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Tetu Shani ist wiedergeboren

Tetu Shani ist wiedergeboren
von Naila Aroni
Tetu Shani hat das Gefühl, an einem Wendepunkt in seiner Karriere angelangt zu sein. Endlich kann er sich jenseits aller kommerziellen und gesellschaftlichen Erwartungen ausdrücken.
Für den mehrfach preisgekrönten Afropop- und Indie-Rock-Sänger war die Pandemie mehr als nur eine Erschütterung der Normalität. Sie veränderte sein künstlerisches Schaffen. Während Ausgangssperren und Schließungen seine Einnahmen aus Auftritten drastisch reduzierten, erkrankte er auch noch an Covid und kämpfte mit Symptomen, die seine Kreativität erbarmungslos unterdrückten.
Doch trotz dieses turbulenten Jahresbeginns sind Tetus Ehrgeiz und seine Leidenschaft für kreatives Empowerment ungebrochen. Tetus Musik wurde kürzlich für den Netflix-Soundtrack „Blood and Water“ ausgewählt. Neben seinen persönlichen Projekten schafft er weiterhin Raum für alternative Künstler:innen wie ihn, indem er im großen Stil Playlists erstellt, die derzeit eine Fangemeinde von mehreren Tausend Menschen anziehen. Seine Erfolge fühlen sich nicht wie alleinige Siege an. Wenn Tetu gewinnt, wird jede:r alternative Künstler:in, der/die einen sich in Nairobi behaupten will, mit offenen Armen empfangen.
Wir sprachen mit Tetu darüber, was ihn während der Pandemie mental bewegt hat und warum seine Karriere sich in die bestmögliche Richtung entwickelt. Unser Gespräch zeigte, warum „Mind over Matter“ der neue „Mainstream“ sein könnte.

Erzähl uns von der Entstehung deiner neuen Single 'Survive'.

„Survive“ ist im Grunde die Geschichte meiner Reise während dieser Pandemie, um emotional, physisch und spirituell am Leben zu bleiben. Das Werk, das ich jetzt veröffentliche, ist wahrscheinlich die persönlichste Musik, die ich je geschrieben habe. Wenn man an Asante Sana denkt, das ich geschrieben habe, als alles zusammenbrach, habe ich versucht, diese Gefühle der Hoffnungslosigkeit einzufangen. Furukazi war meine Antwort auf die Tatsache, dass es für kenianische Künstler kein Sicherheitsnetz gab, auf das sie sich während der Pandemie verlassen konnten. Survive spannt den Bogen meiner Erzählung über die Pandemie und den Tribut, den Hoffnungslosigkeit und finanzielle Instabilität für meine psychische Gesundheit forderten. Ich erlebte Wellen der Vergeblichkeit, in denen ich anfing, meinen Einfluss in dieser Branche und das, was im Leben wirklich zählt, in Frage zu stellen.

Wenn der Song beginnt, hört man mich sagen „straight from the marrow, from inside my bones, straight as an arrow flying to the moon“, das ist mein Ego, das sich aufputscht. Ich sage nur: „Hört zu, ich bin seriös, ich gebe einfach nicht auf“. Das ist fast so, als ob ich zum Publikum spreche und sage: „Leute, seht mal, ich bin nicht nur ein guter Künstler, sondern ich schaffe unglaubliche, zeitlose Kunst, die den Test der Lebenserwartung bestehen wird.

Hatte die Pandemie direkte Auswirkungen auf deine kreativen Prozesse?

Ich habe dies auf Twitter geteilt, aber für die Leser, die es vielleicht nicht wissen, ich habe mich vor ein paar Monaten mit Covid-19 infiziert. Ich habe mich zwar von dem Virus erholt, aber ich bin ein Langzeit-Covid-Überlebender, was bedeutet, dass ich länger als erwartet unter den weniger „üblichen“ Symptomen leide, insbesondere unter dem Kampf gegen das dumpfe Gefühl im Kopf.

Gehirnnebel fühlt sich an, als würde das Bewusstsein einfach durch den Raum treiben, ohne dass eine Bruchlandung in Sicht wäre. Das klingt dramatisch, aber das ist es auch. Wenn ich mich mit jemandem unterhalte, vergesse ich buchstäblich das Thema unseres Gesprächs und denke mir: „Moment mal, normalerweise bin ich doch gesprächig. Ich weiß, wie man sich artikuliert“, und das war wirklich frustrierend. Es fühlte sich buchstäblich so an, als fehlten Dateien in meinem Gehirn.

Eines Tages spielte ich auf meinem Balkon Gitarre und vergaß den Text zu einem meiner Lieder. Es fühlte sich an wie eine beängstigende Offenbarung, bei der ich zu begreifen begann, dass dies das Ende von allem war, was ich als Singer-Songwriter kannte. Es ist wie bei einem Maler:in, der sich damit abfindet, dass er vergessen hat, wie man malt. Während dieser Zeit habe ich einfach nicht geschrieben und nicht viel gespielt. Ich habe mich einfach von der Musik zurückgezogen und mir genug Zeit gelassen, um zu heilen. Sobald ich mich besser fühlte, habe ich einfach wieder angefangen.

Tangaza Magazine

Dieser Artikel erschien im Original bei auf Englisch bei Tangaza Magazine, einem Online-Musikmagazin für Ostafrika.

In welchem "mentalen Zustand" befindest du dich gerade in Bezug auf deinen musikalischen Sound?

Ich bin im Moment an einem wirklich guten Punkt. Ich bin dabei, meine einzigartige musikalische Perspektive zu finden, was einige Leute vielleicht abschreckt, aber ich bin dabei, die beste Version von mir selbst zu entwickeln. Meine Reise als Songwriter begann damit, dass ich gute Songs über das Leben schrieb und dann herausfand, wie ich diese Musik in Texte übersetzen konnte, mit denen die Leute etwas anfangen konnten. Dann kam die Pandemie und ich merkte, dass mein bildlicher Kelch, mit dem ich andere Menschen füllte und aufmunterte, erschreckend leer war. Also wechselte ich von einer Perspektive der Sympathie zu einer des Selbstausdrucks. Jetzt mache ich Musik, die sich nach mir anfühlt, statt nach einem allgemeinen Gefühl, mit dem sich die Leute identifizieren.

Singer-Songwriter:in haben den Ruf, tiefe, melancholische Songs zu machen, die zu einem akustischen Beat gesungen werden, aber ich versuche, diese Form zu durchbrechen. Ich möchte mit der Produktion und schnellen Beats experimentieren, gepaart mit tiefen, introspektiven Texten. So ähnlich wie Outkast es mit Hey Ya! gemacht haben. Als ich Survive hörte, dachte ich laut zu mir selbst: „Yo, das ist Feuer“.

Du hast dich sehr lautstark darüber geäußert, dass Spotify alternative kenianische Künstler:in in seinen Playlists ausschließt. Warum hast du die Alt. Kenya Playlist erstellt und was wolltest du damit erreichen?

Ich war so aufgeregt, als Spotify schließlich auf unsere Märkte kam. Mit Apple Music konnte ich mich nie wirklich anfreunden, weil es sich für mich wie die Gikomba der Streaming-Plattformen anfühlt. Es gibt nur eine Menge Klamotten und Ballen und keine wirklichen Unterstützungsnetzwerke für die Musikschaffenden selbst. Wenn es darum geht, die eigene Musik zu promoten und voranzutreiben, ist Spotify allen anderen weit voraus. Es gibt eigene Video-Tutorials, die erklären, wie man seine Musik vertreibt, und Artikel von Branchenführern.

Als ich die Spotify Kenya-Playlists überflog, war ich nicht sonderlich beeindruckt. Einige der vorgestellten Künstler:innen waren nicht kenianischer Abstammung. Bei den kenianischen Künstlern:innen, die es in die Wiedergabelisten geschafft haben, handelt es sich größtenteils um bekannte Namen, die jeder bereits kennt, was den Zweck einer Wiedergabeliste und das eigentliche “ Ansprechen der Hörer“ zunichte macht.

Ich bemerkte die verpasste Gelegenheit und beschloss, eine eigene Wiedergabeliste zu erstellen, die aufstrebenden alternativen Künstlern:innen gewidmet ist, die in den Medien nicht so viel Aufmerksamkeit erhalten. In wenigen Worten: Alt kenya besteht im Wesentlichen aus meinen Lieblingssongs meiner Lieblingskünstler aus dem Genre der alternativen Musik. Am meisten freue ich mich, wenn einige Künstler:innen mich anrufen und mir mitteilen, dass ihre Streams deutlich gestiegen sind, weil sie in meiner Playlist vertreten sind.

Was können die Fans bald von dir erwarten?

Ich bringe mein Debütalbum „Life Before the Apocalypse“ heraus. Es ist ein Pop-Punk-Album, das eine Hommage an die Sounds ist, die ich als Kind gehört habe, wie Red Hot Chilli Peppers und Third Eye Blind. Ich habe es vor fast drei Jahren aufgenommen. Weil ich es nicht abbezahlen konnte, liegt es seit drei Jahren auf meiner Festplatte.

Der Arbeitstitel war Heartbreak Amnesia, aber ich habe ihn geändert, denn wenn ich mir das Album jetzt im Nachhinein anhöre, erinnert es mich an eine einfachere Version meiner selbst zu einem anderen Zeitpunkt. Hoffentlich ist es nostalgisch und die Leute können sich damit identifizieren.

 

Naila Aroni ist Juristin und Künstlerin, geboren und wohnt in Nairobi, Kenia. Wenn sie nicht bei der Zeitschrift Tangaza als Redakteurin tätig ist, verbringt sie ihre Zeit damit, darüber nachzudenken, wie man nduma abschaffen kann.

Blick Bassy

Der kamerunische Musiker Blick Bassy ist in aller Munde. Über sein politisches Engagement und seine metaphysische Musik.

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Gefördert durch die Kulturstiftung des Freistaates Sachsen. Diese Maßnahme wird mitfinanziert durch Steuermittel auf der Grundlage des vom Sächsischen Landtag beschlossenen Haushaltes.

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Turunesh befeuert Ostafrikas alternative Musikszene

Turunesh befeuert Ostafrikas alternative Musikszene
von Shishi Wanj

Nachdem ich Coastal Cider gemacht hatte, wusste ich, dass es eine Weile dauern würde, bis ich wieder Musik veröffentlichen würde. Ich hatte sogar vor, dies nicht zu tun. Ich wollte wachsen, in der Welt leben, bevor ich eine neue Welt für mich und mein Publikum beschwor...

Die Singer/Songwriterin Turunesh versprüht ostafrikanischen Charme, der von ihren tansanischen und äthiopischen Wurzeln und ihrer Erziehung bis hin zu ihren künstlerischen Einflüssen gespeist wird. Nach einer zweijährigen Auszeit von der Musikszene bescherte sie uns 2021 ihre neueste Single „Cigarette“. Bislang hat sie eine Handvoll Singles veröffentlicht, zwei selbstbetitelte EPs und ihr Debütalbum „Coastal Cider“. Sie macht große Sprünge in der Live-Musikszene in Vancouver, Kanada, wo sie derzeit lebt. Wir haben uns mit ihr getroffen, um herauszufinden, was sie in ihrer Kunst antreibt, welche neue Musik sie macht und vieles mehr.

Die letzten zwei Jahre waren für die Menschheit und unseren kollektiven Gesundheitszustand sehr anstrengend. Wie hast du als unabhängige Künstlerin die Situation gemeistert?

Wie jeder andere auch, wir waren alle im Überlebensmodus. Manche Tage sind hart und andere noch härter. Meine Freunde und meine Familie haben mich bei Verstand gehalten. Sie lieben mich und ich liebe sie, wir haben das gemeinsam geschafft. Ich habe auch daran gearbeitet, mich wieder in mich selbst zu verlieben, das war die schönste Ablenkung von dem aktuellen Wahnsinn. Das Album, an dem ich arbeite, ist auch zu der Luft geworden, die ich atme. Es ist der Grund, warum ich morgens aufwache und was mir durch den Kopf geht, wenn ich mich nachts zur Ruhe lege. Ich kämpfe jeden Tag für meine Musik, das ist meine Art der Bewältigung.

Es ist eine Weile her, dass du vor "Cigarette" das letzte Mal Musik veröffentlicht hast. Was hat dich dazu inspiriert, diese Platte jetzt zu veröffentlichen?

Es war einfach höchste Zeit. Nachdem ich Coastal Cider gemacht hatte, wusste ich, dass es eine Weile dauern würde, bis ich wieder Musik veröffentlichen würde. Ich hatte sogar vor, dies nicht zu tun. Ich wollte wachsen, in der Welt leben, bevor ich eine neue Welt für mich und mein Publikum beschwor. Ich wollte, dass mich das nächste Projekt mit einer Transformation überrascht. Leider habe ich zu viel gelebt, was ich nicht geplant hatte. Ich befand mich in der Anfangsphase dessen, was eine Ewigkeit des Kummers sein wird. So ist das Leben. Leben enden nun einmal.

Tangaza Magazine

Dieser Artikel erschien im Original bei auf Englisch bei Tangaza Magazine, einem Online-Musikmagazin für Ostafrika.

Wie würdest du als Ostafrikanerin, die in Kanada lebt, die Unterschiede zwischen der dortigen und der hiesigen Gig-Szene beschreiben?

Die Stimmung in der Heimat ist definitiv unübertroffen. Allerdings sind die Szene und die Infrastruktur für alternative Musik unterentwickelt. Der Hauptunterschied ist wirtschaftlicher Natur – alternative Musik wird im Ausland besser bezahlt und verfügt über mehr Infrastruktur. Es ist auch wichtig anzuerkennen, dass sich alternative Musik ständig weiterentwickelt und nicht mehr nur ein Phänomen der Mittelschicht ist. Es gibt erstaunliche Underground-Künstler:innen, die alternative Musik in Kisuaheli für Suaheli machen und Geschichten auf eine Art und Weise erzählen, die textlich und visuell für die breite Masse nachvollziehbar ist. Das ist so verdammt aufregend, weil es beweist, dass alternative Musik in Ostafrika einen vielfältigen kulturellen Wandel darstellt und nicht nur ein Klassengefälle. Die neue Ostafrika-Welle wird sich durchsetzen, wir müssen nur dranbleiben und außergewöhnlich sein!

Siehst du dich selbst als Alté oder African Alternative Künstlerin? Wenn ja, warum? Wenn nicht, warum nicht?

Ich liebe Alté, aber nein, ich bin keine Alté-Künstlerin. Ich denke, Alté ist sehr spezifisch für ‚alternative‘ Musik im westafrikanischen Sinne. Sie ist repräsentativ für deren kulturelle Renaissance und von der Geschichte ihrer Kunst geprägt. Alternative Kunst/Musik gibt es aber nicht nur in Westafrika, ich hoffe, das ist klar. Jedes Land in Afrika durchläuft derzeit eine eigene Renaissance-Bewegung. Ich betrachte mich selbst als alternative Künstlerin aus Ostafrika, die neue Genres für die Kultur schmiedet: Neo Ngoma, Neo Swahili Soul, Neo Taraab und einige rein experimentelle Sachen, die ich noch nicht definiert habe.

Was sollen Leute empfinden, wenn sie deine Musik hören?

Ich möchte, dass sie das Gefühl haben, über sich hinauszuwachsen. Wenn meine Musik jemanden an einen unvorhersehbaren Ort in seinem Kopf bringen kann und ihm hilft, in eine Welt zu entkommen, die er sich selbst ausgedacht hat, dann habe ich es geschafft. Wenn ich vor einem Publikum auftrete, möchte ich, dass es sich so fühlt wie mein Lied Afrodite – ein gefühlvoller Widerhall des Geistes.

If i ever go missing, you can find me beneath your skin
- Afrodite

Visuelles Storytelling ist offensichtlich sehr wichtig für dein künstlerisches Schaffen. Wie findest du die richtigen Leute, die dich visuell repräsentieren? Und erfüllen sie immer deine Erwartungen?

Ich habe die Führung, wenn es um die kreative Richtung meiner Bilder geht, das ist sehr wichtig für mich. Ich führe leidenschaftlich gerne Regie und bin eine Fachfrau für Fotografie und Film, so dass ich mich sehr für das visuelle Ergebnis meiner Musik interessiere. Ich führe hauptsächlich auf dieselbe intuitive Weise Regie, wie ich meine Songs schreibe, die bewegten Bilder kommen zu mir wie die Texte, aber ich schaffe natürlich nicht in einem Vakuum. Ich habe ein unglaubliche tolles Team. Ich bin so dankbar für sie, besonders für eine Frau, Jenn Xu, meine Co-Kreativdirektorin. Sie ist mein Fels in der Brandung, eine wahre Freundin und eine Mit-Träumerin. Ich bin auch dankbar für Jan, den Regisseur, der an das Cigarette-Musikvideo geglaubt hat, als es sonst niemand tat, und der mir geholfen hat, meine Vision auf so beeindruckende Weise umzusetzen.

Wie bringst du deinen Job und deine Musikkarriere unter einen Hut, besonders während der Pandemie?

Man schläft einfach nicht. Ich habe den Dreh des Cigarette-Musikvideos um 4:30 Uhr beendet, war um 5:30 Uhr im Bett und wachte um 7 Uhr auf, um um 9 Uhr meine Frühschicht anzutreten. Es fühlte sich an, als wäre ich den ganzen Tag über stoned gewesen. Ich kann mich nicht beschweren, denn ich habe mir dieses Leben ausgesucht, und ich träume definitiv von dem Tag, an dem ich mich nur noch auf die Musik konzentrieren kann, das ist mein ultimatives Ziel.

Gibt es zu Beginn der zweiten Jahreshälfte irgendwelche zukünftigen Projekte, auf die sich deine Fans freuen können?

Ja, und es wird wunderschön werden. Das ist alles, was ich sagen kann.
Shishi Wanj ist eine Macherin aus Nairobi, Kenia, die eine wichtige Rolle beim Kuratieren und Bekanntmachen verschiedener (meist alternativer) Künstler:innen aus der Kreativszene spielt. Da sie von Beruf Schriftstellerin und DJ ist, hat sie eine andere Perspektive auf kulturelle Räume, Menschen, Nuancen und Notwendigkeiten.

Blick Bassy

Der kamerunische Musiker Blick Bassy ist in aller Munde. Über sein politisches Engagement und seine metaphysische Musik.

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Musik

Im Auge behalten: Sema Sole

Im Auge behalten: Sema Sole
von Kalanzi Kajubi

Sema Sole ist ein vielschichtiger MC aus Kigali, Ruanda. Sein lyrischer Stil ist düster und doch eindringlich, typischerweise rappt er zu Post-Trap-Instrumentals. Wie die meisten anderen Hip-Hopper des Landes rappt er fast ausschließlich in der Landessprache Kinyarwanda, aber mit einer Intention, die ihn von seinen Zeitgenossen abhebt.

Dies kommt besonders auf seiner Debüt-EP Bururu zum Ausdruck, die im Sommer veröffentlicht wurde. Bururu, was übersetzt „blau“ bedeutet, ist eine 5-Song-Introspektion über Depression und ihre vielen Phasen, in deren Mittelpunkt die Geschichte eines wohlhabenden, aber unerfüllten Mannes steht, der alles verliert.

Auch ohne die Sprache zu verstehen, ist der Ton des Projekts sehr klar artikuliert, sogar bis hin zum Cover, das unseren nackten Protagonisten zeigt, der Geld blutet, während er durch eine schattige blaue Umgebung läuft. Semas heisere Stimme ist das perfekte Gefäß für die gewichtigen Themen des Albums, und die Produktion ist großangelegt genug, um seine mundvollen Verse unterzubringen.

Wir haben uns mit Sema getroffen, um mehr darüber zu erfahren, wie seine Musik entstanden ist.

1. Wer ist Sema Sole? Was ist die Geschichte oder Bedeutung hinter deinem Namen?

Mein Kumpel Manzi und ich unterhielten uns eines Tages, und ich erzählte ihm, dass ich in meiner Musik nicht meinen richtigen Namen verwenden wollte, auch nicht den alten Namen, den ich benutzte, als ich 2015 mit dem Rappen anfing, nämlich das inzwischen zum Schreien komische „DK-47“, das eigentlich auch von Manzi erfunden wurde. Ich erzählte ihm, dass ich darüber nachdenke, „Sema“ zu verwenden, was auf Suaheli „sprechen“ bedeutet. Seine Augen leuchteten auf, dann sagte er: „Was ist mit Sema Sole?“ Ich hatte erwartet, dass die Leute denken würden, es stecke eine besondere Bedeutung dahinter, aber es ist wirklich nur der Klang, der mich überzeugt hat. Außerdem fühlt sich der Name wie eine Tabula Rasa an, die die Kreativität nicht einschränkt.

2. Wann hast du angefangen, Musik zu machen? Wie ist dein Weg bisher verlaufen?

Ich habe 2015 meinen ersten Song aufgenommen. Für einen ersten Song war er ehrlich gesagt gut, der Aufnahmeprozess war anstrengend, aber ich war von einer Menge Begeisterung angetrieben. Als Hip-Hop-Enthusiast hatte der bereits erwähnte Manzi damals gerade mit dem Rappen angefangen und ermutigte mich immer wieder, es auch zu versuchen.

Ich nahm eine kleine Auszeit und beschloss, eine Musikpause einzulegen, um meine Selbstzweifel zu überwinden. In der Zwischenzeit habe ich mich vom Musiker zum Schüler gewandelt und konsumiere und nehme bei jeder Gelegenheit Musik auf. So habe ich nicht nur mehr Wertschätzung für andere experimentelle Genres wie Soul, Jazz, Blues und Rock entwickelt, sondern auch aktiv mein Handwerk verfeinert.

Während des ersten Lockdowns traf ich mich wieder mit Manzi, der ebenfalls eine Pause vom Rappen genommen hatte, allerdings aus anderen Gründen. Er ist die einzige Person, die an meine Kunst geglaubt hat, auch wenn ich selbst nicht daran geglaubt habe. Ich schrieb Verse zu Beats und nahm sie mit meinem Handy auf. Ein paar Sessions später veröffentlichte ich meinen ersten Song „Ignis“ als Sema Sole mit meinem lieben Freund und einem meiner Lieblingsacts in der Hip-Hop-Szene von Kigali, Mazimpaka Prime, der überwältigend positiv aufgenommen wurde. Außerdem habe ich mich im letzten Sommer wieder mit meinem Freund Reddy getroffen, der Produzent ist. Manzi, Reddy und ich haben beschlossen, ein Kollektiv zu gründen, das wir „Mellow Couch“ nennen. Unsere Vision für Mellow Couch ist es, alles einzubeziehen, was wir uns in der aktuellen Musikszene wünschen. Das befindet sich alles noch in der Anfangsphase, aber ich freue mich, dass unsere Vision Gestalt annimmt.

Tangaza Magazine

Dieser Artikel erschien im Original bei auf Englisch bei Tangaza Magazine, einem Online-Musikmagazin für Ostafrika.

3. Du scheinst die Welt, die du um deine Musik herum aufbaust, sehr bewusst zu gestalten, vor allem was die Gestaltung des Covers und die Auswahl der Beats angeht. Kannst du uns an deinem kreativen Prozess teilhaben lassen?

Mein kreativer Prozess beginnt in der Regel mit der Suche nach dem richtigen Beat. Die Auswahl des Beats ist sehr wichtig, weil der Beat die Richtung vorgibt, in die ich mit dem lyrischen Inhalt gehen werde; der Gesangston, die Kadenz usw. Meine Kriterien sind einfach. Wenn mich ein Beat beim ersten Anhören nicht provoziert oder erregt, dann ist er nicht der richtige. Punkt. Das kommt nicht oft vor, deshalb bin ich bei Beats sehr wählerisch.

Die Intention ist mein Kompass. Obwohl ich mehr Englisch als Kinyarwanda spreche, habe ich mich bei der Arbeit an Kama selbst herausgefordert, den gesamten Song in Kinyarwanda zu komponieren. Nach der Veröffentlichung von Kama war die Resonanz so positiv, dass ich mich inspirieren ließ, die EP in Kinyarwanda zu singen. Damals wusste ich noch nicht, wohin mich dieses Konzept führen würde, aber die Absicht ist eine Reise und kein Ziel. Ich schloss mich schließlich mit Credo Hope zusammen, der Designerin, die mir einen Katalog von Kunstwerken zeigte, an denen sie gearbeitet hatte, und das Cover der EP sprach mich sofort an. Ich habe sie gebeten, dafür zu sorgen, dass Geld auf dem Rücken der Muse fliegt, was meiner Meinung nach das EP-Cover visuell stimmig macht.

4. Die EP enthält keine Features. War das auch beabsichtigt?

Ich habe mich bei der EP für ein Soloalbum entschieden, weil ich meine künstlerische Bandbreite voll ausschöpfen und einfach meinen Raum haben wollte. Ich habe das Gefühl, dass die EP auch ziemlich persönlich ist, sodass keine andere Stimme außer meiner notwendig war, um meine inneren Gefühle zu vermitteln.

5. Welche Künstler:innen haben am meisten Einfluss auf deinen Sound?

Die ersten Künstler, die mir in den Sinn kommen, sind Kendrick Lamar, Tyler, the creator, Kanye West, Andre 3000, Nirvana, The Beatles, Earl Sweatshirt und Billie Eilish. Mein Sound wurde auch stark von Kamaliza, Cecile Kayirebwa, Teta Diana, Nkurunziza Francois, Gatikabisi alias Don Nova, Bushali und B-Threy beeinflusst. Während ich mich ständig von lokalen Künstler:innen inspirieren lasse, war die Ausweitung meiner Einflüsse über meine Heimatkultur hinaus die notwendige Verbindung zwischen der Festigung meiner Wurzeln und der Entwicklung meines Sounds.

6. Können wir bald ein Video von dir erwarten?

Auf jeden Fall! Ich habe ein Video für Vutu gedreht. Ich hoffe, dass ich es bald veröffentlichen kann. Ich gebe zu, dass ich etwas nervös bin, weil ich nicht weiß, wie es ankommen wird. Es ist das erste Mal, dass ich mich mit visuellen Mitteln beschäftige, und der Prozess ist ein großer Sprung aus meiner Komfortzone. Das Wichtigste ist aber, dass die Leute genauso viel Spaß daran haben wie ich an dem Song.

7. Wie kam es zur Entstehung von Bururu?

„Bururu“ ist das Wort für die Farbe Blau in Kinyarwanda. Die EP fängt im Wesentlichen die wechselnde Stimmung eines Menschen ein, der die verschiedenen Phasen einer Depression durchläuft. Die Vergesslichkeit während eines vorübergehenden Hochs, die sich von „yota“ bis zum plötzlichen Ende der Musik in „bwije“ erstreckt, und die Ernüchterung, als es in „iBururu“ wieder in den Blues zurückgeht. Ich verwende die Metapher von Reichtum und Armut, um dies zu vermitteln. Der Mann beginnt in „Yota“ (was frei übersetzt so viel heißt wie „wenn sie in der Sonne baden“, was bekanntlich eine morgendliche Aktivität ist) damit, dass er davon spricht, wie er es selbst geschafft hat und wie schiere Willenskraft und Selbstbestimmung ihm den Reichtum gebracht haben, den er jetzt hat. Es klingt, als wäre er gerade erst aus der Armut herausgekommen (es ist morgens, kurz nach Einbruch der Dunkelheit), sodass in seiner Haltung immer noch Elemente der Akzeptanz dessen enthalten sind, wie schmerzhaft Armut sein kann, während die Erinnerung an die Nacht noch frisch ist. Er setzt diese Zurschaustellung in Kama fort, was das kinyarwanda Wort für „Melken“ ist. Kühe sind in der ruandischen Kultur ein Symbol für Reichtum. Seinem Tonfall nach klingt er jedoch bequemer und selbstbewusster in Bezug auf seinen Reichtum und sein Wohlergehen, und er ist davon überzeugt, dass sein Erfolg sein eigener Verdienst ist und dass er sich selbst aus seinem vergangenen Unglück befreit hat. In „Vutu“, dem Kinyarwanda-Wort für „Fresskoma“, kommt als Höhepunkt dieses Wohlbefindens die hohe Energie des Tracks und ein hohes Maß an Selbstvertrauen in der Darbietung und noch mehr Prahlerei im Text. Das Wohlbefinden und das Hochgefühl setzen sich im folgenden Stück kurz fort, bevor die Musik abrupt endet, nachdem uns die beiden Stimmen am Ende des Zwischenspiels verraten, dass es bereits Nacht ist. Sie klingen überrascht, wie schnell die Nacht hereingebrochen ist, das Wort „Bwije“ bedeutet übersetzt „es ist Nacht“. Dies führt zum letzten Stück „iBururu“, was übersetzt „beim Blues“ heißt… unser Protagonist findet sich nun arm und bettelnd wieder und beklagt sich darüber, dass er alles im Leben versucht hat, aber kein Glück hatte und das Leben bedeutungslos geworden ist. Damit steht er in scharfem Kontrast zu seiner Haltung in den früheren Stücken. Das Cover vermengt die Metapher mit dem Hauptthema der Depression, wie man an der Art und Weise erkennen kann, wie das Geld aus dem Rücken unseres Charakters fliegt, während er sich vor Schreck in diesem blauen Reich fast nackt wiederfindet.

Ich habe in der Vergangenheit mit Depressionen zu kämpfen gehabt, und in der EP fange ich die unterschiedlichen Haltungen ein, die ich in den verschiedenen Phasen meiner Depression hatte. In den vorübergehenden Hochs vergaß ich, wie schlimm die Tiefs waren, bis ich wieder in den Abgrund geworfen wurde. Es ist wirklich ein Aufruf, sich nicht von den Umständen beeinflussen zu lassen, wie man dem Leben gegenüber steht, auch wenn das leichter gesagt als getan ist.

8. Erzähl mir von der Entscheidung, ausschließlich in Kinyarwanda zu rappen. Du hast einmal erwähnt, dass du versucht hast, auf Englisch zu rappen, aber festgestellt hast, dass es für dich natürlicher ist, auf Kinyarwanda zu rappen.

Das Dilemma ist, dass ich Englisch viel besser beherrsche, aber es gefällt mir viel besser, wie ich auf Kinyarwanda klinge. Ich kann in ziemlich kurzer Zeit gute Verse auf Englisch schreiben, aber wenn ich sie dann singe, muss ich immer ganz viele Aufnahmen machen, weil ich es hasse, wie ich bestimmte Wörter ausspreche. Und normalerweise gebe ich mich nach einer Million Takes zufrieden, ohne wirklich zufrieden zu sein. Ich glaube, das liegt daran, dass sich mein Akzent sehr von dem der Rapper unterscheidet, mit denen ich aufgewachsen bin, sodass ich mir selbst zuhöre und dann immer denke, dass es bescheuert klingt. Bei Kinyarwanda nehme ich mir mehr Zeit, um eine Strophe zu schreiben, und wenn ich sie aufnehme, mache ich einen einzigen Take. Ich hätte nie gedacht, dass ich in der Lage sein würde, ausschließlich in Kinyarwanda zu rappen, bis ich es ausprobiert habe. Ich bin immer noch unsicher, ob ich die Sprache fließend beherrsche. Ich höre viele meiner Zeitgenossen in Kinyarwanda, die Wörter und Ausdrücke benutzen, von denen ich nicht einmal wusste, dass sie existieren. Es ist befriedigend zu sehen, wie sich Menschen, die die Sprache nicht kennen, mit meinen Liedern identifizieren. Ich dachte, ich würde ein Publikum verlieren, aber die Leute verstehen mich immer noch.

9. Wie ist es, in Ruanda Musik zu machen? Wie sieht die kreative Szene dort aus?

Es ist eine sehr aufregende Zeit, um hier in Ruanda Musik zu machen. Vor allem der Hip-Hop hat sich stark weiterentwickelt, weg vom sehr monotonen Old-School/Hardcore-Hip-Hop, der jahrelang vorherrschend war, hin zu einer größeren Vielfalt. Andere alternative Klänge sind aufgetaucht und haben sich durchgesetzt, und die Fangemeinde unserer Künstler:innen wächst auch in der Region. Es ist spannend zu sehen, was die nahe Zukunft bringt.

10. Was steht für dich als Nächstes an?

Ich arbeite weiter an meiner Musik. Das sehr positive Feedback auf diese EP hat mich dazu gebracht, noch mehr zu arbeiten. Ich werde weiterhin Musik über Singles und Kollaborationen mit Mellow Couch und anderen Künstler:innen veröffentlichen. Ich arbeite gerade an meinem Debütalbum. Ich versuche, mir damit Zeit zu lassen, da ich mich selbst noch mehr herausfordern möchte. Hoffentlich kann ich es noch vor Ende des nächsten Jahres veröffentlichen.

Blick Bassy

Der kamerunische Musiker Blick Bassy ist in aller Munde. Über sein politisches Engagement und seine metaphysische Musik.

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Film

Ein Kind der ruandischen Diaspora und das Heimweh

Ein Kind aus der ruandischen Diaspora und das Heimweh
von Kathryn Mara

Das Lied „Sabizeze“ erzählt eine Geschichte, in der ein ruandischer König, der sich einen Sohn als Erben wünscht, seine unwissentlich schwangere Frau verbannt. Im Exil bringt sie einen Sohn zur Welt, Sabizeze. Als der König davon erfährt, macht er sich auf die Suche nach seinem inzwischen erwachsenen Sohn und heißt ihn zu Hause willkommen.

Das Lied spielt eine wichtige Rolle in dem Film Ndagukunda Déjà (Ich liebe dich bereits), einem kurzen Dokumentarfilm unter der Regie von Sébastien Desrosiers und David Findlay. Der Film erzählt die Geschichte des Co-Regisseurs und quebecer Journalisten Desrosiers, der seinen ruandischen Vater (der damals in Montreal lebte) kennenlernt und nach Ruanda reist, um sich selbst zu finden.

Die Wahl des Liedes ist aufgrund seiner Parallelen zur Erfahrung von Desrosiers sehr passend: Er wurde von einer weißen kanadischen Mutter in Abwesenheit seines unbekannten Vaters aufgezogen, traf seinen Vater erst im Alter von 28 Jahren und wurde anschließend von der Familie seines Vaters in Ruanda aufgenommen.

Im Mittelpunkt des 21-minütigen Films stehen Desrosiers‘ Diskussionen über Identität und Zugehörigkeit. Zu Beginn des Films erinnert er sich daran, dass er nicht bereit war, über seinen Vater zu sprechen, weil dies bedeuten würde, „sein Anderssein zu akzeptieren“. Später spricht Desrosiers darüber, wie er „die Rolle des Schwarzen Freundes“ spielte, sich aber wie ein Hochstapler fühlte, weil er von seinen „afrikanischen Wurzeln“ weit entfernt war. Er erklärt, dass es bei seiner Reise nach Ruanda darum ging, Akzeptanz zu finden, doch wenn er über seine Erfahrungen nachdenkt, sagt er „Wenn ich dachte, dass ich in Québec ein Schwarzer war und dass ich … nach Ruanda zurückkehren würde … lag ich völlig falsch, denn dort war ich für sie nur ein Weißer, den sie ‚umuzungu‘ nennen.“ Gegen Ende des Films scheint Desrosiers die Anerkennung zu bekommen, die er sucht. In seinen Gesprächen mit anderen Ruandern sagt Desrosiers‘ Onkel: „Seht ihn nicht als Fremden. Er ist unser Bruder. Das ist unser Sohn und unser Bruder … Ich sagte: ‚Er – das ist unser Sohn. Ein Ruander wie wir.‘ Sie sagten: ‚Nein. Nein. Er ist umuzungu.'“ Sein Onkel erwiderte: „Nein, nein. Er sieht nicht aus wie wir, aber er ist Ruander.“

Dieser Kommentar zeigt Desrosiers‘ Auseinandersetzung mit seiner eigenen Identifikation und der Identifikation anderer mit ihm. Der Film nähert sich der Identität zwar gelegentlich in einer essentialistischen Weise, aber er fängt auch Desrosiers‘ Gefühle der Enttäuschung darüber ein, dass er auf eine Weise identifiziert wird, die er nicht wünscht; seine Unsicherheit, sich als Afrikaner, Ruander und/oder Schwarzer zu identifizieren; und sein Bestreben, dazuzugehören und seine Identität von anderen anerkannt und akzeptiert zu bekommen.

Die Akzeptanz von Desrosiers‘ Vater und Onkel sorgt für ein glückliches, wenn auch nicht triviales Ende. Allerdings werden solche Erkenntnisse im Film für das Publikum in einer weitgehend präskriptiven Weise dargelegt, anstatt durch Dialoge und Interaktion demonstriert zu werden. So erfährt der Zuschauer beispielsweise nur wenig von der Unterhaltung zwischen Vater und Sohn. Wenn ein natürlicherer Diskurs gezeigt wird, kann er etwas unbeholfen wirken. Als Desrosiers beispielsweise seine Mutter aus Ruanda anruft, teilt er ihr mit, dass er „den Onkel“ getroffen hat, bevor er sich zu „meinen Onkel“ korrigiert. Während der Film die Identifikation von Desrosiers mit seiner ruandischen Familie und seine Zugehörigkeit zu ihr aufgrund des gemeinsamen Erbes als ausgemachte Sache darstellt, zeigt dieser kleine Fehler, dass die Identifikation ein viel komplexerer Prozess ist. Mit anderen Worten, Desrosiers‘ anfängliche Identifizierung seines Onkels als „der Onkel“ zeigt, dass rassische, nationale oder sogar familiäre Identifikationen niemals vorausgesetzt werden können, sondern vielmehr Produkte der sozialen Praxis sind. Ich werfe Desrosiers diesen Ausrutscher nicht vor, aber ich hätte es begrüßt, wenn auch andere Fälle der gegenseitigen Entdeckung und Identifizierung untersucht worden wären.

Der Film spielt auch während des fünfundzwanzigsten Jahrestages des Völkermordes in Ruanda 1994. Obwohl nicht klar ist, an wen sich der Film richtet, wird nur sehr wenig über den Völkermord selbst erzählt. Desrosiers offenbart, dass sein Vater nicht darüber sprechen konnte oder wollte, was seiner Familie vor oder während des Völkermords von 1994 widerfuhr. Als sein Onkel Desrosiers zu einer Gedenkstätte für den Völkermord begleitet, erklärt dieser ruhig, dass Desrosiers‘ Großvater 1963, also zu Beginn des Völkermords, getötet wurde, während seine Großmutter, seine Tanten und Onkel 1994 getötet wurden. Desrosiers räumt ein, dass er diese Familienmitglieder zwar nicht kannte, ihnen aber das „Gedenken“ schuldig ist. Er gibt jedoch keine Erklärung dafür ab, warum. Tatsächlich scheint der Völkermord von 1994 selbst des Gedenkens würdig zu sein, doch wird er auch ohne Kontext dargestellt.

Solche Szenen zeigen nicht nur mögliche Unterschiede zwischen dem Reden über den Völkermord von 1994 in Ruanda und in der Diaspora, sondern auch die verschiedenen Prozesse, durch die die Erinnerung an den Völkermord gefördert wird und von denen erwartet wird, dass sie von der ruandischen Jugend aufgegriffen werden. In einer Szene bezeichnet Desrosiers‘ Vater die Reise seines Sohnes als „eine Binde auf [seinem] Herzen“.

Ndagukunda Déjà ist reich an Symbolik; doch wenn Desrosiers nach Ruanda reiste, um Fragen zu beantworten, die er sich sein ganzes Leben lang gestellt hatte, wirft der Film auch mehr Fragen auf, als er beantwortet, insbesondere über Identifikation, Zugehörigkeit und Erinnerung.

Africa is a Country

Dieser Artikel erschien im Original auf englisch bei Africa is a Country.

Blick Bassy

Der kamerunische Musiker Blick Bassy ist in aller Munde. Über sein politisches Engagement und seine metaphysische Musik.

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Literatur

Koleka Putumas Gedichte von Feier, Trauer und Freude

Koleka Putumas Gedichte über Feier, Trauer und Freude
von Maneo Mohale

Das Titelbild von Koleka Putumas Debüt-Gedichtband „Collective Amnesia“ offenbart sich in mehreren Schichten. Auf den ersten Blick ist es ein Schwarz-Weiß-Bild: eine schwarz gekleidete, barfuß gehende schwarze Frau, die auf einem scheinbar nackten Holzboden sitzt; in auffälligem Kontrast dazu eine weiße Babypuppe in einem weißen Rüschenkleid, die sich von der Schwärze der Brust der Frau abhebt.

In diesem Bild von Andy Mkosi, einem in Kapstadt lebenden Fotografen, sind die beiden Figuren ein auffälliges Paar, nicht nur wegen der Art und Weise, wie die monochrome Fotografie die Unterschiede in ihrer Hautfarbe nebeneinander stellt, sondern auch wegen der Geschichte und der Gegenwart, die das Bild evoziert.

Dies ist der turbulente Topf, in den Putuma ihre Feder getaucht hat, und deshalb summen, winden und erheben sich die Gedichte in Collective Amnesia aus dem Blatt, um uns alle aufzufordern, uns zu erinnern.

Collective Amnesia ist die jüngste Ergänzung der Anthologie von uHlanga Press (Heimat preisgekrönter Titel wie Failing Maths and My Other Crimes von Thabo Jijana und Matric Rage von Genna Gardini) und eine atemberaubende, komplexe Erkundung der Verbindungen zwischen persönlicher und politischer Erinnerung. Das Buch ist in die drei Kapitel Vererbte Erinnerung, Begrabene Erinnerung und Nacherinnerung unterteilt und liest sich wie ein zutiefst persönliches Tagebuch und wie eine öffentliche Reflexion über die sich ständig verändernde Identitätspolitik in einem Land, das immer noch von den komplizierten Hinterlassenschaften der Vergangenheit geplagt wird.

Im ersten Kapitel des Buches, Inherited Memory, untersucht Putuma generationsübergreifende Themen in Gedichten, die sich mit schwarzer Kindheit und Gemeinschaft befassen.

In Hand-Me-Downs, einem der ergreifendsten Gedichte des Kapitels, überreicht Putuma uns Zeilen, die vor Zuneigung zum schwarzen Leben nur so sprühen. Sie schreibt: „Ich habe eine Abstammung von Hand-Me-Downs geerbt/ Das hat mich zu einer Mechanikerin und Magierin gemacht“, und später verrät sie nostalgisch, dass sie „[aus] einer Abstammung von Geliehenem und Geborgtem stammt/ Der Zucker des Nachbarn war ein offenes Glas ohne Schuldeneintreiber“.

Die Gedichte in Inherited Memory sind mehr als nur eine Feier des Schwarzen Gemeinschaftslebens, sie rekonfigurieren auf subtile Weise die Bedeutung von Reichtum und wehren sich so gegen Erzählungen, die das Leben der Schwarzen als arm, beschädigt und letztlich entbehrlich darstellen.

Das zweite Kapitel des Buches, Buried Memory (Begrabene Erinnerung), ist eine trügerisch ruhige Erkundung der Trauer. Mit Titeln, die auf die räumliche Durchdringung der Trauer hinweisen – In der Kirche, Auf dem Friedhof, Online, In der Öffentlichkeit, In der Küche -, versuchen die Gedichte unbeirrt, die Auswirkungen sowohl persönlicher als auch historischer Traumata aufzudecken. Hier fängt Putuma ein Gefühl der kollektiven Wut ein, das unter der Oberfläche einer zutiefst traumatisierten Gesellschaft brodelt, und hebt es hervor, wie in Indulgence, wo sie fragt „Mutter, lehre deine Tochter, dass ein Kummer, der sich mitten auf einer belebten Autobahn entlädt, kein Wahnsinn ist.“

Aber es ist das letzte Kapitel von Collective Amnesia, Postmemory, in dem der Leser das ganze Gewicht von Putumas Wut und ihrer Leidenschaft spürt. In diesem Kapitel krempelt Koleka wirklich die Ärmel hoch und packt die dunklen und schwierigen Fragen an, die die Vergangenheit bei so vielen von uns hinterlassen hat.

Hier entfesselt sie ihr Feuer auf Themen wie Gewalt und Homophobie in Memoirs of a Slave & Queer Person, Patriarchat in revolutionären Bewegungen in On Black Solidarity, geschlechtsspezifische Gewalt in Oh Dear God, Please! Not Another Rape Poem und über den Zustand der Rassenbeziehungen nach der Apartheid in ihrem bekannten und 2016 mit dem PEN South Africa Student Writing Prize ausgezeichneten Gedicht Water.

Aber was an Putumas Wut so erdend und kraftvoll ist, ist, wie eng sie sie mit Zärtlichkeit verbindet. In Lifeline, einem Gedicht, das fast ausschließlich aus den Namen schwarzer Frauen besteht (ein Gedicht, das sie als ihr Lieblingsgedicht bezeichnete), näht Putuma ein Rückgrat der Unterstützung, das die Stimmen und die Arbeit der Menschen verstärkt, die ihr Halt geben, die Menschen, die „Black girl /Live!“ skandieren, und die Menschen, die sich ebenfalls für Freude und Gerechtigkeit einsetzen.

Collective Amnesia ist ein Werk von immenser Kraft, von einer Stimme, die mit Sicherheit nur noch lauter werden wird, wenn Putuma tiefer in das Licht tritt, das sie bereits zu werfen begonnen hat.

Blick Bassy

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Fotografie Verschiedenes

Im Gespräch mit Williams Chechet. Historisch bedeutsame Pop-Art aus Nigeria

Im Gespräch mit Williams Chechet. Historisch bedeutsame Pop-Art aus Nigeria
von Tony Ola

Williams Chechet ist ein Künstler aus Lagos, der für seine lebhaften animierten Porträts von politisch und gesellschaftlich wichtigen Persönlichkeiten Nigerias und von kulturellen Ikonen bekannt ist. In seinen Werken schwingen Bezüge zur Pop Art von Andy Warhol und Jean-Michel Basquiat mit. Im Dezember 2020 eröffnete er seine umfangreichste Ausstellung „Hyperflux“, die bis März 2021 in der Galerie Retro Africa zu sehen war. Als digitaler Künstler zeigt Chechet mit seinen futuristischen Werken neue Wege auf, um trotz infrastruktureller und wirtschaftlicher Hindernisse Geschichte und Politik in Afrika zu hinterfragen. Er lädt das Publikum dazu ein, darüber nachzudenken, wie digitale Medien es marginalisierten Menschen ermöglichen, sich mit ihrer Regierung auf eine Art und Weise auseinanderzusetzen, die sich auf die Politikgestaltung auswirkt und wesentlich zur kulturellen Globalisierung beiträgt.
Im Gespräch mit Williams Chechet gibt der Künstler Einblicke in seine Praxis und seine Inspirationen. Bei meiner Arbeit als Kurator in Lagos achte ich besonders auf aufstrebende und etablierte Künstler, die Technologie nutzen, um neue Denkweisen zu fördern. Das erste Mal begegnete ich Chechets Werk 2017 bei seiner ersten Einzelausstellung. Sein Erfolgstrend ist offensichtlich, denn ich spreche mit ihm zu einem Zeitpunkt, an dem er sich die Macht der Technologie und der Kunst eindeutig zunutze gemacht hat.

Williams Chechet, “Big Man”, 2019. Giclee Print on Archival Paper. Courtesy of Artist and Retro Africa.

Was hat Sie motiviert und auf Ihren künstlerischen Stil gebracht?

Mein Stil basiert auf der Geschichte und Entwicklung Nigerias. Als Kind faszinierten mich die Geschichtsbücher und Landkarten meines Vaters, und ich hörte gerne Geschichten über Nigeria aus der Zeit vor der Unabhängigkeit, darüber, wie der berühmte „Riese von Afrika“ entstand. Diese frühen Erfahrungen führten dazu, dass ich die Geschichte als meine visuelle Sprache annahm und mein Ziel verfolgte, die Menschen über die Geschichte Nigerias aufzuklären, indem ich kulturelle Ikonografie und Archivbilder einsetzte und gleichzeitig Elemente der Pop-Art und Pop-Kultur einfließen ließ.

Gibt es einen nigerianischen politischen Führer, der Sie stark beeinflusst hat?

Vielleicht Tafawa Balewa, der erste Premierminister von Nigeria. Als einer der wenigen gebildeten Nigerianer seiner Zeit war er ein lautstarker Verfechter der Rechte der nördlichen Region Nigerias. Tafawa Balewa spielte eine wichtige Rolle bei der Einigung der Nation auf dem Weg zur Unabhängigkeit im Jahr 1960.

Wie reagieren Sammler:innen auf Ihre Arbeiten, die hauptsächlich mit digitalen Medien arbeiten und futuristische Werke schaffen?

Die Sammler:innen reagieren positiv auf meine Arbeiten und sind immer von der Geschichte und der Richtung fasziniert. Manche Sammler:innen sind jedoch zögerlich und skeptisch, wenn es darum geht, meine Werke zu kaufen, weil es sich um Drucke handelt. Ich glaube, dass der Markt für digitale Kunst in Nigeria noch im Wachstum begriffen ist und mehr Unterstützung braucht. Ich habe mehr internationale als einheimische Sammler:innen, die meine Arbeit auch finanziell wertschätzen.

Wie wählen Sie die Archivbilder aus, die Sie in Ihre Arbeit einbeziehen?

Das Aufwachsen in Kaduna hat meine Verwendung von Archivbildern stark beeinflusst, da ich mich von Natur aus zu Porträts hingezogen fühle, die die Kultur feiern und traditionelle Insignien zeigen. Die Bilder in meiner Arbeit sind Verweise auf mein nördliches Erbe, insbesondere auf das Durbar-Fest, das das Ende des Ramadan markiert.

Was hat Sie dazu gebracht, Werke wie "Girls Like You" und "Hype Beast" zu schaffen?

Der Einfluss von Frauen wird in den nigerianischen Geschichtsbüchern übersehen und ist unterrepräsentiert. Wir leben leider in einer von Männern dominierten Gesellschaft, in der Frauen als minderwertig angesehen und behandelt werden. Ich glaube fest an die Gleichberechtigung der Geschlechter und lehne die Wahrnehmung von Einfluss und Kontrolle einer Gruppe über eine andere ab. „Girls Like You“ würdigt den Beitrag und den Einfluss von Frauen in der Gesellschaft und ermutigt junge Frauen von heute, zu träumen und zu wissen, dass sie Großes erreichen können. „Hyper Beast“ beleuchtet die stilvollen traditionellen afrikanischen Frauen und ihre Bestrebungen, Luxusmode zu tragen.

Was war in Ihrer künstlerischen Laufbahn, die sich über zwei Jahrzehnte erstreckt, Ihr größter Höhepunkt?

Es war eine bahnbrechende Erfahrung und jeder Schritt auf meiner Reise war ein Highlight. Mein Motto ist, immer weiter zu lernen und neue Wege zu finden, mich auszudrücken. Angefangen beim Zeichnen mit Buntstiften als Kind, über das Malen in meinen frühen künstlerischen Jahren, bis hin zur Verwendung von Computersoftware, um futuristische Werke zu schaffen. Wenn ich zurückblicke, ist es interessant, die Entwicklung meiner Arbeit und das positive Feedback zu sehen, das ich von den unterschiedlichsten Zuschauer:innen erhalten habe.

Tony Ola ist Kunstkurator und Gründer von Art Bridge Project, einer Plattform, die sich der Förderung und Betreuung von Künstler:innen von morgen widmet. Er nutzt die Kunst, um die kulturelle und persönliche Identität sowie das Wachstum und innovatives Denken in Afrika und der Diaspora zu fördern.

Instagram:
@tonyola_007
@artbridgeproject

Blick Bassy

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Film

Borga

Borga
Interview mit Filmemacher York-Fabian Raabe. Von Hans Hofele.

Seit Ende Oktober läuft er in den deutschen Kinos: BORGA, der Film über die Geschichte zweier Brüder aus Ghana, Kojo und Kofi. Einer wird sich später nach Deutschland auf den Weg machen, denn ein Borga, so heißen die vermeintlich reichen Onkel, die es in der Ferne zu etwas gebracht haben, hat ihn elektrisiert.
Es knistert von der ersten Sekunde an. Das Feuer wird gleich zu Beginn entzündet. Und es wird uns in den Film ziehen und mit seiner emotionale Wucht mitnehmen. Zuerst Ghana, später Deutschland und wieder zurück. Am Anfang brennt das Feuer: Wir sind an einem unheimlichen und doch sehr realen Ort in Afrika. Ein Ort, der schon mehrfach in Reportagen thematisiert wurde: Agbogbloshie oder auch Sodom und Gomorrah genannt, ist ein Teil Accras, der Hauptstadt von Ghana. Es ist dieser ganz reale Unort, ein manchmal apokalyptischer Ort, an dem die Menschen aus dem Elektroschrott des globalen Nordens die Rohstoffe herausbrennen. Es ist aber aber auch ein zutiefst menschlicher Ort, das dürfen wir in Borga so hautnah miterleben, wie es bisher noch nicht gezeigt wurde. Dabei ist Borga kein Dokumentarfilm. York-Fabian Raabe hat als Regisseur ein bildstarkes Spielfilmdebut abgeliefert, das mitreißend inszeniert ist. Für die Kamera ist Tobias von dem Bornes verantwortlich. Das Schauspielensemble ist großartig besetzt, vor allem mit Eugene Boateng in der Hauptrolle. Aber auch die anderen Schauspieler:innen, zum Teil Stars aus Ghana (Adjetey Anang und Lydia Forson), aber auch eine Neuentdeckung des Films, der junge Emmanuel Affadzi, und aus Deutschland Christiane Paul, sind großartig.

Es steckt viel drin in diesem Film über Familie, über Heimat, Migration, Rollenbilder, afrikanische Realitäten und Klischees. Die Herstellung, die Produktion auf Augenhöhe mit den Schauspieler:innen, der wahrhaftige Ansatz dieser Produktion geben genügend Stoff für ein Gespräch, das ich mit Filmemacher York-Fabian Raabe gehalten habe.

Seit 2011 habt ihr an der Produktion gearbeitet. Erzähl doch mal, wie der Film zustande kam.

Man sollte bei dieser Geschichte zwiebeln: Der Kern der Geschichte ist ein familiärer Kern. Da geht es darum, der jüngere Bruder zu sein. Die Anerkennung der Familie zu finden. Das verbindet sowohl Eugene als auch mich, wenn auch in unterschiedlicher Form. Eugene als Teil einer großen Familie, ich bin der Jüngste und hab zwei größere Brüder, die 7 und 10 Jahre älter sind als ich. Wenn man jung ist, dann möchte man die Anerkennung, möchte mithalten, aber man ist aufgrund seiner Entwicklung ja noch gar nicht imstande. Als ich sieben war, ist mein großer Bruder 18 geworden. Das ist der familiäre Kern, der ja witzigerweise überall auf der Welt vorkommt. Das ist auch die Geschichte von unserem Produzenten Alexander Wadouh, dessen Vater und seinem Bruder. Diese Geschichte ist auf der ganzen Welt verteilt.

Da steckt also ganz viel Universelles drin. Letztendlich auch die Gründe, weshalb Kojo nach Deutschland kommt, auswandert beziehungsweise sein Glück woanders sucht.

Ich muss dich jetzt mal richtig loben, weil du auswandern sagst. Die meisten sagen flüchten. Es ist unpräzise, zu sagen „flüchten“; es gibt ein falsches Bild. Flucht und Auswanderung ist ein großer Unterschied.

Im Film habe ich das universelle Motiv des Auswanderns erkannt: Der Vater bevorzugt den ältesten Sohn, für den oder die Zurückgebliebenen reicht es nicht zu einem guten Leben. Ein Motiv, dass ja auch in Deutschland, z.B. meiner Heimat Württemberg im 19. Jahrhundert das zentrale Motiv des Auswanderns war. War es auch im Film so angelegt?

Ich war fasziniert, als ich von Edgar Reitz (Deutscher Regisseur, u.a. „Heimat“, Anmerkung d. Autors) vor kurzem zum ersten Mal die „Andere Heimat“ gesehen habe, wie viele Motive sich mit Borga decken. Damals, im 19. Jahrhundert, sind viele Hunsrücker nach Brasilien ausgewandert. So gibt es in unserem Film die Szene mit Kojo (dem jüngeren Bruder), der den Borga trifft, ihn glorifiziert und der den Wunsch in ihm erweckt, auszuwandern. In der „Anderen Heimat“ gibt der Adelige dem Jakob (auch der jüngere Bruder) ein Reisebuch, was seine Sehnsucht nach der Ferne weiter entflammt. Ich glaube, dass uns Menschen viel mehr verbindet, als wir denken. Ich habe eine reiseverrückte Mutter, die mich ab dem 5. Lebensjahr in alle möglichen Länder mitgenommen hat. Was ich vor allem gesehen habe: Gesellschaften sind anders, Wertekonzepte sind anders aber das Menschliche im Kern, das ist in funktionierenden Gesellschaften das Verbindende. Und deshalb ist es vollkommen egal, welcher Kontinent, welche Hautfarbe. Borga kommt von dem Wort Hamburg, das sind ja diejenigen, die in den Westen gegangen und zu Wohlstand gekommen sind – und dann zurückkehren. Ein albanischer Zuschauer, meinte zu mir, “bei uns heißen die Schatzis”.

Wie ging es dann weiter. Von der Idee zur Produktion?

Die Aktivierungsenergie kam von Stefanie Groß vom SWR. Ich hatte 2011 den Max Ophüls Preis mit meinem Kurzfilm gewonnen. Den hat Stefanie gesehen und gesagt, „ich fände es schön, wenn wir einen Film machen würden“. Dann habe ich gesagt „OK. Dann mache ich mir mal Gedanken.“ Ich hatte vorab schon Ideen, Fragmente, aber sie hat den
Film initiiert.

Du hast doch dann auch noch über Agbogbloshie einen Dokumentarfilm gemacht, war das davor?

Während der Recherche. Früher war ich Student der DFFB. Reinhard Hauff war damals unser Direktor. Er hat zu uns Studierenden immer gesagt: Wenn ihr eine Geschichte seht und ihr habt eine Kamera dabei, halte kurz inne, überlegt Euch ein Konzept und dann fangt an zu drehen. Genau das haben wir gemacht.

Wie war dann der Dreh vor Ort in Accra, an diesem speziellen Ort, waren die Menschen argwöhnisch, als ihr dort aufgetaucht seid? Wart ihr willkommen oder war das schwierig?

Was heißt schwierig? Rein physisch ist da schon eine Herausforderung. Das ist an Giftigkeit schon ne heftige
Nummer. Du hast diese Kombination aus Verbrennungsgiften, dann hast du chemischen Gifte, dann aber auch ganz viel biologische Gifte. Schicht für Schicht kleben sich dann biologische und chemische Hazards zusammen. So krass, dass man auch kilometerweit entfernt in der Luft die Verschmutzung wahrnimmt. Die Umstände waren hart. Was das Menschliche angeht: Was ich bisher von den Menschen in Ghana wahrgenommen habe ist, sie empfangen einen sehr höflich; und wenn man selbst mit Respekt kommt, wird man auch mit Respekt behandelt. Das gleiche gilt für diesen Ort. Wir hatten Partner vor Ort, die wiederum kannten die Chiefs. Agbogbloshie ist in mehrere Bereiche aufgeteilt, man geht dann zu den jeweiligen Chiefs, zollt ihnen Respekt und gibt ihnen auch Geld. Das halte ich übrigens nicht für verwerflich, in Deutschland zahlt man ja auch für Drehgenehmigungen. Wenn der Deal getan ist, geht alles schnell: Es ist krass, wie schnell alle Bescheid wissen. Alle wussten, dass es okay ist, wenn wir drehen.

Wie kam der Cast zustande, es sind ja auch Laienschauspieler:innen dabei?

Der Cast hat mich so überrascht, ich bin immer noch happy, obwohl er so heterogen ist: Adjetey Anang und Lydia
Forson sind Superstars, Adjetey ist in Ghana wie George Clooney. Im Gegenzug der kleine Junge mit der gelben Mütze im
Film ist ein echtes Straßenkind. Wir haben mit einer Organisation zusammengearbeitet, die sich um Straßenkinder
kümmert. Die hat uns die Kinder vermittelt. Es gab Betreuer für die Kinder am Set, das war uns wichtig. Und auch Gagen wurden für die Kinder hinterlegt. Der junge Hauptdarsteller, der junge Kojo (Emmanuel Affadzi) wiederum, ist ein absoluter Profi! Der kam zu mir und fragte: „Director, has something changed this day? No?! Okay then I am going to concentrate on these lines.“ Diese Arbeitsethik habe ich bei kaum einem deutschen Schauspieler gesehen. Und wo hat er das gelernt? Er hat bei „Beasts of No Nation“ mitgespielt. Regisseur war Cary Joji Fukunaga, der den letzten James Bond gedreht hat. Die haben die Kinder schauspielerisch intensiv vorbereitet.

Das, was ihr im Film in den Szenen in Accra zeigt, ist ein sehr ambivalentes Bild von dort. Dort ist sehr viel Menschlichkeit zu sehen. War dir das wichtig zu zeigen, dass es nicht nur schlecht und kaputt, sondern es differenziert zugeht? Dass selbst an üblen Orten wie Agbogbloshie Menschen Mensch sein dürfen?

Ich glaube, es ist sogar mehr als das. Ich habe viel Slums schon gesehen in meinem Leben. Wir haben hier im Westen
oftmals ein verzerrtes Bild. Die Menschen werden meist auf ihr Elend reduziert. Aber gerade wenn Menschen in schwierigen Situationen leben, dann ist die Familie und das soziale Untereinander ja besonders wichtig. Viele vergessen, im Nachkriegsdeutschland sah es auch nicht viel anders aus: Die Städte waren zerstört, es herrschte Anarchie was die Lebensumstände angeht aber keine Anarchie was die familiären Umstände angeht. Die Menschen waren aufeinander angewiesen. Kinder sind losgezogen und haben von der Ernte übrig gebliebene Kartoffeln organisiert. Die
wurden nach Hause gebracht und geteilt. Wenn nicht, gab es Ärger. Es gibt also viele Parallelen. Und das ist es, was viele grundsätzlich falsch verstehen in der westlichen Welt: Sie denken, Menschen in schrecklichen Situationen sind in einem anarchischen Zustand, der apokalyptisch ist. Es ist aber nicht der Fall, Menschen rücken näher zusammen in solchen Situationen. Eigentlich haben wir in Mitteleuropa, in Deutschland, eher das Problem. Wir haben immer weniger Drei-Generationen-Haushalte. Heute leben die Menschen oft komplett entfernt von ihren Familien. Deswegen ist es eigentlich genau umgekehrt von dem, was erwartet wird.

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Culture Africa

Dieser Artikel erschien erstmals auf dem Blog Culture Africa unter dem Titel „Borga – Much more than a Movie.Interview mit/with Director York-Fabian Raabe“ Culture Africa ist ein nicht-kommerzieller Kulturblog und Kooperationspartner der Heroe Book Fair in Mombasa.

Du bist nicht der Versuchung erlegen, aus dem Film heraus eine White Savior Botschaft zu senden: Diese Apokalypse dort in Accra mit ihren Menschen unwürdigen Verhältnissen muss ein Ende haben ?

Der Film ist so gebaut, dass er im Kern eine Message erzählt, die auf das westafrikanische Adinkra Symbol Sankofa aufbaut: Dreht Euch um, guckt in Eure Vergangenheit, lernt daraus und nehmt das Gute aus der Vergangenheit und tragt es nach vorne. Aber wenn du Agbogbloshie als Ort meinst, ich bin Filmemacher und kein Entwicklungshelfer und ich bin auch kein Prediger. Agbogbloshie ist ein sehr komplexer Ort. Für viele Menschen ist es auch ein Zuhause. Wenn du dort hingehst und mit den Menschen drehst, redest, arbeitest, dann ist es erst mal deren zuhause. Und ich habe auch nicht das Recht darüber zu urteilen, nur weil ich denke, hmm, die Tür schließt vielleicht nicht ganz luftdicht wie in Deutschland (ironisch). Dann heißt das noch lange nicht, dass ich das Recht dazu habe zu sagen: Das ist schlecht. Ich versuche mich mit Bewertungen zurückzuhalten, was Umstände angeht. BORGA ist eine Herzensgeschichte und eine Familiengeschichte. Eugene und ich haben diesen Film gemeinsam auf Augenhöhe erschaffen. Wenn es um den Cause geht, den wir wollen, dass alle Menschen gleich angesehen werden, dass die Black Communities erstarken, ihre eigenen Sachen machen können, nicht mehr benachteiligt werden, was diesen Cause angeht, da stehe ich nicht vorne. Ich find es nicht in Ordnung, wenn diese Themen von Nicht-Betroffenen vereinnahmt werden, ich nenn es auch Hijacking. In Amerika passiert es ganz häufig, dass Themen gerne gehijackt werden. Weiße Männer und Frauen hijacken die Themen von Schwarzen Männern und Frauen. Der Cause ist Eugenes Thema, da hat Eugene eine ganz andere Position als ich. Also bildlich gesprochen, ich helfe mit, den Karren zu schieben, ich supporte. Aber ich stehe nicht vorne als Gallionsfigur, ich sitze auch nicht am Steuer. Ich schiebe den halt. Und wenn er in eine komische Richtung fährt, würde ich vielleicht sagen: “Eh, das find` ich nicht gut.” Aber alles andere steht mir nicht zu.

Zur Sprache im Film: Hat es viel Überzeugungsarbeit gekostet, dass der Film auch in Originalsprache mit UT ins Kino kommt? In Deutschland wird ja gerne synchronisiert.

Wir haben Twi, Ga, Fanti und ein bisschen Hausa. Dass es Deutsch synchronisiert würde, war nie ein Thema. Was wir überlegt hatten war, Pigeon English sprechen zu lassen. Wegen der größeren Zugänglichkeit. Eugene hat darauf bestanden, es auf Twi zu drehen. Bei den Castings haben wir gemerkt, dass wenn die Darsteller Twi sprechen, sie auf einem anderen Level spielen. Wir haben uns dann dafür entschieden. Im Nachhinein war es die richtige Entscheidung gewesen.

Wie war denn die Zusammenarbeit mit Eugene Boateng? Er fungiert ja nicht nur als Schauspieler, sondern war auch für die kulturelle Beratung zuständig.

Wenn z. B, Eugene gesagt hat, die Skulptur in dem Afro-Shop in Mannheim, das passt nicht. Dann war diese Figur danach weg. Wenn es ums Schauspiel geht, spüre ich aber meistens instinktiv vorher, wenn etwas nicht stimmt. Falls ich des Rätsels Lösung nicht selber gefunden haben, bin ich zu Eugene und dann haben wir gemeinsam versucht, das zu erforschen. Wir haben, glaube ich, ein Problem in Deutschland mit der Definition von Regie. Da gilt immer noch: Der Regisseur hat als einziger die Vision im Kopf und muss es schaffen, diese Vision genau wie in seinem Kopf auf die Leinwand zu bringen. Aber es gibt viele Arten, Regie zu führen: Bei Michael Haneke gibt es Probleme, wenn die Satzkonstruktion nicht genau wie im Drehbuch ist; Ron Howard dagegen hat die Methode „Directing by Contribution“. Und diese Art von Regieführung (von Ron Howard) ist für einen Film wie BORGA unerlässlich. Weil der Erfahrungshorizont von Eugene, aber auch von den anderen Schauspielern total wichtig ist. Und mit Eugene gab es eine Person, bei dem die ganzen kulturellen Faktoren zusammenlaufen. Zusammen haben wir dann wiederum mit den jeweiligen Schauspielern die Feinheiten herausgearbeitet. Ich habe den Gesamtüberblick und den Blick für die Inszenierung, Eugene den kulturellen Blick und die Schauspieler noch mal ihren eigenen. Aus allem zusammen entstand diese besondere Authentizität des Films.

Es gibt eine schöne Szene im Film, wie Eugene im strahlend blauen Anzug mit teuren Schuhen durch Agbogbloshie läuft. Er scheint wie entrückt. Kannst du etwas zu der Bedeutung des Films für Eugene sagen?

Das kann nur Eugene selbst sagen. Ich kann aber einen kleinen Einblick geben, was ich beobachtet habe. Für Eugene ist der Film eine ganz besondere Erfahrung. Er trägt zwei Heimaten in sich, die Ghanaische und die Deutsche. Wenn man z.B gesehen hat, wie stolz er über seine Heimat in der Kiefernstraße in Düsseldorf spricht und dann wiederum genauso über seine Heimat in Ghana, dann versteht man das. Für den Film musste, wollte und konnte er in beiden Heimaten aufgehen und auch in beiden bestehen. Deswegen ist es für ihn ein ganz besonderer Prozess gewesen. Er hat beide Seiten dabei auch neu kennengelernt. Zu der Szene mit dem Anzug gibt es eine Anekdote: Eugene steht im Anzug auf der Brücke, wir drehen gerade, da kommt ein Einheimischer und beschwert sich, dass wir wieder nur das Klischee (die Armut auf der Müllhalde und nicht das wirkliche Leben der Menschen) zeigen. Eugene hat dann mit ihm gesprochen und die Idee des Films erklärt. Danach war er begeistert.
An den Ort kommen nämlich viele Journalisten und machen einen “Leidenstourismus”. Das ist ein großes Problem. Sie
schaffen ein Mitleidsbild, von oben herab. Diese Mitleidsperspektive nimmt Respekt und Stolz.

Du hast viel Kontakt zur Ghana Community in Deutschland. Wie nimmst du das Verhältnis der Menschen in der Diaspora war?

Ich kann hier nur meine Beobachtungen schildern, die weder allgemeingültig sind, noch in irgendeiner Weise wertend sein sollen. Das ist ein komplexes Feld. Allein das Wort Diaspora setzt ja schon ein Perspektive. Für viele ist aber Deutschland ihre Heimat und das Wort Diaspora macht in diesem Zusammenhang weniger Sinn. Für mich unterscheiden sich die Menschen mit afrikanischen Wurzeln in Deutschland deutlich. Sind sie im Ursprungsland geboren oder nicht? Haben sie dort gelebt? Wie sind sie damit umgegangen, in einem “neuen” Land zu leben bzw. wie gehen ihre Kinder damit um, wenn das neue Land die Heimat ist, oder auch nicht? Gerade in Deutschland sehe ich es bei den Ghanaen, bei unseren Vorstellungen: Die eine Hälfte kann Twi (oder eine andere ghanaische Sprache) und ist noch sehr verbunden mit der ghanaischen Kultur und die anderen können es nicht. Da hat jeder so seinen Blick und seinen Konflikt. Ich würde das aber immer positiv konnotieren. Es ist Bewegung da, es wird sich auseinandergesetzt, ein Bewusstsein geformt und das ist das Tolle.

In einem anderen Interview habe ich gelesen, dass Eugene die Rolle gar nicht erst spielen wollte, wegen der vermeintlichen Klischeerolle, stimmt das?

Das ist eine große Fehlinformation! Er wollte das Drehbuch nicht lesen! Ein Jahr hat es gebraucht, dass ich ihn
überzeugen konnte, das Drehbuch zu lesen. Man muss das verstehen. Da kommt ein weißer Regisseur und sagt: Ich hab hier eine afrikanische Geschichte für Dich. – Bis dato hat er so viele schlechte Erfahrungen damit gemacht, er hatte einfach keinen Bock mehr auf die Mitleidsgeschichten.
Wir dagegen haben ihn belagert, haben ihm Mails geschrieben… Dann haben wir ihn getroffen. Da hab ich zu ihm gesagt: “Eugene, das ist ne Hauptrolle, eine super Geschichte. Lies‘ doch die ersten 15 Seiten. Wenn sie dir nicht gefallen, hau es in den Müll!” Und er hat es gelesen und war hin und weg. „Wir müssen das machen. Sofort! York! Und das… und das…“ war seine Reaktion.

Mit deinem Film BORGA stellst du schon noch immer eine Ausnahme, was die Authentizität von Geschichten und Rollenbildern aus Afrika betrifft, oder?

Das stimmt leider schon. Aber auf den ersten Blick könnte man BORGA auch vorwerfen, auch dort macht die Hauptfigur ja nicht nur coole Sachen. Aber er macht diese aus gutem Grund. Das ist alles an realen Personen recherchiert. Es wird also verstanden, warum Personen etwas tun. Und damit wird die Oberflächlichkeit genommen: “der Schwarze Mann ist der Drogendealer, nimmt die weißen Frauen weg”. Das wird bei Borga ausgehebelt, weil das Leben viel komplexer ist. Ich finde es prinzipiell gut, wenn Schwarze Schauspieler:innen alles spielen – alles! Vom Richter bis zum Gangster. Warum denn nicht? Warum soll Scarface nur ein Weißer spielen dürfen? Man muss immer ein bisschen unterscheiden zwischen dem Cause, also dass man machen möchte, dass sich das Bild von Schwarzen Menschen ändert und was einzelne Genres und Personen sind, mit denen man sich emotional verbindet. Wenn da zum Beispiel ein Mensch ist, der aus Liebe zu seiner Familie ganz viele Dinge über sich ergehen lässt, die dann partiell auch noch nicht ganz legal sind, dann steht da vorne, dass das jemand aus Liebe macht. Da steht dann ein Held, der alles über sich ergehen lässt, weil er es aus Liebe zu seiner Familie und den Glaube an seinen Traum macht. Das ist doch ein anderes Bild, als wenn du einen Schwarzen Verbrecher plakativ in einer deutschen Vorabendserie siehst. Menschen reden gerne über das „Was“ und nicht so sehr über das „Wie“. Ich kann dir beispielsweise eine Anwaltsrolle schreiben, da bekommst du das Kotzen. Ich könnte dir wahrscheinlich aber einen Mörder schreiben, der ein so emotional naher Mensch ist, dass er ganz positiv rüberkommen würde. Also das „Wie“ ist viel entscheidender, als das „Was“. Und so gelangen wir zur Authentizität.

Müsste noch viel mehr passieren im deutschen Film, was Diversität angeht? An deutschen Bühnen ändert sich langsam etwas, bekannte Ensembles wie das Berliner, Bochumer Schauspielhaus, Frankfurt haben Schwarze Schauspieler:innen…

BORGA tut hier ein kleinen Beitrag, denn es tut sich was seit 2020/2021. Aber ich möchte hier in den Blick kurz in die Zukunft richten. Auf der einen Seite habe wir als Filmemacher eine gesellschaftliche Verantwortung. Auf der anderen
Seite auch eine Verantwortung gegenüber dem Publikum, es zu unterhalten, abzuholen und interessante, authentische
Geschichten zu erzählen. Hier liegt aber das Problem im deutschen Film bzgl. mehr Diversität. Wir brauchen auch gute Stories für unsere diversen Schauspieler. Denn so richtig ans Herz geht es nur, wenn es tief in die Figuren geht. Dafür müssen die Rollen geschrieben werden. Das ist nicht einfach. Es gibt also zu wenig gute Drehbücher. Die Rückmeldung, die wir mit unserem Film von den Black Communities bekommen haben ist: “Ihr zeigt mit dem Film,
dass es ein Junge wie der Eugene schaffen kann, den Deutschen Schauspielpreis zu erhalten.”
Dieser Glaube, es schaffen zu können, war bisher dort nicht immer da. Und das ist etwas, was Eugene mit ausgelöst hat. Dass da Bewegung und mehr Confidence in das eigene Tun kommt. Auf einmal kommen da Nachrichten aus den Communities:
„Wir wollen das auch machen, kannst du sagen, wie das geht?“
Und hier gibt es viele gute Stories! Was jetzt noch fehlt, sind handwerklich gut gemachte Drehbücher. Denn Drehbuchschreiben ist ein zeitintensives Handwerk. Und die Confidence in den Communities erwacht ja gerade erst. Es wird also ein bisschen Zeit brauchen, bis wir eine große Menge an guten Stoffen in guten Drehbücher bekommen. Dieser Bewegungsprozess insgesamt braucht noch etwas Zeit. Und wir sollten hier supporten, gerade weil Schwarzen Autor:innen bisher oftmals die Türen verschlossen geblieben sind.

Eine wichtige Rolle spielen hier die öffentlich-rechtlichen Sender, für die ich eine Lanze brechen möchte. Ohne sie gäbe es in Deutschland ein kulturelles Massaker. Aber so wichtig in diesem Prozess die öffentlich-rechtlichen Sender auch
sind, ich wünsche ihnen eines: Dass sie besser ihre Zielgruppen kennenlernen. BORGA zeigt das ganz gut. Es sind eben nicht nur die Jungen, die den Film gut finden. Bei den Vorführungen gibt es auch eine große 60+ Zielgruppe, die auch auf den Film steht. Das Publikum kann manchmal viel mehr ertragen als ihm zugetraut wird. Deshalb wünsche ich mir mehr diverse, authentische Geschichten mit Tiefgang, ohne dabei die Unterhaltung zu verlieren; sowohl als TV -Format, als auch als Kino-Koproduktion.

Hans Hofele ist Gründer und Autor bei cultureafrica.net, einem nicht-kommerziellen Blog zur modernen Kultur Afrikas.

York-Fabian Raabe (* 1979 in Kassel) ist ein deutscher Filmregisseur, Drehbuchautor und Filmproduzent. Bekanntheit erlangte er vor allem durch seine im afrikanischen Kontext angesiedelten Regiearbeiten Zwischen Himmel und Erde (2010) und Borga (2021).

https://borga-themovie.com/

Blick Bassy

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Literatur

Abdulrazak Gurnahs Skeptizismus

Abdulrazak Gurnahs
Skeptizismus
von Nicole Rizzuto

Die Nachricht, dass Abdulrazak Gurnah den Nobelpreis für Literatur erhalten hat, löste sowohl Freude als auch Überraschung aus. Als erster schwarzafrikanischer Autor seit Wole Soyinka vor 35 Jahren ist Gurnah bei den Leser:innen auf dem Kontinent und noch viel weniger außerhalb des Kontinents ein nicht ganz bekannter Name. Die Ankündigung löste bei den in den USA lebenden Leser:innen und Wissenschaftler:innen eine wahre Flut von Amazon-Wunschzetteln aus. Wie Bhakti Shringapure schreibt, wirft Gurnahs Sieg Fragen über das Verfahren des Nobelpreiskomitees zur Auswahl afrikanischer Schriftsteller:innen auf, und sie vermutet, dass Gurnah ihr wahrscheinlich zustimmen würde, was die nicht ganz reinen Motive angeht, die hinter seinem Sieg über den kenianischen Ngugi wa Thiong’o stecken, den Schriftsteller, von dem lange erwartet wurde, dass er für das Komitee als Stimme Afrikas fungiert. Eine weitere Frage, die der Preis aufwirft, ist, ob der Preis nicht eine „Neuentdeckung“ von Gurnahs Werk unter Wissenschaftler:innen in den USA auslösen wird, die die bereits solide wissenschaftliche Arbeit über sein produktives Schreiben an Orten außerhalb des akademischen Zentrums der USA außer Acht lässt.

In der Tat könnte man Gurnahs Bücher als Antworten auf genau diese Fragen lesen. Seine Romane sind ein laufender Kommentar und eine Skepsis gegenüber der Kulturpolitik der Verpackung afrikanischer Geschichten für die globale Verbreitung und den Konsum. Er hat die sich verändernden Vektoren dieses Phänomens von der Kolonialzeit über den Kalten Krieg bis hin zur Gegenwart erforscht. Die vertraute Forderung an die afrikanische Person, einem europäischen Publikum von den Ursprüngen und vermeintlichen Missständen in ihrem Land zu erzählen, zieht sich durch sein gesamtes Werk. Als der Erzähler in Admiring Silence die Eltern seiner zukünftigen englischen Frau treffen will, warnt sie ihn davor, mit ihnen über Sansibar zu sprechen, da dies ihre Selbstzufriedenheit mit dem rassistischen England verstärken würde. Gurnahs bissige Ironie kommt zum Vorschein, wenn der Erzähler sich darüber ärgert, dass seine zukünftige Schwiegermutter es ablehnt, „ein paar Anekdoten über Folter oder Hunger zu hören“, und ihr Mann stattdessen nur seine „Empire-Geschichten“ hören will. In Das letzte Geschenk wechseln die zukünftigen englischen Schwiegereltern und die Familie von bombastischen Spekulationen über die ethnisch-rassische Herkunft ihrer zukünftigen Schwiegertochter, die imperial-ethnographisch vorgetragen werden, zu einem beiläufigen, ätzenden Rassismus. Der Vater des Freundes bittet die junge Frau liebevoll, die Familie mit einem „Dschungelhasen“ zu versorgen. In diesem Buch geht es auch sehr stark um den Widerstand der in Sansibar Geborenen, darum, Geschichten über die Vergangenheit in diesem Land zu erzählen, ebenso wie um den Widerstand der anderen, sie zu hören. Gemessene Zurückhaltung ist auch ein zentrales Thema und eine formale Technik in Ferne Gestade, wo ein Asylbewerber in England den berühmten Wunsch von Bartleby the Scrivener auslebt, lieber nicht zu sprechen, nur um später in Anfällen und Anfängen ein generationenübergreifendes Drama zu enthüllen, das die historisch wichtige Stellung Sansibars in den vorkolonialen und kolonialen Handelsrouten und der Welt des Indischen Ozeans hervorhebt.

Die Romane sind auch skeptisch gegenüber der Art von Weltliteratur, die von internationalen Organisationen und US-Interessen sowie kolonialer Bildung finanziert wird. Gurnahs Romane verorten diese Art von Projekten in Sansibar und untersuchen, warum und wie sie Denker:innen und Schriftsteller:innen in Afrika verleiten, sich daran zu beteiligen. In Ferne Gestade wird die Entdeckung der Weltliteraturen durch eine Figur als Teil einer Erzählung über das Erwachsenwerden im Kalten Krieg nach der Unabhängigkeit Sansibars von England dargestellt. Eine denkwürdige Passage beschreibt die Eröffnung einer luxuriösen Bibliothek durch die United States Information Services als Teil der Mission, die Herzen und Köpfe Sansibars für den sozialistischen Block zu gewinnen. Gurnah beschreibt die Anziehungskraft der Bibliothek in sinnlichen Begriffen: die Berührung der kühlen Luft auf der Haut, die visuellen und taktilen Genüsse der Möbel, die modernen Linien der Tische und Zeitschriften. Die US-Literatur in der Bibliothek projiziert mit ihrer Liste von Eigennamen von Ralph Waldo Emerson bis Frederick Douglas demokratische Freiheit, auch wenn Gurnah signalisiert, dass die Zirkulation dieser Literatur untrennbar mit den Widersprüchen des US-Kapitalismus verbunden ist. Er verweist auf die Materialität der Bücher: „groß und schwer“, „schimmernd“, „mit Gold und Silber eingefasst“. Der Erzähler in dieser Szene kontrastiert diese verführerische Propaganda der US-Kulturmission mit der Kolonialbibliothek, die die Briten bei ihrer Abreise verschlossen und verlassen haben, und mit der Schulbibliothek. Die Schulbibliothek, in der die von den Kolonialverwaltern über Jahrzehnte weggeworfenen, verschwendeten und „überschüssigen“ Bücher aufbewahrt werden, ist auch der Ort der Literatur als Versprechen eines falschen Universalismus und Kosmopolitismus. Die Verwalter hinterlassen Bücher, die von den Europäer:innen als den großen Zivilisatoren zeugen. Doch Gurnah sträubt sich gegen den Kontrast des Erzählers. Obwohl die Werke in der Bibliothek der amerikanischen Botschaft nicht mit Erinnerungen an die Kolonialherrschaft behaftet sind, weist Gurnah darauf hin, dass das Projekt der kosmopolitischen Weltbildung, das die Bibliothek beabsichtigt, immer noch in den Netzwerken der Macht gefangen ist, die den Kalten Krieg definierten, und keineswegs neutral ist. Darin unterscheidet sie sich nicht so sehr von der Kolonialbibliothek oder der Schulbibliothek.

Africa is a Country

Dieser Artikel erschien im Original unter dem Titel „Abdulrazak Gurnah’s Scepticism“ auf englisch bei Africa is a Country.

Gurnahs Bücher sind Liebesbriefe an das kosmopolitische Ideal einer Weltliteratur, in der die Fiktion die eigene Vorstellungskraft erweitert und die Verbindung zu literarischen Geschichten über Meere und Kontinente hinweg vertieft, auch wenn sie dem Prestigelesen und den falschen Universalismen, die die Literatur verspricht, sehr skeptisch gegenüberstehen. In Gravel Heart schreibt er über einen Vater in Sansibar, der aus den Resten der Literatur, die ihm in den ersten Jahren nach der Entkolonialisierung zur Verfügung standen, eine „willkürliche Bibliothek“ zusammenstellt. Diese persönliche Bibliothek ist ein Sammelsurium aus populärer Belletristik und anspruchsvollen Werken, englischen Dramen wie Shakespeares Stücken, Western und Kriminalromanen sowie einer gekürzten Ausgabe von Tausendundeiner Nacht.

Nun, da Gurnahs Werke für Leser in der gesamten Welt, einschließlich den USA, zugänglicher werden, ist zu hoffen, dass die Menschen im Eifer des Gefechts darauf achten, die konsumorientierten Lesestrategien zu vermeiden, zu denen sie aufrufen. Gurnahs Nobelpreis ist eine Gelegenheit für Wissenschaftler:innen, die intellektuelle Arbeit derjenigen, die sich bereits eingehend mit seinem Werk befasst haben und die in Afrika und darüber hinaus ansässig sind, aufzuspüren, zu nutzen und darauf aufzubauen, anstatt sie zu ignorieren.

Nicole Rizzuto ist außerordentliche Professorin für Englisch an der Georgetown University.

Blick Bassy

Der kamerunische Musiker Blick Bassy ist in aller Munde. Über sein politisches Engagement und seine metaphysische Musik.

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Postfeminismus in Nigeria

Postfeminismus in Nigeria
ein Gespräch zwischen Grace Adeniyi-Ogunyankin und Simidele Dosekun

Das neue Buch von Simidele Dosekun, Fashioning Postfeminism: Spectacular Femininity and Transnational Culture“ (Spektakuläre Weiblichkeit und transnationale Kultur) handelt von jungen, klassenprivilegierten Frauen in Lagos, die – in spektakulärem Ausmaß und in spektakulärer Kombination – Flechtfrisuren und Perücken, falsche Wimpern und falsche Nägel, schweres und makelloses Make-up und die höchsten Absätze tragen. Dieser „spektakulär weibliche Stil“, wie sie ihn nennt, hat in Nigeria in den letzten 15 Jahren an Sichtbarkeit und Popularität gewonnen. Er dominiert die populären nigerianischen Medien, von Nollywood-Stars und anderen Prominenten über Hochglanz-Frauenzeitschriften bis hin zu den Looks, die von Websites wie bellanaija.com und anderen Accounts in den nigerianischen sozialen Medien kuratiert werden. Es überrascht nicht, dass dies auch der Stil von Bräuten und anderen Frauen auf den „fabelhaftesten“ nigerianischen Hochzeiten ist. Auf der Grundlage von Interviews mit 18 Frauen in Lagos, die sich weitgehend in diesem Stil kleiden, befasst sich Fashioning Postfeminism mit den damit einhergehenden Vorstellungen von Identität und Selbst, die gestaltet und vermittelt werden. In dem Buch wird argumentiert, dass die Frauen sich selbst in „postfeministischen“ Begriffen sehen: als „bereits ermächtigt“ und sogar „selbstermächtigend“. Indem sie einen Kleidungsstil tragen, der Selbstvertrauen durch normative weibliche Schönheit verspricht, sehen sich diese Frauen als individuell jenseits der Notwendigkeit von Feminismus als kollektiver Politik und Kampf.

Im folgenden Gespräch diskutieren und reflektieren Grace Adeniyi-Ogunyankin und Simidele Dosekun über Dosekuns Buch. Das Gespräch fand im Rahmen einer größeren Podiumsdiskussion auf der Konferenz der Lagos Studies Association 2021 statt.

GAO: Ich fand Fashioning Postfeminism spannend, weil es sich von der vorherrschenden Wissenschaft über einkommensschwache afrikanische Frauen entfernt, die angeblich „ermächtigt werden müssen“. Wir lesen nur selten über ultraprivilegierte afrikanische Frauen, die bereits „ermächtigt“ sind, insbesondere durch den Konsum und die damit verbundenen „Freiheiten und Wahlmöglichkeiten“. Ich bin jedoch fasziniert von der impliziten Andeutung in dem Buch, dass „Postfeminismus nur für reiche nigerianische Frauen ist“. Ich frage mich, was mit den nicht wohlhabenden Frauen in Nigerias neuer Wirtschaft ist, die ebenfalls von der transnationalen Kultur beeinflusst werden und Praktiken des spektakulären Weiblichen ausüben, und was mit den Frauen ist, die wir als „fast ermächtigt“ bezeichnen könnten, die das Anspruchsvolle verkörpern und sich ihr zukünftiges Selbst als „voll ermächtigt“ vorstellen. Welche Rolle könnten sie spielen?

SD: Als ich vor zehn Jahren mit dem Projekt begann, herrschte in der Literatur die unhinterfragte Annahme vor, dass postfeministische Vorstellungen, wonach Frauen „alles haben können“ und keinen Feminismus mehr brauchen, so gut wie ausschließlich an privilegierte weiße Frauen im globalen Norden gerichtet sind. Mein Gegenargument in dem Buch ist, dass der Postfeminismus Grenzen verschiedener Art überschreitet, aber ich wollte nicht zu der Behauptung verfallen, dass die Kultur für alle oder alle Frauen überall zugänglich ist. Ich denke, dass sie letztlich ziemlich elitär ist. Das soll nicht heißen, dass in einem Land wie Nigeria nur wohlhabende Frauen postfeministische Medien konsumieren oder sich mit der Art von spektakulärer Mode und Schönheitspraxis beschäftigen, um die es in meinem Buch geht. Aber ich denke, dass ein Selbstverständnis als „bereits ermächtigt“, als glücklich unbelastet von Machtverhältnissen, ein gewisses Maß an materiellem Privileg voraussetzt oder zumindest behauptet. Bei meinem Argument über die Klasse geht es darum, wer den Postfeminismus in der Gegenwart für sich beanspruchen kann; ich stimme Ihnen sehr zu, dass es auch Fragen über eine erstrebenswerte Zukunft gibt, die berücksichtigt werden müssen.

GAO: Während der Lektüre habe ich mich auch über die queeren und transsexuellen Elitefrauen aus Lagos gewundert, die nicht Teil Ihrer Forschungsdemografie zu sein scheinen. Ist es möglich, dass einige von ihnen postfeministische Subjekte sind? Welche Technologien der weiblichen Schönheit setzen sie ein und was versprechen diese Technologien für sie? Wie navigieren sie zwischen transnationaler Kultur und der Verhandlung lokaler Macht und Kultur in Nigeria?

Africa is a Country

Dieser Artikel erschien im Original auf englisch bei Africa is a Country unter dem Titel „Postfeminism is only for wealthy Nigerian women“.

SD: Auf jeden Fall. Ich denke, dass queere und trans-Frauen den Postfeminismus auch „praktizieren“ können und dies auch tun, sowohl im Hinblick auf die in diesem Buch in Frage gestellten Technologien weiblicher Schönheit als auch auf die damit einhergehenden Behauptungen und Mentalitäten über weibliche Ermächtigung, die ich von den cis-Frauen, die ich interviewt habe, gehört habe. In der Tat gibt es auch cisgeschlechtliche Männer, sowohl queere als auch nicht queere, die sich der Schönheitstechnologien bedienen – in Nigeria ist zum Beispiel die Medienpersönlichkeit Denrele Edun zu nennen. Was solche Schönheitstechnologien und -praktiken für die verschiedenen Arten von geschlechtlichen Subjekten, die sie anwenden, versprechen und bedeuten, kann ich mir nicht anmaßen zu beantworten, da ich nicht glaube, dass wir Subjektivität am Stil ablesen können. Um eine Antwort zu finden, müssten wir die betreffenden Akteure befragen.

SD: Auf jeden Fall. Ich denke, dass queere und trans-Frauen den Postfeminismus auch „praktizieren“ können und dies auch tun, sowohl im Hinblick auf die in diesem Buch in Frage gestellten Technologien weiblicher Schönheit als auch auf die damit einhergehenden Behauptungen und Mentalitäten über weibliche Ermächtigung, die ich von den cis-Frauen, die ich interviewt habe, gehört habe. In der Tat gibt es auch cisgeschlechtliche Männer, sowohl queere als auch nicht queere, die sich der Schönheitstechnologien bedienen – in Nigeria ist zum Beispiel die Medienpersönlichkeit Denrele Edun zu nennen. Was solche Schönheitstechnologien und -praktiken für die verschiedenen Arten von geschlechtlichen Subjekten, die sie anwenden, versprechen und bedeuten, kann ich mir nicht anmaßen zu beantworten, da ich nicht glaube, dass wir Subjektivität am Stil ablesen können. Um eine Antwort zu finden, müssten wir die betreffenden Akteure befragen.

GAO: Die Frauen in dem Buch brachten deutlich ihren Wunsch zum Ausdruck, nicht als „runs girls“ [nigerianischer Slang für Frauen, die sich auf transnationale sexuelle/romantische Beziehungen einlassen] missverstanden zu werden. Sie haben sich auch für sexuellen Anstand und Seriosität eingesetzt, wenn es darum ging, sich von Transaktionssex zu distanzieren. Ich bin neugierig auf die Möglichkeit, diese Umarmung von sexuellem Anstand und Respektabilität auch als „grausame Anhaftung“ zu betrachten.

SD: Um ehrlich zu sein, war ich etwas überrascht über den relativen sexuellen Konservatismus, den die Teilnehmerinnen zum Ausdruck brachten. Ich vermute, dass ein Grund dafür darin lag, dass ich Fragen zu Sex und Sexualität nicht immer auf direkte Art und Weise angesprochen habe, so dass ich höchstwahrscheinlich eine gewisse Unbeholfenheit in Bezug auf diese Themen hervorgerufen habe. Es ist nützlich, das Streben der Frauen nach „sexueller Respektabilität“ als „grausame Anhaftung“ zu betrachten, als etwas, das viel verspricht, uns aber letztendlich schadet, also danke für den Vorschlag. Ich denke, Frauen auf der ganzen Welt wissen, dass „Respektabilität“ uns letztendlich nicht vor möglichem Missbrauch und Gewalt aller Art schützt, und dass die Grenze zwischen dem vermeintlich Respektablen und dem Respektlosen unglaublich fein und launisch ist.

GAO: Mein Lieblingsthema war Ihre aufschlussreiche und nuancierte Analyse von Flechtfrisuren und Perücken als „unglückliche Technologien“ spektakulärer Weiblichkeit, wobei Sie Sara Ahmeds Definition von unglücklichen Objekten als solche verwenden, die „das Fortbestehen von Geschichten verkörpern, die nicht durch Glück weggewünscht werden können“. Sie weisen darauf hin, dass die postfeministischen Ansprüche und Affekte der Frauen beispielsweise die melancholischen und schmerzhaften Geschichten ihrer Frisurenwahl und ihrer Geschichten nicht auflösen oder gar überdecken können.

SD: Ich wollte in diesem Buch wirklich ein Plädoyer dafür halten, Schwarze Frauen mit Flechtwerk und Perücken nicht mehr als „selbsthassend“, „weiß sein wollend“ usw. zu sehen oder zu lesen. Ich finde das viel zu simpel und sogar respektlos; es pathologisiert Schwarze Frauen, und selbst wenn es im Namen des Schwarzen Nationalismus geäußert wird, bestätigt und naturalisiert es auf Umwegen weiterhin die weiße Vorherrschaft. Sara Ahmeds Konzept des „Unglücklichen“ hat mir geholfen, ein Argument dafür zu finden, die weiße Vorherrschaft im Blick zu behalten, ohne sie zur ganzen Geschichte zu machen. Ich gehe der folgenden Frage in dem Buch nicht nach – ich hatte sie für ein Postdoc-Projekt im Sinn, das nie zustande kam -, aber ich würde sagen, dass wir auch über die Tatsache nachdenken und sie konzeptualisieren müssen, dass das so genannte „menschliche Haar“, das Schwarze Frauen tragen und begehren, „indisches Haar“, „vietnamesisches Haar“ und so weiter ist. Was sind die rassistischen und anderen politischen Aspekte dieser Situation? Das ist sehr kompliziert.

GAO: Insgesamt plädieren Sie in einem Buch über Mode für eine Politik des Unmodischen, indem Sie uns auffordern, jenseits des Marktes/Konsumismus nach Befreiung zu suchen. In einer Zeit, in der das globale kapitalistische Patriarchat mit weißer Vorherrschaft unser tägliches Leben durchdringt, bestehen Sie darauf, dass wir „Spielverderber“ sind, das „Glück“ umgehen, uns auf unbequeme Fragen der Gerechtigkeit konzentrieren und die Notwendigkeit der Befreiung von strukturellen Ungleichheiten betonen.

SD: Ja, ich bin misstrauisch gegenüber sexy und modischen und kommerziellen Feminismen! Damit will ich nicht sagen, dass ich den Feminismus oder Feministinnen für sexlos, altbacken, humorlos usw. halte, was natürlich abgedroschene Stereotypen sind. Ich denke nur, dass wir uns entschieden gegen die Vereinnahmung und Aushöhlung feministischer und anderer progressiver Politik durch den Markt wehren müssen – die Reduzierung feministischer Politik auf T-Shirt-Slogans zum Beispiel. Ich glaube auch fest an das Recht auf und den Wert von Wut, solange es Dinge auf der Welt gibt, die uns wütend machen!

Grace Adeniyi-Ogunyankin ist Assistenzprofessorin für Geographie und Planung an der Queens University in Kingston, Ontario in Kanada.

Dr. Simidele Dosekun ist Assistenzprofessor in der Abteilung für Medien und Kommunikation an der London School of Economics.

Blick Bassy

Der kamerunische Musiker Blick Bassy ist in aller Munde. Über sein politisches Engagement und seine metaphysische Musik.

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Geschichtskarten von keinem Ort

Geschichtskarten von keinem Ort
von Dina A. Ramadan

Im Zuge des sogenannten Arabischen Frühlings begann Julie Mehretu ein einjähriges Projekt, eine Serie großformatiger Gemälde mit dem Titel Mogamma (A Painting in Four Parts) (2012). Der Titel bezieht sich auf das imposante modernistische Regierungsgebäude, das oft fälschlicherweise der sowjetisch geprägten Nasser-Ära zugeordnet wird, tatsächlich aber 1949, also vor Nassers Herrschaft, errichtet wurde. Das am Rande des Tahrir-Platzes gelegene Gebäude steht für die übermächtige Bürokratie, die die Ägypter:innen unter ihrem enormen Gewicht erdrückt. In ähnlicher Weise verschlingen Mehretus vier vertikale Leinwände den Betrachter mit ihren verzerrten, sich verändernden Perspektiven; die Architekturzeichnung in der oberen Hälfte jedes Gemäldes steht auf dem Kopf und erzeugt einen Spiegeleffekt mit dem unteren Teil. Diese grundlegende architektonische Schicht enthält Details von ähnlichen Orten des Widerstands und der Revolution. Mehretu betrachtet diese Räume jedoch nicht als Bühnen, sondern als „Container“, die durch die sich überlagernden Geschichten geschaffen werden und deren Erzählungen durch die Ausbrüche von Tintenmarkierungen und Gesten, die über die Leinwand explodieren, unterbrochen werden. Der Tahrir-Platz – ein ungeplanter öffentlicher Raum, „die Ansammlung von übrig gebliebenen Räumen“, umgeben von Gebäuden, die verschiedene Momente der ägyptischen Geschichte festhalten – verkörpert die Art von archäologischer Ausgrabung, die die Künstlerin seit fast drei Jahrzehnten unternimmt.

Mehretus künstlerische Bilanz in der Mitte ihrer Laufbahn ist atemberaubend und immersiv. Nach einem Jahr, das von Enge und der Winzigkeit des Lebens geprägt war, wirkt das Werk monumental, nicht nur in seinem Umfang, sondern auch in der Weite und Tragweite seiner Vision und der Welt, die sie sich vorstellt. Ihre vielschichtigen Gemälde und Papierarbeiten befassen sich mit Fragen der Macht, der Überwachung, der Migration, des Krieges, der Vertreibung, des Klimawandels und der Globalisierung, wobei sie sowohl Möglichkeiten als auch Schmerz, Hoffnung und zerbrochene Träume festhalten. Indem sie auf ein breites Spektrum von Referenzen zurückgreift, lässt Mehretu geografische und historische Grenzen in Werken verschwinden, die sich gleichzeitig dringlich und aktuell, aber auch uralt und episch anfühlen. Im Laufe ihrer Karriere, in der sie sich der abstrakten Malerei verschrieben hat, hat Mehretu Annahmen über die anhaltende Relevanz und politische Bedeutung dieses Ansatzes in Frage gestellt. Als äthiopisch-amerikanische Frau widersetzt sie sich den Erwartungen, dass Künstler:innen of Colour gegenständliche Werke schaffen sollten, indem sie die Unterscheidung zwischen Figuration und Abstraktion überflüssig macht. (Die „Abwesenheit“ der Figuration in der „traditionellen“ nicht-westlichen Kunst wurde oft als Rechtfertigung für die Ablehnung dieser Praktiken herangezogen).

Nach ihrem Abschluss an der Rhode Island School of Design Mitte der 1990er Jahre begann Mehretu, ein kompliziertes und komplexes Lexikon zu entwickeln, das ein breit gefächertes Vokabular an Einflüssen enthält. In frühen Arbeiten wie Time Analysis of Character Behavior (1997) und Conflict Location Index (1997) führt die Künstlerin akribische Studien – fast wissenschaftliche Sezierungen – ihres experimentellen Systems von Gesten, Markierungen und Symbolen durch. Mithilfe von Diagrammen und Tabellen zeichnet sie die Bewegung und das Verhalten dieser Figuren auf, von denen jede unabhängig ist und ihren eigenen Weg in einem sorgfältig choreografierten Tanz geht.

In den frühen 2000er Jahren änderte sich Mehretus Arbeitsweise, als ihre Anliegen globaler wurden. Ihr Interesse an der Kartografie weitete sich aus und sie bezog Karten, Blaupausen und architektonische Pläne in die vielschichtige Landschaft ein, in der sich ihre früheren Figuren bewegen. Transcending: The New International (2003) verschmilzt Karten von Addis Abeba mit denen anderer afrikanischer Hauptstädte. Durch die Verwendung von Luftbildern einheimischer, modernistischer und internationalistischer Architekturstile spielt die Künstlerin mit der Perspektive, um diese Systeme zu verschmelzen und historische Bahnen zu durchbrechen. Die 1970 in der äthiopischen Hauptstadt geborene Mehretu hat oft über den Einfluss ihrer frühen Kindheit während des Moments panafrikanischer Möglichkeiten gesprochen, der dem Bürgerkrieg (1974-1990) vorausging. Transcending thematisiert die gescheiterten Versprechen afrikanischer dekolonialer Projekte und die anschließende Vereinnahmung dieser Träume, während sie gleichzeitig die Hoffnung anerkennt, die sie einst boten.

Africa is a Country

Dieser Artikel erschien im Original auf englisch unter dem Titel „Story maps of no location“ bei Africa is a Country.

In dieser Zeit wurden Bewegung und Migration zu zentralen Fragen für Mehretu. Retopistics: A Renegade Excavation (2001) erforscht die Mobilität in einer zunehmend globalisierten und transitorischen Welt; Nachzeichnungen von Flughafengrundrissen, U-Bahnsteigen und Bahnhöfen, verschiedene Räume des Transits und der Vorläufigkeit verschmelzen mit Teilen antiker Ruinen. Helle, kühne geometrische Formen schießen mit zentrifugaler Geschwindigkeit über die riesige Leinwand. Sie überlagern schwächere Kartierungen, schattenhafte Maquetten, die sich in ihren verwaschenen Blautönen langsamer zu bewegen scheinen. Aufgrund der enormen Größe des Gemäldes wird auch der Betrachter auf seinem Weg durch das Werk in diese vorübergehenden Prozesse einbezogen. Wenn man sich jedoch der Leinwand nähert, zerfällt das Gemälde, als ob seine Einheit nur aus der Ferne aufrechterhalten werden kann, wenn die Vielzahl der Schichten nicht vollständig zu sehen ist. Aus der Nähe ist die Retopistik voll von Details: Symbole, Markierungen, Funken, zarte ätherische Zeichnungen, die eine mythische Qualität verleihen. Diese Beziehung zwischen Maßstab und Detail ist vielleicht der bemerkenswerteste Aspekt von Mehretus hypnotisierenden Kartografien, ihren „Story Maps of No Location“. Ihre weitläufigen Landschaften entfalten sich ständig vor uns, offenbaren divergierende und desorientierte Perspektiven, schwindelerregende Details, die aufeinanderprallen und sich in alternative Geografien aufspalten.

Im Laufe ihrer Karriere sind Mehretus Leinwände immer dichter und undurchsichtiger geworden. In den seit 2016 entstandenen Arbeiten hat sie die Klarheit identifizierbarer architektonischer Zuordnungen aufgegeben und sie stattdessen als Erscheinungen integriert. In Epigraph, Damascus (2018), einem sechsteiligen Druck, kombiniert sie eine verschwommene Fotografie der zerstörten Hauptstadt mit architektonischen Zeichnungen der Gebäude der Stadt und einer Schicht aus grauen Markierungen und Gesten. Die dunkle, rauchige Farbpalette verfolgt das Werk und verleiht ihm eine gespenstische Qualität. Durch die Einbeziehung unscharfer Bilder – die aus Medienquellen stammen und dann mit Photoshop bearbeitet und beschnitten wurden – gräbt Mehretu das aus, was sie als „die DNA der Fotografie“ bezeichnet, um zu sehen, was nach all diesen Manipulationen noch durchscheint. In ähnlicher Weise verwischt die Künstlerin in Conjured Parts (Eye), Ferguson (2016), das von der Komposition antiker Gedenktafeln inspiriert ist, eine Schwarz-Weiß-Fotografie der Polizei, die gewaltsam gegen Demonstranten vorgeht, und malt sie in das Werk hinein. Als Teil einer Serie, in der jedes Werk mit einem Körperteil und einer Stadt betitelt ist, durchdringt die viszerale und körperliche Natur der Gewalt und die Missachtung Schwarzer und brauner Körper das Werk. Dieses Gefühl der Beunruhigung wird jedoch durch ein Spiel mit Licht und Schatten erzeugt, denn solche Schrecken können weder dargestellt noch lesbar gemacht werden.

Dina A. Ramadan lehrt am Bard College in Berlin moderne und zeitgenössische Kulturproduktion des Nahen Ostens.

Bild im Header: Julie Mehretu, „Stadia II,“ 2004. Courtesy of the artist.

Blick Bassy

Der kamerunische Musiker Blick Bassy ist in aller Munde. Über sein politisches Engagement und seine metaphysische Musik.

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