotz seiner Popularität und der ungeheuren Leidenschaft, mit der es die erzwungene Migration und die tückische Reise zu einem Zufluchtsort thematisiert, mangelt es dem Gedicht an jeglicher substanziellen formalen Raffinesse. Es fällt nicht leicht, Gedichte wie „Home“ oder „Hooyo Isn’t Home“ angesichts der Schwere ihres Themas als unzulänglich zu empfinden. Doch anstatt die Wahrheit herauszudestillieren, hat die ungeheure Wörtlichkeit dieser empörten Verse den unerwünschten Effekt, dass die Augen des Lesers glänzen und er den Text nicht mehr wahrnimmt.

Shires Vorliebe für übermäßige Erklärungen lässt mich fragen, für welche Zielgruppe ihr Werk eigentlich gedacht ist. Der Band enthält eine ganze Menge Übersetzungen und Transliterationen. Nicht-englische Wörter und Phrasen werden im Gedicht fast immer übersetzt, und in den wenigen Fällen, in denen dies nicht der Fall ist, werden die Übersetzungen in einem Glossar am Ende des Bandes aufgeführt. Das Beharren auf der Übersetzung sowie die Tendenz, nicht-englische Ausdrücke kursiv zu setzen, um sie visuell als sprachliches „Anderes“ zu kennzeichnen, könnte nicht nur ein Bewusstsein, sondern auch eine gewisse Kapitulation vor dem Blick einer weißen Leserschaft (und vielleicht vor den Forderungen eines weißen Verlages) signalisieren. Die Arbeit der sprachlichen Übersetzung ist nur ein Teil der kulturellen Übersetzung, die von minorisierten, rassifizierten Künstler:innen verlangt wird.

Doch wie können wir die Politik der Übersetzung neu bewerten, wenn die Künstlerin selbst einen Zwischenraum bewohnt, in dem die sprachliche und kulturelle Übersetzung für das tägliche Überleben obligatorisch ist? In Shires Text wird schwarzer Humor zu einer Möglichkeit, den Kampf um die Vereinbarkeit der unvereinbaren Anforderungen der gleichzeitigen Zugehörigkeit zu mehr als einer Kultur zum Ausdruck zu bringen. Nehmen wir „Bless the Bulimic“, in dem die Sprecherin Gott um Vergebung für ihre Essstörung bittet: “forgive me please,/ famine back home.” Der absurde Humor, mit dem sie Parallelen zwischen ihrem Zwang, Nahrung gewaltsam aus ihrem Körper auszuscheiden, und der Hungersnot im Heimatland ihrer Vorfahren zieht, zeigt die Gefahren der Übersetzung. In ihrer Folge ist sie nicht in der Lage, Mitgefühl für sich selbst zu haben oder ihre Bulimie als legitime medizinische Störung anzuerkennen, eben weil sie das Inkommensurable zweideutig darstellt. Übersetzung ist also zugleich Symptom und Heilmittel für eine gewisse sprachlich vermittelte diasporische Schizophrenie.

In Interviews spricht Shire von der Vorherrschaft der Poesie in ihrer somalischen Gemeinschaft in London. Dieser Einfluss ist jedoch, zumindest auf der formalen Ebene, in ihrer eigenen Poesie kaum zu erkennen, die keine formalen Merkmale mit der somalischen Dichtungstradition teilt und deren strikte Einhaltung der metrischen Skandierung in scharfem Kontrast zu Shires Art, im Bewusstseinsstrom zu schreiben, steht. Stattdessen hat ihre freie Lyrik mehr mit dem Genre der Hees oder somalischen Balladen gemein, eine Affinität, die der Band selbst durch die Berufung auf große somalische Vokalisten wie Hasan Adan Samatar und Magool anstelle von beispielsweise Hadraawi oder Hassan Sheikh Mumin behauptet.

Unabhängig davon hat die Sammlung für Shire-Fans und Skeptiker etwas zu bieten. In ihren Versen steckt eine gewisse unerschrockene Wahrheit, die zwar nicht immer formal interessant, aber immer gewagt, ja sogar anklagend ist. „Bless the Daughter Raised by a Voice in Her Head“ ist ein zärtliches Angebot für Bulimiker, Einsame, Heimwehkranke, Depressive, Verlassene, Außenseiter und Papierlose – ein kühner, doch unbeständiger Band von einer jungen, talentierten Dichterin.

Farah Bakaari ist Doktorandin an der Cornell University und forscht über afrikanische Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts, postkoloniale Studien und Traumatheorie. Sie ist in Somaliland geboren und aufgewachsen.

Bildrechte Foto im Header: ©Image credit Yves Salmon via Flickr CC BY-NC-ND 2.0.

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Literatur

Wenn nur die Wüste sprechen könnte

Wenn nur die Wüste sprechen könnte
Eine Rezension von Romeo Orioguns Lyrikband NOMAD. Von Samuel Osaze

Ich habe mich immer gefragt, was passiert, wenn die Natur eines Tages alle Geheimnisse enthüllen würde, die sie je anvertraut bekommen hat. Was würde nicht alles bekannt werden über die Unzulänglichkeit des Menschen?

NOMAD, geschrieben von Romeo Oriogun, ist reich an Personifikationen. Der Sahara-Wüste werden menschliche Qualitäten zugeschrieben, da sie sich der Aktivitäten innerhalb ihrer Grenzen bewusst zu sein scheint. Es heißt, die Wüste sei die wahre ‚Historikerin‘ der Menschen. Dem stimme ich zu. Zumindest führt sie genaue Aufzeichnungen über diejenigen, die mit ihr in Berührung kommen. Der Wüstensand „birgt alles, was wir zum Sprechen brauchen“, heißt es in einem der Gedichte.

Es stimmt, wer sonst könnte so genau die Geschichten von Migrant:innen erzählen, die in der Hitze der Sahara Wüste alle Kraft verlieren, bevor sie in der brütenden Hitze den Staub küssen, außer die Sahara Wüste selbst? Das Mittelmeer kennt mit Sicherheit ebenso die Zahl derjenigen, deren Leben geopfert wurde, damit andere Migrant:innen in das Land ihrer Träume gelangen konnten. Diese Vermutung ist nicht abwegig!

Romeo Oriogun

Die Migration ist eines der großen Themen von Nomad, wie der Titel schon andeutet. Ein Nomade ist jemand, der ständig in Bewegung ist. Jemand, der ein Leben auf der Wanderschaft führt. Im Oxford-Wörterbuch (2022) heißt es: „Ein Nomade ist ein Angehöriger eines Volkes, der von Ort zu Ort reist, um frisches Weideland für seine Tiere zu finden und der keinen festen Wohnsitz hat.“

Im Laufe der Jahre sind Nigerianer:innen auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen in anderen Ländern und sogar innerhalb unseres Mutterlandes, zu Landstreichern par excellence geworden. Deswegen sind sie anfällig für alle Formen von Ausbeutung, von Libyen (beliebt für Menschenhandelslager) bis zu Maghreb, der Heimat des Tuareg-Volkes, wo die letzte Etappe auf dem Weg nach Europa beginnt. Orioguns Reisegedichte sprechen jeden vertriebenen Nigerianer an. Unaufhörlich begeben sich junge Nigerianier:innen auf den Weg zum Beispiel von benin City nach Italien, wahrscheinlich auch, während du das hier liest.

Das Gedicht mit dem Titel „Someday the Desert will Sing“ (91) legt die Gebeine der Geflohenen offen. Vor der Wüste seien Hirte und Herde gleich, sie sei Archivar der Völker von alters her, behauptet das Gedicht. Es wurde nach Tade Ipadeolas „Sahara Testament“ geschrieben, einer Gedichtsammlung, die 2013 mit dem nigerianischen Literaturpreis ausgezeichnet wurde, und die die die Unermesslichkeit und Weite der Sahara-Wüste als Metonymie erforscht. Die ersten paar Zeilen von „Someday the Desert will Sing“ lauten:

On the day of equinox, the camels walk slowly,

neither responding to the voice of their herders

or to the dunes slowly shifting through an endless arena

of sand. In the Sahara where water is an old tale

 and the herders and the animals are one, united in life

as well as in an ongoing battle toward death,

there is a beginning in every grain of sand,

there is an origin in the night wind and the caves with their many moments of history

hold all that we need to speak from…

Ein anderes Gedicht in der Sammlung, „A Train Stop in the Sahara“ (93), beschreibt einen staunenden Reisenden, der die Weite und Leere der Wüste bewundert.

Who would have thought that man’s hunger

 for movement would lead him here? Perhaps

the ancient ones knew, they saw the journey,

the endless desire for conquest; Alexander’s

sword coming down on history’s knot.

Die letzte Strophe des Gedichts bringt mehr Licht ins Dunkeln:

I, nomad, who walked through cities,

soundless like a bone thrown into a pit/

I have no language for belong…

Bei der Behandlung der Themen Migration und Wanderschaft malt Oriogun gekonnt pittoreske Szenen, wie verrückt sie auch sein mögen, von den harten Realitäten auf einer Reise in die westliche Welt. Auf dem Weg dorthin gibt es viele Hürden zu überwinden. Die Sahara Wüste und das Mittelmeer sind beide zur ewigen Ruhestätte für viele geworden. Die Wanderschaft ist nicht neu. Die Umstände von Romeo Orioguns Flucht aus Nigeria im Jahr 2016 waren sehr unerfreulich. Man könnte meinen, dass der Dichter alle Spuren davon hinter sich lassen will. Doch nach weniger als einem Jahrzehnt im Exil in einem anderen Land, scheint Oriogun immer noch von Nigeria besessen zu sein, oder von Afrika besser gesagt. Er bleibt ein afrikanischer Dichter und nutzt sein Werk, um den gesellschaftlichen Kontext, der ihn zur Ausreise bewegt hatte, zu beleuchten. Es handelt sich um die Art von Migrant:innenliteratur, die aus dem Exil heraus die gesellschaftlichen Entwicklungen des Heimatlandes kommentiert, damit daraus ein besseres Land werde. Diese Anliegen sind Themen in NOMAD, der jüngsten Sammlung des Dichters, welches auf der 3-man Shortlist mit dem Nigeria Prize for Literature 2022 ausgezeichnet wurde.

NOMAD

NOMAD ist ein Sammelsurium von Themen. Zum Teil ist es die Summe der Erfahrungen und Erinnerungen des Dichters und die Art und Weise, wie sich dieser soziale Hintergrund mit der neuen Welt vermischt. Von Wanderschaft, Tod, Desillusionierung von Jugendlichen, deren Heimat die größte Bedrohung für ihre Lebensziele ist, und schließlich von der Unvermeidlichkeit des Zusammenstoßes zweier Kulturen in der neuen Heimat.

„Migrant at the Sahara“ nimmt die Lesenden an den Anfang der Reise mit, zu den Vorbereitungen des schwierigen Weges. In diesem Fall gibt der Dichter, nachdem er vom Geruch des Todes in der Sahara und andere blutige Details auf dem Weg nach Europa erfährt, seinen Traum von der Durchquerung der furchtbaren Wüste und ihrer endlosen Dünen auf. Kurz davor allerdings macht das erste Gedicht “ The Beginning“ (S. 1) deutlich, dass ein Mensch, wenn er vertrieben wird, die Last des Neuanfangs nicht alleine tragen muss.

Das Titelgedicht NOMAD (S. 99) scheint der Höhepunkt der transitorischen Phasen zu sein. Darin spricht ein „erfolgreicher“ Migrant, der es sich irgendwo in Brooklyn gemütlich gemacht hat und über seine Vergangenheit nachdenkt. Die erste Strophe des Gedichtes ist der Erguss eines dankbaren Herzens. Sie lautet: In Brooklyn, we drink to a toast/ in Samar’s asylum, wondering how to quiet/the countries speaking in our mouths. Das endgültige Ziel ist erreicht. Das Asyl wird gewährt. Mit relativem Komfort können die Migranten nur lobend zurückblicken.

Der Dichter scheint eine gute Erinnerung an Benin City zu haben. In vielerlei Hinsicht ist das Lebensgefühl der Stadt in einer Handvoll Gedichte spürbar. Wo es um koloniale Invasion und den Identitätsdiebstahl geht, werden Relikte der Kolonialgeschichte in der alten Stadt hervorgeholt, um diese Botschaft zu vermitteln. Zum Beispiel spricht das Gedicht „Waiting for Rain“ (Seite 23) von den gemeißelten Bildern der Edo-Krieger, die dem kolonialen Schießpulver erlagen, als 1897 die Schatzkammer der Stadt geplündert wurde.

Obwohl er in dem Gedicht, das den Edo-Märtyrern gewidmet ist, nicht ausdrücklich erwähnt wird, kommt einem der Name eines Kriegers, der unter den tapferen Frauen und Männern hervorsticht, sofort in den Sinn. Es ist Asoro n’Iyokuo – ein Soldat von außergewöhnlicher Größe und mit militärischem Einfallsreichtum, von dem gesagt wird, dass er eine Gruppe von Soldaten in einen Hinterhalt gegen die britischen Invasoren führte. Seine Statue, die auf dem Oba Ovonramwen Square in Benin City steht, zeigt, wie er zahlreiche Soldaten des Empire in die Flucht schlug, bevor er schließlich seinen Wunden erlag.

Orioguns Gedichte erinnern an Christopher Okigbo und Gabriel Okara, wenn es um den Kampf der Kulturen beziehungsweise die Verehrung der Wassergöttin des Reichtums und der Fruchtbarkeit (Olokun) geht. Was Oriogun jedoch vielleicht von diesen Vorfahren unterscheidet, ist der Mangel an Musikalität in seinem gut geschliffenen und schwer beladenen dichterischen Arsenal. Ich vermute, dass es das ist, was der Poesie beim Lesen und Rezitieren mehr Farbe verleiht.

Irgendwann im Laufe der Lektüre von NOMAD fühlte ich mich auch einmal verloren angesichts der eigentümlichen Banalität der Prosa, die mich belächelte. Dennoch, was Oriogun an rhythmischem Fluss fehlt, macht er durch seinen erfrischenden Stil reichlich wett: eine einfache, aber tiefgründige Diktion, umhüllt von reichhaltigen literarischen Mitteln. So widersprüchlich das erscheinen mag, so glaube ich doch, dass es genau das ist, was Orioguns Poesie zu der die Art von Anerkennung, die sie heute unter Kritiker:innen genießt, verleitet und warum er als neue „prägende Stimme der afrikanischen Poesie“ bezeichnet wird.

Es ist nicht auszuschließen, dass der Dichter angesichts der Umstände seiner Flucht aus Nigeria aus einer persönlichen Erfahrung heraus geschrieben haben könnte. Nach einem äußerst barbarischen Akt – der Dichter hatte während eines offiziellen Dienstes in Akure beobachtet, wie ein Mob einen anderen Homosexuellen lynchte. Aus Angst, dass ihm ein solches Schicksal widerfahren könnte, brauchte Oriogun keinen Kristallgucker, um ihn zum Verlassen des Tatorts und der Stadt zu bewegen.

Heute schreibt er aus den Vereinigten Staaten von Amerika. Trotzdem könnte dieser Bericht  aber genauso gut in der Phantasie oder durch gründliches Nachforschen zum Leben erweckt werden. Aus welchem Pool die Muse des Autors auch immer geschöpft hat, die Schilderungen sind lebendig gemalt. Dank des Engagements des Dichters für Figuren und einer gelungenen Sprache.

Samuel Osaze ist der Autor von „Der falsche Mond von Yenagoa“ (Gedichte). Übersetzt wurde es aus dem Englischen von Andrea Jeska.

Genre: Lyrik

Autor/in: Romeo Oriogun

Verlag: Griots Lounge Verlag Nigeria (2021)

Anzahl der Seiten: 116

Samuel Osaze ist der Autor von „Der falsche Mond von Yenagoa“ (Gedichte).

Blick Bassy

Der kamerunische Musiker Blick Bassy ist in aller Munde. Über sein politisches Engagement und seine metaphysische Musik.

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Verschiedenes

Phases and Faces

Phases and Faces
von Sabo Kpade

Die Künstlerin Adulphina Imuede im Gespräch mit Sabo Kpade.

Als ausgebildete Malerin ist Imuede eine vielseitige Künstlerin, die mit Öl, Aquarell- und Acrylfarben gleichermaßen gekonnt arbeitet. Zum einen glaubt sie an die erlösende Kraft der Kunst und beschreibt ihren Prozess als therapeutisch. Sie ist eine leidenschaftliche Zeichnerin, die es genießt, die Spannungen und Freuden verschiedenen Formen der Malerei zu erforschen.

Geboren wurde sie in Auchi, Nigeria. Ihre Familie zog während ihrer Kindheit nach Lagos, da ihr Vater in den nigerianischen Staatsdienst musste. Sie wuchs in einer disziplinierten Militärfamilie auf. Dort entwickelte sie ihr Interesse am Zeichnen, da sie schon in jungen Jahren ein Ventil für unausgesprochene Gefühle und Sehnsüchte brauchte.

Nach Abschluss ihres Studiums der Malerei an der Universität von Lagos im Jahr 2016 schloss sie sich der 2018er Kohorte der Plattform „For Creative Girls“ an und arbeitete unter der Mentorschaft von Data Oruwari. Unter dieser Zeit erforschte Imuede neue Medien, um ihre Praxis zu entwickeln, um über die Grenzen des verfügbaren Raums hinauszugehen und persönliche Themen in ihre Arbeit einzubinden.

Seitdem haben sich ihre Technik, ihr Selbstbewusstsein, ihre persönliche Stimme und die verschiedenen Ebenen ihrer Identität weiterentwickelt. Sie verwendet Tusche, Aquarell, Gouache, Buntstifte, Acrylfarben und Kreidepastellkreide auf Papier, sowie Acryl auf Leinwand. Adulphina bringt verborgene Elemente der afrikanischen Geschichte ans Licht und verdeutlicht ihr persönliches Lebensgefühl.

Warum der Titel „Phases and Faces“?

Der Titel verdeutlicht, dass das Leben in verschiedenen Phasen abläuft und dass jeder von uns auf seine eigene Weise auf die jeweilige Phase reagiert. Je älter man wird, desto mehr erkennt man, dass man sich gerade in einem Kapitel seines Lebens befindet und dass die Zukunft weitere Kapitel bereithält, wie groß oder klein das Buch auch sein mag. Man blättert Seite für Seite weiter, bis man für das nächste Kapitel bereit ist.

Handelt es sich bei deinen Figuren um übertriebene Selbstporträts, um übertriebene Versionen realer Menschen oder sind es imaginäre Gestalten? 

Manchmal sind es bestimmte Personen, manchmal sind sie selbstreflexiv. Um ehrlich zu sein, hängt es ganz davon ab, woran ich arbeite: ob es etwas Persönliches ist oder etwas, das ich als Figur oder Thema darstellen möchte. 

Die Figuren werden in der Regel mit dem Gesicht nach vorne aufgenommen. Ist das visuell interessanter als Seiten-, Rücken- oder Vogelperspektiven?

Ich zeichne gerne Gesichter und Porträts, daher sind die meisten meiner Arbeiten Porträts, die das Gesicht und die Gesichtszüge einfangen.

Eloise, 2022

In einigen Gemälden wie „Emotions Are Like Colour Threads“ (2022) und „Many Moons“ (2022) haben Sie Texte eingefügt. Was hat dich zu dieser Entscheidung inspiriert?

Ich habe dies bereits in einigen Aquarellen getan, aber bisher noch nicht in größeren Werken. Das Schreiben ist ein Teil meines kreativen Prozesses und etwas, das ich schon immer gern gemacht habe. Ich glaube, dass ich während der Entstehung dieses Werks viel geschrieben habe, weil ich morgens meistens Tagebuch geführt habe und mir an manchen Tagen ein paar Worte eingefallen sind, von denen ich sofort wusste, dass ich sie aufschreiben muss, um sie nicht zu vergessen.

Gibt es einen Wettbewerb zwischen den Bildern und Texten in Bezug darauf, was dem/der Betrachtenden zuerst ins Auge fallen sollte?

Kein Wettbewerb. Die Texte sind ein Teil meines kreativen Prozesses. Manchmal ist es das, was ich gefühlt habe, und das wollte ich in meiner Arbeit teilen, weil ich glaube, dass ich schließlich ein Medium bin.

Blue Flame, 2022

Erstreckt sich dein Interesse an Texten auch auf das Schreiben von Prosa oder Lyrik aus?

Es sind alles meine Originaltexte. Einige stammen aus meinem Tagebuch, andere habe ich auf meinen Skizzenblock gekritzelt, während ich Skizzen machte. Ich schreibe auch ein bisschen Poesie und Prosa. Zurzeit versuche ich, konsequent Tagebuch zu führen, weil es den Fluss meines Schreibens fördert. Es ist, als würde man einen Kanal freilegen.

Was sind die technischen Besonderheiten dieser Gemäldegruppe?

Die Arbeit mit einer Mischung aus verschiedenen Medien. Ich erinnere mich, dass ich bei etwa drei Bildern mit wasserlöslicher Ölfarbe angefangen habe. Ich liebe Ölfarben, aber ich bin nicht geduldig, wenn es um das Trocknen der Farbe geht. Also bin ich auf Acryl umgestiegen, und ich fand es toll, dass ich andere Medien wie Tinte, Pastell, Kohle, Glitzerstaub und Lack sofort mit meinem Acryl verwenden konnte. Im Gegensatz zu Öl musste ich nicht tagelang warten, bis es trocken war. Dabei wurde mir klar, wie sehr ich es genieße, Medien zu mischen und zu experimentieren.

Healing, 2022

Du verwendest achteckige Leinwände in Gemälden wie „Pages“ (2022), „Pages II“ (2022) und „Pages III“ (2022). Ist dies eine Reaktion auf die Zwänge einer traditionellen rechteckigen Leinwand?

Das ist nichts Bedeutendes. Ich fand es einfach lustig und interessant. Ich glaube nicht, dass eine rechteckige Leinwand an sich irgendwelche Zwänge mit sich bringt. Es kommt ganz auf den Künstler:in und das Projekt an, an dem er/sie arbeiten möchte.

Überschreitest du die Grenzen der anerkannten Tradition, wenn du mit Texten und Rahmenformen experimentierst?

Nein, es geht mir nur darum, Kunst zu schaffen und zu erforschen. Im Allgemeinen denke ich, dass es keine Regeln gibt, wenn es um Kreativität geht. Probiere alles aus, wenn du kannst und wenn du willst, nicht weil du musst. Das hängt ganz von dir, deinen Ideen und deinem kreativen Prozess ab.

Many Moons (Pages), 2022

Warum haben nicht mehr Künstlerinnen und Künstler radikale Präsentationsformen für ihre Werke erprobt, als dies auf einer rechteckigen Leinwand möglich ist?

Rechteckige Leinwände sind beliebter und in der Regel leichter zugänglich und einfacher herzustellen als andere Formen, und es ist einfach, eine Komposition in dieser Form entweder im Quer- oder im Hochformat zu erstellen

Du verwendest eine Vielzahl von Motiven, darunter geflügelte Insekten in „A Girl From Mali“ (2022), Geleefische in „Emotions Are Like Colour Threads“ (2022) und spindeldürre Blätter in „House Hunting“ (2022). Was ist die Motivation hinter diesen Ideen?

Es sind Design-Entscheidungen, die auf der Komposition meiner Arbeit basieren. Meine größte Inspiration wird immer die Natur sein, Tiere und Pflanzen. Das hat einfach etwas Friedliches an sich. Als Kind habe ich mit meinem Vater gerne Wildlife-Kanäle gesehen, und ich bin nach wie vor von der Natur fasziniert. Außerdem bin ich ein Befürworter des massenhaften Pflanzens von Bäumen und des verstärkten Gebrauchs von Papiertüten anstelle von Plastiktüten. Ich finde es wichtig, dass das jeder tun sollte.

A Girl From Mali, 2022
A Girl From Mali, 2022

Wolkenmotive spielen in mindestens drei Gemälden eine große Rolle: „Eloise“ (2022), „How to Hold the Sun“ (2022) und „I Close My Eyes to Dream“ (2022). Soll dies eine Art von Verträumtheit darstellen?

Sie suggerieren Ruhe, Gelassenheit und ja, ein träumerisches Gefühl. Als ob der Kopf in den Wolken schwebt.

Warum machst du Kunst?

Jeder Tag, an dem ich etwas schaffe und mit anderen teile, ist ein Triumph. Ich wache jeden Tag auf und weiß, dass ich das tue, was mir am meisten am Herzen liegt. Es muss das sein, wofür ich hier bin, denn es bringt mir so viel Frieden.

Welche Erwartungen hast du an „Phases and Faces“?

Ich bete, dass es denjenigen, die es betrachten, Frieden bringt, und ich hoffe, dass die Texte diejenigen, die ihnen begegnen, inspirieren und motivieren.

Sabo Kpade ist Associate Writer bei Spread The Word und Redakteur bei Okay Africa.

Blick Bassy

Der kamerunische Musiker Blick Bassy ist in aller Munde. Über sein politisches Engagement und seine metaphysische Musik.

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Fotografie

Zakaria Mtilk

Vagabond with roots
by Zakaria Mtilk

There are places where the harmony with people, the elements and the passing of time is so deeply rooted in us that it creates identity. Every being, every corner, every alley, every change of light, every time of day is then revealed in a random interplay, a grace that strikes the eye and the heart.

I was born and raised in Essaouira, where I trained myself to be a photographer, both culturally and photographically. My excursions through the city and its surroundings, always with my camera in hand, are one big homage to this city. But not only that. It is also its inhabitants who, with their depth, joy, openness and distance, create a fertile field of observation in which time no longer plays a role. This rich heritage is constitutive for me as a photographer.

Day after day, incessantly, I undertake a journey into my inner being to try to extract the essence: capturing a moment that makes visible the multifaceted identity of this place where life shows itself so uniquely. Each photo I choose is a return to Morocco, a vibrant gratitude towards this land so favourable to my visual, affective and emotional unfolding.

Zakaria Mtilk is a Moroccan photographer living in Essaouira. We meet him in a hair salon. Although it is already past 8 pm, it is still light in Essaouira and the salon offers a pleasant shelter from the rough wind blowing through the streets. While the shaving machine hums and the hair falls to the floor, Zakaria enthusiastically tells us about life in Essaouira and his work as a street photographer.

What do you like about your city?

I love Essaouira because it gives me everything I could wish for: Security, stability, the good taste, lifestyle, cultural and spiritual enrichment. And Morocco in general inspires me, but Essaouira even more because it is a city of all colours and religions and nationalities. I love Essaouira very much.

How do you work? Do you deliberately go on photo tours or do you always have your camera with you in everyday life?

To be honest, photography is part of my everyday life. Even when my mother just sends me out shopping, I take my camera with me so that I don’t miss a scene. A friend of mine who is a photographer in Paris once said to me, „Zack, when you leave the house, you always have your keys with you.“ And he told me that it should be the same with the camera. „Keys open doors, your camera will open worlds for you.“

What kind of images or impressions arouse your interest? Which motifs interest you?

The images that the world presents to me. It is the life of the people on the street, how they move, how they work, and also the attitude of the people towards the world.

Is there an intention behind your compositions? Why do you photograph in black and white?

It’s a pure feeling. The composition comes automatically. I don’t look for it too much. I like the bio-geometry of life. I don’t strive for the photos to be perfect, I take things as they come. Life is the true artist in my eyes.

I use black and white photography to guide the viewer to certain emotions or themes, and not to be distracted by the colours. And I also think it is timeless. And because I am inspired by Cartier-Bresson, Rebert Douano, Elliott Erwitt, Sabine Weiß.

What do you document in your pictures? How is Essaouira changing?

Everything changes all the time: the clothes, the habits, the culture, the people who will one day be gone … everything interests me. I walk in my city, Essaouira, and I see many tourists with their cameras, but they only take holiday photos. So I took the initiative and the responsibility to make a photo archive for the history of the people of Essaouira. And I like to do it. Essaouira will become like a brand, like a clothing store with cars, and we have to be careful not to fall into the same mistakes as Marrakech. Let’s keep the city wild and with its soul!

How would you describe the light in Essaouira?

Aaaaah, the light. For me, it’s the secret of a successful photo. Experienced photographers say that Essaouira is a photographer’s paradise, in the early morning and in the afternoon from 5:30pm onwards it is magical here, especially with the white houses even brighter.

How does Russian literature, which you love, influence your work?

Yes, Russian literature opened my eyes to many things. Gogol and Dostoyevsky and especially Michael Bulgakov – The Master and Margarita. Life is beautiful, but it can also be cruel and hard. I have had experiences in the books that I could never have imagined. When you read, you have pictures in your head. And when you see pictures, words come with them. Injustice, misery, joy, jealousy, shame, but also harmony and serenity.

Zakaria Mtilk is a Moroccan photographer with an obsession for observing human nature. For cooperation requests, please write to akono or to Zakaria directly.

Blick Bassy

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Literatur

Lyrik der Ratlosigkeit

Lyrik der Ratlosigkeit
Rezension von Jumoke Verissimo

Samuel Osazes Der falsche Mond von Yenagoa vermittelt die nicht enden wollende Unzufriedenheit, Wut und Verbitterung der nigerianischen Jugend über den Zustand des Landes. Osaze gehört zu einer ausgewählten Gruppe von Dichtern wie Akeem Lasisi, Rasaq Malik, Olajide Salawu, Gbenga Adeoba und anderen, die die traditionelle Ästhetik durch die Verwendung von Bildern aus der mündlichen Poesie neu interpretieren. Osazes Poesie scheint hauptsächlich von seinem Esan- und Edo-Erbe beeinflusst zu sein, das ihm als Ausgangspunkt für den Ausdruck seiner Gefühle dient.

Der Gedichtband von Osaze ist eine düstere Anschuldigung gegen die Ablehnung und Vernachlässigung durch frühere Machthaber, die Nigeria in einen Körper verwandeln, dessen Schmerz der späteren Generation gehört. Das einleitende Gedicht der Sammlung, Der Sklaventreiber, begründet die Unzufriedenheit des Dichters, die sich durch das ganze Buch zieht. Der Sklaventreiber ist, wie Osaze beschreibt, „ein Ungeheur, das vom Blut der Lämmer trinkt / und Taubheit vorgibt / für die Fäuste des Hungers / die gegen die Wände des leeren Magens / trommeln…“. Neben anderen lebhaften Bildern fängt Osaze in seiner Dichtung das Gefühl der Desillusionierung und der Hoffnungslosigkeit ein, wenn er die Jugend als „ein weites, reiches Feld, das von Heuschrecken in Ödnis verwandelt wurde“ beschreibt.

Das gesamte Werk des Dichters ist von einem anklagenden Ton geprägt (der in gewissem Sinne das Tempo der Klagen vorgibt, auch, wenn diese von der nigerianischen Jugend unausgesprochen bleiben). In einigen wenigen Fällen wird die Wut des Dichters jedoch durch sein Bewusstsein für die erhaltende Kraft der Kultur gemildert, was zeigt, dass nicht alles korrupt oder entmutigend ist. Die Gedichte Ein Esan-Mädchen tanzen sehen und Nach dem Tanz, beide im vierten Abschnitt des Buches, loben den Rhythmus einer Tänzerin und wie dieser zu einem Mittel wird, mit dem sich der Optimismus dem Geistigen nähert. Im vierten Abschnitt betrachtet der Dichter das Tanzen als einen Weg, um in die spirituelle Welt einzutreten, auf der Suche nach einer persönlichen und möglicherweise auch nationalen Wiedergeburt. Dieser Abschnitt symbolisiert, dass das Einzige, was in diesem Land funktioniert, die Unterhaltung und die Künste sind.

Osaze gelingt es zwar gut, die Not der nigerianischen Gesellschaft und die Verzweiflung ihrer Jugend in seinen Gedichten darzustellen, doch scheint die Sammlung ein wenig zu sehr nach flüssigem Sprachgebrauch zu streben. Vielleicht liegt das daran, dass die mündliche Form, die beim Schreiben verfolgt wird, nicht vollständig erforscht wird. Es ist wichtig zu erwähnen, dass das Konzept und die Prämisse des Buches gut sind, und es gibt einige bemerkenswerte Zeilen, aber die schriftlichen Elemente könnten besser verfeinert werden.

Beginnen wir mit der Verwendung der mündlichen Poesie in seinem Werk. In den meisten nigerianischen Volksgruppen sind die Formen der mündlichen Poesie typischerweise auf präzise Formulierungen angewiesen, die bei der Beschreibung des Themas nicht an Bedeutung verlieren. Das Gedicht „Sklaventreiber“ zum Beispiel könnte von einer sparsameren Wortwahl profitieren, damit der Leser die Qualen der nicht gewürdigten Arbeit im Sinne des Dichters versteht. Mündlich vorgetragene Poesie versucht, mit wenigen Worten viel zu sagen. Die Mundartdichter, die diese Gedichte vortragen, wissen, dass Worte nicht nur wegen des Bildes, das sie offenbaren, Macht haben, sondern auch wegen ihrer Fähigkeit, an die Gefühle zu appellieren, indem sie dem Leser etwas Neues offenbaren, während sie alles andere der Phantasie überlassen. Da Osaze mit seinen Gedichten versucht, die mündliche Form auf das Papier zu übertragen, erwartet der Leser eine Präsentation und Organisation, die eine Aufführung auf dem Papier nachahmt. Dabei geht es nicht unbedingt um das Wiederholen traditioneller Elemente der mündlichen Poesie, sondern um eine originelle Übermittlung des Gedichts an den Leser, bei der seine Worte über ihr Thema hinaus wirken. Das Gedicht Bei meiner Heimkehr reckt die Fäuste in die Luft zum Beispiel hat so viel Potenzial in der Art, wie es beginnt: „Bringt mich zurück woher ich komme“. Doch die darauffolgenden Zeilen „um meinen zornigen Wurzeln / bis in den Mutterschoß zu folgen, wo ich den / ersten Atemzug tat beim Mahl mit/ den Göttern des Tages“ in eine Metapher, die den Leser so verwirrt, dass das Ziel des Gedichts verloren geht.

Nichtsdestotrotz ist Osaze’s Buch ein wertvoller Beitrag zur Lyrikgemeinschaft in Nigeria. Er schließt sich zeitgenössischen nigerianischen Dichtern an und untersucht die allgemeine Erfahrung junger Menschen, die von jahrelanger schlechter Staatsführung betroffen sind, die ihre Vision vom Nigerianischsein sowohl individuell als auch kollektiv ausgelöscht hat. Von Rasaq Maliks Erkundung des Verlusts in seinen vielen Erscheinungsformen, Saddiq Dzukogis Einsatz von Poesie als Meditation für die Trauer, Ndubuisi Aniemekas Klagen über geschrumpfte Träume bis hin zu Romeo Orioguns Untersuchung des Übergangs und der Transformation des Selbst, sowohl innerhalb als auch außerhalb der nigerianischen Grenzen, bleibt der Fokus dieser Dichter, die Ratlosigkeit über den nigerianischen Staat zu zeigen. Innerhalb und außerhalb der nigerianischen Grenzen beherrscht die Verzweiflung über die Vernachlässigung der eingesperrten Bürger des Zorns, wie Osaze sie beschreibt, weiterhin die jüngsten Gedichte. Angesichts der Vorbereitungen auf die Wahlen ist Osazes Lyrik geeignet, den Puls der Nation in dieser Zeit zu hören. Sie beleuchtet die bekannten und unbekannten Lasten, die unverhältnismäßig stark auf den Schultern der größten Bevölkerungsgruppe Nigerias – der Jugend – liegen.

 

Samuel Osaze, Der falsche Mond von Yenagoa. Gedichte englisch/deutsch. Übersetzt von Andrea Jeska. akono Verlag 2021.ISBN 978-3-949554-00-1.125 Seiten. Softcover. Hier im Webshop bestellen

Jumoke Verissimo

Jumoke Verissimo ist die Autorin zweier hochgelobter Gedichtbände und des Romans „A Small Silence.“ Ihr neuestes Buch ist ein Bilderbuch für Kinder, das auch in Yoruba erhältlich ist: Grandma and the Moon’s Hidden Secret.

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Fotografie

Zakaria Mtilk

Vagabund mit Wurzeln
von Zakaria Mtilk

Es gibt Orte, in denen die Harmonie mit den Menschen, den Elementen und den Zeitabläufen so tief in unseren Wurzeln verankert ist, dass sie identitätsstiftend wirkt. Jedes Wesen, jede Ecke, jede Gasse, jede Veränderung des Lichts, jede Tageszeit zeigt sich dann in einem zufälligen Rendezvous, einer Anmut, die das Auge und das Herz trifft.

Ich bin in Essaouira geboren und aufgewachsen, wo ich mich sowohl kulturell als auch fotografisch fast vollständig autodidaktisch in Fotografie gebildet habe. Meine Ausflüge durch die Stadt und ihre Umgebung, immer mit der Kamera in der Hand, sind eine einzige Hommage an diese Stadt. Aber nicht nur das. Es sind auch ihre Einwohner, die mit ihrer Tiefe, Freude, Offenheit und Distanz ein fruchtbares Beobachtungsfeld schaffen, in dem die Zeit keine Rolle mehr spielt. Dieses reiche Erbe ist konstitutiv für mich als Fotografen.

Tag für Tag, ununterbrochen, unternehme ich eine Reise in mein inneres Wesen, um zu versuchen, die Essenz zu extrahieren: das Festhalten eines Augenblicks, der die vielfältige Identität dieses Ortes, an dem sich das Leben so einzigartig zeigt, sichtbar macht. Jedes Foto, das ich auswähle, ist eine Rückkehr nach Marokko, eine vibrierende Dankbarkeit gegenüber diesem Land, das so günstig für die visuelle, affektive und emotionale Entfaltung ist.

Zakaria Mtiilk ist ein marokkanischer Fotograf, der in Essaouira lebt. Wir treffen ihn in einem Friseursalon. Obwohl schon nach 20 Uhr, ist es immer noch hell in Essaouira, und der Salon bietet einen angenehmen Schutz vor dem rauen Wind, der durch die Straßen weht. Während die Rasiermaschine brummt und die Haare auf den Boden fallen, erzählt uns Zakaria voller Begeisterung vom Leben in Essaouira und von seiner Arbeit als Straßenfotograf.

Was gefällt dir an deiner Stadt?

Ich liebe Essaouira, weil es mir alles gibt, was ich mir wünschen kann: Sicherheit, Stabilität, den guten Geschmack, Lebensart, kulturelle und spirituelle Bereicherung. Und Marokko im Allgemeinen inspiriert mich, aber Essaouira noch mehr, weil es eine Stadt aller Farben und Religionen und Nationalitäten ist. Ich liebe Essaouira sehr.

Wie arbeitest du? Gehst du bewusst auf Fototour oder hast du deine Kamera auch im Alltag immer dabei?

Ehrlich gesagt ist das Fotografieren Teil meines Alltags. Selbst, wenn meine Mutter mich bloß auf die Straße zum Einkaufen schickt, nehme ich meine Kamera mit, damit mir keine Szene entgeht. Ein Freund von mir, der Fotograf in Paris ist, sagte einmal zu mir: „Zack, wenn du das Haus verlässt, hast du doch immer die Schlüssel bei dir.“ Und er sagte mir, dass es mit der Kamera genau so sein sollte. „Schlüssel öffnen Türen, deine Kamera wird dir Welten eröffnen.“

Welche Art von Bildern oder Eindrücken wecken dein Interesse? Welche Motive interessieren dich?

Die Bilder, die mir die Welt vor Augen führt. Es ist das Leben der Menschen auf der Straße, wie sie sich bewegen, wie sie arbeiten, und auch die Einstellung der Menschen zur Welt.

Steckt eine Absicht hinter deinen Bildkompositionen? Warum fotografierst du in Schwarz-Weiß?

Das ist ein reines Gefühl. Die Komposition kommt automatisch. Ich suche sie nicht zu sehr. Ich mag die Bio-Geometrie des Lebens. Ich strebe nicht an, dass die Fotos perfekt sind, ich nehme die Dinge so, wie sie kommen. Das Leben ist der wahre Künstler in meinen Augen.

Schwarz-Weiß-Fotografie nutze ich, um den Betrachter zu bestimmten Emotionen oder Themen zu leiten, und sich nicht von den Farben ablenken zu lassen. Und ich finde auch, dass sie zeitlos ist. Und weil ich von Cartier-Bresson, Rebert Douano, Elliott Erwitt, Sabine Weiß beeinflusst bin.

Was dokumentierst du auf deinen Bildern? Wie verändert sich Essaouira?

Alles ändert sich ständig: die Kleidung, die Gewohnheiten, die Kultur, die Menschen, die eines Tages verschwunden sein werden … alles interessiert mich. Ich gehe in meiner Stadt Essaouira spazieren und sehe viele Touristen mit den Kameras, die aber nur Urlaubsfotos machen. Also habe ich die Initiative und die Verantwortung übernommen, ein Fotoarchiv für die Geschichte der Menschen von Essaouira zu machen. Und ich mache das gerne. Essaouira wird wie eine Marke werden, wie eine Kleiderkammer mit Autos, und man muss aufpassen, dass man nicht in die gleichen Fehler wie Marrakesch verfällt. Bewahren wir uns die Stadt wild und mit ihrer Seele!

Wie würdest du das Licht in Essaouira beschreiben?

Aaaaah, das Licht. Für mich ist es das Geheimnis eines gelungenen Fotos. Erfahrene Fotografen sagen, dass Essaouira ein Paradies für Fotografen ist, am frühen Morgen und am Nachmittag ab 17:30 Uhr ist es hier magisch, besonders mit den weißen Häusern, die noch heller sind.

Hat die russische Literatur, die du magst, einen Einfluss auf deine Arbeit?

Ja, die russische Literatur hat mir die Augen für viele Dinge geöffnet. Gogol und Dostojevski und vor allem Michael Bulgakov – Der Meister und Margarita. Das Leben ist schön, aber es kann auch grausam und hart sein. Ich habe in den Büchern Erfahrungen gemacht, die ich mir nie hätte vorstellen können. Wenn man liest, hat man Bilder im Kopf. Und wenn man Bilder sieht, kommen auch Wörter dazu. Ungerechtigkeit, Elend, Freude, Eifersucht, Scham, aber auch Harmonie und Gelassenheit.

Zakaria Mtilk ist ein marokkanischer Fotograf mit einer Obsession dafür, die menschliche Natur zu beobachten. Für Kooperationsanfragen schreiben Sie bitte an akono.

Blick Bassy

Der kamerunische Musiker Blick Bassy ist in aller Munde. Über sein politisches Engagement und seine metaphysische Musik.

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ankündigung

Grund zum Feiern!

Die Verlage uHlanga und akono freuen sich, die bevorstehende Übersetzung von Kopano Marogas Jesus Thesis and Other Critical Fabulations ins Deutsche anzukündigen.

Marogas Debüt wird von dem in Berlin lebenden Schriftsteller, Sprecher und Schauspieler Ralph Tharayil mit Unterstützung des Deutschen Übersetzerfonds übersetzt und erscheint im Leipziger akono Verlag.

Seit seiner Veröffentlichung im November 2020 hat Jesus Thesis begeisterte Kritiken erhalten. Die südafrikanische Zeitung News24 lobte Marogas Debüt als „erschütternd“ und „zärtlich“ und fügte hinzu, dass „Jesus Thesis die Leser:innen dazu einlädt, ihre Vorurteile zu hinterfragen, indem es Empathie mit Trauer koexistieren lässt und das Erotische mit Trauer und Entfremdung kombiniert.

Akono-Verlegerin Jona Elisa Krützfeld freut sich über die Zusammenarbeit, die mitten in der Pandemie und über vier Länder hinweg zustande gekommen ist. „Ich bin so glücklich und dankbar, dass wir durch dieses Projekt das kreative Netzwerk von Kopano Maroga und uHlanga erweitern können – und vor allem, dass das deutschsprachige Publikum die außergewöhnliche und mutige Arbeit von Maroga kennenlernen wird. Wir hoffen, dass wir im Jahr 2023 mit Lesungen und Aufführungen von Jesus Thesis durch Deutschland werden touren können.

Dieser Vertrag ist eine wunderbare Nachricht„, sagt uHlanga-Verleger Nick Mulgrew. „Ich habe es immer als grausame Ironie empfunden, dass ein Buch von einer*m der großen jungen südafrikanischen Performance-Künstler*innen zu einer Zeit herauskam, in der er/sie aufgrund der Covid-Pandemie nicht öffentlich auftreten konnte. Dies ist eine Wiederauferstehung, nicht nur für ein hervorragendes Buch einer*s hervorragenden Autor*in, sondern auch für unsere kollektiven Hoffnungen als Literaturschaffende. Ich danke dem akono Verlag, dass er diesen Traum Wirklichkeit werden lässt.

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Ein neuer Stern am südlichen Himmel

Ein neuer Stern am südlichen Himmel
von Liam Brickhill

Genie und Perfektion sind keine Synonyme, sondern können sogar sehr gegensätzlich sein. Das Streben nach Perfektion ist zielgerichtet. Es ist ein monolithischer und manchmal sogar zerstörerischer Impuls. Wahrhaft virtuoses künstlerisches Streben hingegen erfolgt nicht nach Diktat. Es ist heterodox. Es ist ein Akt der Schöpfung. Mit dem Album UMDALI (was so viel wie Schöpfer bedeutet) hat der südafrikanische Musiker Malcolm Jiyane die volle Blüte seines rätselhaften Genies gezeigt und tritt zum ersten Mal als Bandleader auf. Auf dem Album dirigiert er seine Band, das Malcolm Jiyane Tree-O, zu einer kaiserlichen musikalischen Alchemie mit einem perfekt unvollkommenen Stück südafrikanischen Jazz.

Die Entstehungsgeschichte des Albums erzählt von den kleinen, alltäglichen Wundern, die das Leben ausmachen, während alle darauf warten, dass es passiert. Ende 2020, als Jiyane wegen Lockdowns und Nichtstun am Boden war, bot ihm das Label Mushroom Hour Half Hour die Möglichkeit, ein Album aufzunehmen (Mushroom Hour stand auch hinter der Veröffentlichung des Soundtracks zu Sifiso Khanyiles Dokumentarfilm UPRIZE! im Oktober 2020 – ein Projekt, an dem Jiyane im Rahmen von Spaza teilgenommen hatte). Doch bevor sich Tree-O für eine zweite Aufnahmesession im Jahr 2021 versammelte, entdeckte Toningenieur Peter Auret ein weiteres Album, das die Band 2018 aufgenommen und auf Eis gelegt hatte. Das Team entschied dann, dass die Zeit für dieses erste Album gekommen war, und so wurde es nun veröffentlicht.

UMDALI album cover
Albumcover UMDALI

Aber große Geschichten haben tiefe Wurzeln, und dieses Album ist die Krönung einer Reise, die vor Jahrzehnten begann. Jiyane wuchs in einem Ort namens Kid’s Haven auf, einem Heim für gefährdete Kinder in Benoni. Eines Tages, so die Geschichte, brachte der legendäre Erzieher und Musiker Dr. Johnny Mekoa seine Big Band mit, um für die Kinder zu spielen. Jiyane hörte ihre Interpretation von „Bags‘ Groove“ und das war’s. Im Alter von 13 Jahren trat er als Schlagzeuger in Mekoas Music Academy of Gauteng ein, und als Erwachsener wurde er zu einem der fleißigsten und umtriebigsten Jazzer in der Joburg-Szene. Als Multiinstrumentalist und multidisziplinärer Kreativer war er eine feste Größe in Steve Kwena Mokwenas Veranstaltungsort Afrikan Freedom Station.

UMDALI selbst wurde 2018 in zwei Tagen produziert und aufgenommen (und drei Jahre später innerhalb von drei Wochen gemischt und gemastert). Mokwena war maßgeblich an dem Prozess beteiligt und erklärt in den Liner Notes des Albums, dass es eine „ehrliche Momentaufnahme“ von Jiyanes Lebensumständen während der Aufnahmen ist: Jiyane hatte den Tod seines Mentors Mekoa und seines Bandkollegen Senzo Nxumalo sowie die Geburt seiner Tochter zu verkraften, deren Bild das Albumcover mit zarter Würde ziert. „Diese lebensverändernden Ereignisse prägen das emotionale Register der Musik und ihre thematischen Anliegen“, schreibt Mokwena.

Africa is a Country

Dieser Artikel erschien im Original auf englisch unter dem Titel “A new star in the southern sky” bei Africa is a Country.

So gibt die erste Strophe von „Senzo seNkosi“, dem ersten Stück des Albums, das Nxumalo gewidmet ist, mit einem elegischen Schwung den Ton an, ein Requiem mit Holz- und Blechbläsern. „Umkhumbi kaMa“ lässt das Schlagzeug in den Vordergrund treten, erhöht das Tempo und verleiht ihm eine suchende, rastlose Energie. Es ist ein Lied, das zeigt, warum Jazz und Funk gut mit anderen zusammenspielen, sich aber geschwisterlich nahestehen.

„Ntate Gwangwa’s Stroll“ ist eine langsame Blues-Hommage an Jonas Gwangwa, den verstorbenen Posaunisten, der Südafrikas Kampf um Freiheit und kulturellen Ausdruck während der Apartheid künstlerisch verkörperte und ein weiterer Mentor von Jiyane war. Auf dem Album triefen die Bläsersätze über der nachdenklichen Perkussion und verteilen sich wie roher Honig über dampfendem UJeqe.

„Als ich anfing, Posaune zu spielen“, erklärt Jiyane, „waren die Spieler, die ich studierte und denen ich zuhörte, keine Südafrikaner: JJ Johnson, Curtis Fuller, Albert Mengelsdorf und andere. Dann begann ich, südafrikanische Posaunisten zu recherchieren, und was ich im Werk von Mosa Jonas Gwangwa fand, hat mich umgehauen. Was Ntate Jonas als Komponist, Arrangeur, Produzent und Freiheitskämpfer geleistet hat, liegt mir sehr am Herzen. Wir sind aus demselben Holz.“

„Life Esidimeni“ erzählt von der unfassbaren Tragödie des Todes von 143 Menschen durch Verhungern und Vernachlässigung in den staatlichen psychiatrischen Einrichtungen Südafrikas. Der Refrain „lendaba ibuhlungu“ (diese Geschichte ist schmerzhaft) erklingt in einem Lied, das Solidarität mit den von der Gesellschaft Vergessenen ausdrückt und sich zu einem Crescendo steigert, das eine Katharsis vollzieht, die so überschwänglich ist, dass sie fast wie ein Wunder wirkt und alles mit sich trägt – Trauer, Schmerz, Liebe, Schönheit – in einer großen, humanisierenden Flut.

Das Album schließt mit „Moshe“, einem Song, der so schön ist, dass er sich jeglichen Worten entzieht, die ich ihm entgegenhalten könnte. Es genügt zu sagen, dass der Gesang des Stücks unerwartete Perspektiven eröffnet und in Tönen spricht, die eine direkte Verbindung zu der Universalität im Kern aller Musik bieten. Phrasen, die zuvor nur angedeutet wurden, finden hier ihren vollen Ausdruck, und der Ruf und die Antwort zwischen den verschiedenen Instrumenten katalysiert etwas Elementares, wie der Wind, der zum Feuer spricht, wie das Wasser, das Gedichte für die Erde schreibt.

Und in all dem – fünf Songs in knapp 45 Minuten – wird das Album von Fingern unterbrochen, die auf den Basssaiten kratzen, dem Atem des Lebens, der durch Blasinstrumente entweicht, und Jiyanes eigenen spontanen Ausrufen und Ermutigungen. Das alles erinnert an die japanische Ästhetik des Wabi-Sabi, eine Weltanschauung, die sich auf die Schönheit und Akzeptanz von Vergänglichkeit und Unvollkommenheit konzentriert. UMDALI wird durch seine winzigen, organischen Unvollkommenheiten zum Leben erweckt und ist so unwahrscheinlich und wundersam wie ein Gänseblümchen aus Barberton, das auf einem rissigen Bürgersteig in Benoni blüht.

Dies ist sowohl ein Jazzalbum als auch ein belauschtes Gespräch zwischen Künstlern, ein musikalischer Dialog. UMDALI ist der Soundtrack zu Mentorschaft, Kameradschaft und enger Verbindung. Es entzieht sich den einschränkenden Fesseln des Genres und der Erwartungen und zeigt, dass das größte Geschenk der Älteren nicht didaktisch oder dogmatisch ist, sondern emanzipatorischer Natur. Es zeigt uns, dass Talent – und Genie – sich durchsetzen werden. Es gibt einen neuen Stern am Südhimmel.

Liam Brickhill ist Teil der Gründungsgruppe der Africa Is a Country Fellows.

Blick Bassy

Der kamerunische Musiker Blick Bassy ist in aller Munde. Über sein politisches Engagement und seine metaphysische Musik.

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