Deutscher Verlagspreis für akono
akono gewinnt den Spitzenpreis für unabhängiges Verlegen
„Der vermessene Mensch“ ist der erste deutsche Kinofilm, der sich mit dem Völkermord an den Ovaherero und Nama in der ehemaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika beschäftigt. Nach Jahrzehnten der nicht erfolgten Aufarbeitung werden die Kolonialverbrechen des Deutschen Kaiserreiches nun also der breiten Bevölkerung auf der Leinwand präsentiert. Ganz unbefangen rückt Regisseur Lars Kraume dabei einen weißen Ethnologen in den Mittelpunkt der Erzählung. Kann der Film trotzdem was?
Berlin, Ende des 19. Jahrhunderts: Alexander Hoffmann ist Doktorand im Fach Ethnologie bei Professor Josef Ritter von Waldstätten an der Friedrich-Wilhelms-Universität. Der ehrgeizige junge Mann, der dem Vorbild seines Vaters, einem berühmten Ethnologen, nachstrebt, macht auf der Deutschen Kolonial-Ausstellung Bekanntschaft mit einer Delegation von Herero und Nama aus Deutsch-Südwestafrika, die Kaiser Wilhelm um eine Audienz zum Schutz der lokalen Bevölkerung ersuchen will. Zur Gruppe gehört auch Kezia Kunouje Kambazembi, die als Dolmetscherin tätig ist.
Weil die Delegation die Audienz beim Kaiser nicht gefährden will, lässt sie sich zu einer Schädelvermessung durch die Kraniometrie-Seminargruppe Hoffmanns überreden – natürlich verguckt sich Hoffmann in die scheue junge Dolmetscherin, der die Schädelvermessung zuwider ist, und verbindet in den folgenden Wochen sein ethnologisches Interesse an der Gruppe mit Schwärmereien für die kluge Fremde.
In Gesprächen schnell davon überzeugt, dass auch die Ovaherero und Nama kognitive Fähigkeiten, Philosophie und Weltanschuungen haben, versucht er entgegen dem rassistischen Zeitgeist in einem autoritären Kaiserreich voller Herrenmenschen in seiner Vorlesung die These anzubringen, dass es keinen Unterschied zwischen den Rassen gebe. Da der Film kaum von historischen Fakten abweicht, gelingt ihm dies natürlich nicht.
Einige Jahre später schlägt die sogenannte Schutztruppe in Deutsch-Südwestafrika den Aufstand der Ovaherero und Nama gegen die deutsche Besatzung nieder und es kommt zum Krieg. Hoffmann reist in der Hoffnung, Kunouje wiederzusehen und bahnbrechende ethnologische Forschung zu betreiben, selbst ins südliche Afrika. Beschützt von der kaiserlichen Armee, sammelt er zurückgelassene Kunstgegenstände und Machtinsignien der Ovaherero und Nama und schändet Gräber und Leichen, um Schädel für die Rasseforschung in Deutschland zu gewinnen. Er wird Zeuge der Gräueltaten der deutschen Armee, der Ermordung und Vertreibung zehntausender Menschen und der Internierung von Kriegsgefangenen in Konzentrationslagern.
War die Entscheidung, den weißen Ethnologen Hoffmann, hier gespielt von Leonhard Scheicher, in den Mittelpunkt der Handlung zu stellen und dadurch die Perspektive der Betroffenen nur nebenher laufen zu lassen, geschickt? Es kommt darauf an, was der Film will.
Beim Special Preview des Historiendramas in Leipzig am 20. April, drei Tage vor Kinostart, waren Regisseur, Hauptdarstellerin Girley und der in Deutschland lebende Hereroaktivist Israel Kaunatjike anwesend.
Einmal abgesehen von der unsensiblen und unpräzisen Verdolmetschung und einer etwas holprigen Moderation war das an den Film anschließende Gespräch in vielerlei Hinsicht sehr aufschlussreich, da es dem Team Gelegenheit bot, auf einige der schon vorab angebrachten Kritikpunkte aus Presse und Publikum Stellung zu beziehen.
Lars Kraume ist dafür bekannt, unter anderem durch seine Filme „Der Staat gegen Fritz Bauer“ und „Das fliegende Klassenzimmer“, historische und politische Themen für die Kinoleinwand pragmatisch und realistisch anzugehen.
Lars Kraume sprach davon, sich die Perspektive von Widerstandfiguren wie etwa Nama Anführer Henrik Wittboi nicht „kulturell aneignen“ zu wollen und deswegen einen weißen Kolonialisten in den Vordergrund gestellt zu haben, denn das sei eine Perspektive, die er von Deutschland aus gut erzählen könne. Bei den Überlegungen für das Skript sei dann die Wahl auf einen Ethnologen gefallen, der als Kippfigur sowohl das aufrichtige Interesse und die Bewunderung für die namibischen Völker, als auch den internalisierten Rassismus und den imperialistischen Geist in sich vereine. Um die Verbrechen der deutschen Schutztruppe darzustellen, ohne dabei Gewalt rein zu reproduzieren, sei die Wahl auf die fiktive Figur Hoffmann gefallen, da sie als einzige glaubhaft Zeuge des Genozids werden konnte, ohne daran beteiligt zu sein.
Die Frage, warum nicht trotzdem an manchen Stellen mehr von der Perspektive der Ovaherero eingeflossen sei, beantwortet Kraume mit der Kohärenz und Glaubhaftigkeit des Plots und damit, dass er die Handlung bewusst Jahre vor dem Genozid, nämlich auf der Kolonial-Ausstellung, habe beginnen lassen, um die Persepktiven der Betroffenen darzustellen. Ab dem Beginn des Genozids habe es nur noch Gewalt gegeben; da die Perspektive der Betroffenen einzunehmen, hätte also nur gewaltvolle Bilder reproduziert.
Hauptdarstellerin Girley Jazama tut die Frage nach der fehlenden Ovaherero-Perspektive ab: „It is our own responsibility to tell these stories“. Der Film, der in Wanderkinos in Namibia gezeigt wurde, habe bei den Zuschauer:innen sehr emotionale Reaktionen ausgelöst, da auch in Namibia über die traumatischen kollektiven Erlebnisse viel Schweigen gebreitet wird.
Dabei stimmt gerade an den Rändern der Bilder überhaupt nichts, und wenn man sich die Mühe macht, ab und zu vom Plot ein wenig wegzuschauen auf das, was insgesamt zu sehen ist, ist man sofort wieder in einem Menschenzoo, nur in einem halb aufgeklärten.
Bert Rebhandl, FAZ
Ich finde diese Aussage ziemlich fehl am Platz, denn erstens wird darin die Gewalt, die in tatsächlichen Menschenzoos im 19. und 20. Jahrhunderts verübt wurde, relativiert und verharmlost, zweitens liegt der Aussage ein Misstrauen gegenüber den Möglichkeiten von Darstellung zugrunde, ähnlich wie Adornos „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch.“ Gilt es, jegliche Form der Darstellung zu vermeiden? Kann sie nicht auch emanzipatorischen Charakter haben? Der Genozid an den Ovaherero und Name war auch das Auslöschen einer ganzen Kultur, und laut Aussage Kraumes und Jazamas gibt es nur wenige bildliche Zeugnisse von Kleidungsweisen etwa. Der Film ist der Kostümbildnerin Cynthia Schimming gewidmet, die sich in ihren Arbeiten mit dem kulturellen Erbe Namibias beschäftigte, zum Beispiel in der Modeserie „A United World for Future Generations; Beyond Time, Beyond Oceans“ oder in ihren Kostümdesigns für die Unabhängigkeitsfeier Namibias 2015. Repräsentation matters, und wenn Herr Kraume in seiner Filmproduktion die Ressourcen zur Verfügung hat, Herero-Kostüme gestalten zu lassen, dann ist das mit namibischer Beratung doch auch ein kleines Stück zurückgewonnenes Kulturerbe.
Es sei Herrn Rebhandl zugestanden, dass die eingesetzten filmischen Mittel weder sehr experimentell noch sehr kreativ sind, so ist der Sound nicht besonders, die Kameraführung klassisch, die Bildausschnitte konservativ. Das wäre aber auch nicht Kraumes Stil, und der Film behauptet auch nicht, mehr tun als die Geschichte eines deutschen Ethnologen zu erzählen, der im Dienst der europäischen rassistischen Wissenschaft Schädel sammelte. Die Thematik der zehntausenden menschlichen Gebeine, sogenannte Human Remains, die bis heute in europäischen Museen, Krankenhäusern und Sammlungen lagern zu beleuchten, ist so lange wichtig, bis es Repatriierungen im großen Stil gibt. Bei einem Großteil der Bevölkerung ist das Wissen darüber, und über die grauenhaften Hintergründe, nämlich noch nicht angekommen.
Allein die Tatsache, dass Kraume die Erzählung als (wenn auch einseitige) Liebesgeschichte zwischen Hoffmann und Kunouje anlegen wollte, bevor die Hauptdarstellerin, die auch Filmemacherin ist, ihn davon abbrachte, zeigt doch, dass er nicht mehr und nicht weniger machen wollte, als einen massentauglichen Kinofilm zu produzieren.
Fazit: Der Verdienst des Filmes ist, dass er sich der Thematik des deutschen Genozids an den Ovaherero und Nama annimmt, was 119 Jahre nach dem Vernichtungsbefehl durch Lothar von Trotha in einem Land, das sonst auch viel von historischer Aufarbeitung hält, reichlich spät ist. Der Titel ist brillant, die Hauptdarstellerin ebenso. Die künstlerischen Mittel sind mit Sicherheit nicht erschöpft, aber „Der vermessene Mensch“ ist ein guter Ausgangspunkt einer hoffentlich multiperspektivischeren Aufarbeitung dieses weiteren dunklen Kapitels der deutschen Geschichte.
Es bleibt zu hoffen, dass im Rahmen der deutschen Restitutionszahlungen an Namibia auch viel Geld für künstlerische Produktionen ausgeschüttet werden wird, denn die strukturellen Ungleichheiten behindern natürlich leider noch die (ästhetische) Multiperspektivität, und gerade das Kino ist ein unglaublich kapitalintensives Medium, das im globalen Norden wesentlich besser ausgestattet ist mit Ressourcen.
Die Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW) zeichnet den Film mit dem Prädikat „besonders wertvoll“ aus. „Die Jury war der Ansicht, dass es Lars Kraume trotz der Schilderung aus weißer Perspektive […] gelungen ist, dem unfassbaren Grauen insbesondere des kolonialen Vernichtungskrieges gegen die Hereros und Nama in Bildern Ausdruck zu verleihen.“ Dem kann man schon zustimmen.
Historischer Hintergrund:
Zwischen 1904 und 1908 verübte die sogenannte Schutztruppe des Deutschen Kaiserreiches in der ehemaligen Kolonie “Deutsch-Südwestafrika”, dem heutige Namibia, einen Genozid an den OvaHerero und Nama, dem schätzungsweise 50.000 bis 70.000 Menschen zum Opfer fielen. Dieser auf Befehl des deutschen Generals Lotha von Trotha ausgeführte Vernichtungskrieg ist gemessen an den Kriterien der UN-Völkermordkonvention von 1948 als Genozid einzuordnen.
Die Nachfahren der Opfer des Genozids forden seit Jahrzehnten eine Anerkennung und Aufarbeitung dieser Verbechen. Seit 1990 sucht auch die namibische Regierung einen entsprechenden Dialog. Dabei geht es auch um die Forderung nach symbolischer und materieller Entschädigung (“restorative justice”).
Während der Kolonialzeit wurden Kulturgüter, zum Beispiel Gegenstände des täglichen Gebrauchs, Kunstgegenstände oder religiöse Gegenstände, sowie Körperteile von verstorbenen Menschen oft unter Anwendung von Gewalt geraubt und nach Europa verschickt. Dort wurden sie hauptsächlich zur Beschreibung der kolonial unterdrückten Gesellschaften genutzt, da die Europäer*innen deren kulturellen Traditionen durch die Kolonisierung gefährdet wussten. Geraubte menschliche Überreste wurden objektiviert und vor allem für die sogenannte ‘Rassenforschung’ genutzt, die eine vermeintlich biologische Überlegenheit von Europäer*innen belegen sollte.
Restitution und Restituierung beschreiben Rückgabeprozesse. Schon lange fordern Herkunftsgesellschaften geraubte Gegenstände und Gebeine zurück, vor allem in der jüngeren Vergangenheit wurden zunehmend Rückgabeforderungen gestellt. Da ehemalige Kolonialmächte und Institutionen im Besitz von sogenannten kolonialen Sammlungsgütern bis vor wenigen Jahren kaum Bereitschaft zur Restitution zeigten, wurden Herkunftsgesellschaften im Restitutionsprozess vor erhebliche Schwierigkeiten gestellt. Fehlende internationale rechtliche Vorgaben und Streitigkeiten über die rechtmäßigen juristischen und moralischen Besitzansprüche, sowie mangelnde Kenntnisse zur Provenienz (Identifizierung, Herkunft, Weg des ‘Erwerbs’) von Kulturgütern sind hierbei einige Beispiele.
Weitere Infos zur Deutschen Kolonialgeschichte gibt es zum Beispiel bei Leipzig Postkolonial.
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